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Am Grab des Obergefreiten Frank Banholzer

Bertolt Brechts Sohn starb als Wehrmachtssoldat an der Ostfront

Sebesh ist eine Kleinstadt im äußersten Westen Russlands, nahe den Grenzen zu Lettland und Weißrussland gelegen. Sanfte Hügel, schier unendliche Wälder und eine Vielzahl an Seen prägen die Landschaft. Drei Jahre lang, von Sommer 1941 bis Sommer 1944 war das Gebiet von den deutschen Truppen besetzt.

Östlich des Ortes sind deutsche Tote aus dieser Zeit begraben. Der Friedhof entstand jedoch erst vor etwas mehr als einem Jahrzehnt. Seitdem überführen die Mitarbeiter des Volksbundes die Gebeine der Soldaten hierher, die sie in der Region geborgen haben. 35 000 sind es bis heute.

900 000 geborgene Kriegstote im Osten

Anfang September, wenn sich die Einweihung des Friedhofes zum zehnten Mal jährt, werden in einer deutsch-russischen Gedenkstunde weitere Soldaten in Sebesh bestattet werden. Und in den folgenden Jahren ebenfalls. Sebesh ist einer der zahlreichen Sammelfriedhöfe, die der Volksbund seit 1990 an den Kriegsfronten im Osten angelegt hat.

"Wir finden jährlich noch immer Tausende Gefallene des Zweiten Weltkrieges in Ost- und Südosteuropa. Unsere Suche ist noch lange nicht abgeschlossen. Während der Gedenkstunde in Sebesh werden wir den 900 000. Kriegstoten bestatten, den wir seit 1992 im Osten geborgen haben. 2021 sind es dann wohl mehr als eine Million", sagt Daniela Schily, Generalsekretärin des Volksbundes.

Namentafeln

Im Juli haben Arbeiter der Firma "Trust-40" aus St. Petersburg zusätzliche Namenstelen auf der Kriegsgräberstätte in Sebesh aufgestellt. Es sind zentnerschwere Granitsteine, fast so groß wie eine Zimmertür. Auf beiden Seiten sind in alphabetischer Ordnung die Namen, Geburts- und Sterbedaten von über 110 Toten zu lesen.

Das Gravieren der Tafeln hat eine computergesteuerte Maschine in der Werkhalle der Baufirma erledigt. Die Datei mit den Namen aber wurde in Kassel zusammengestellt, wo die Zentrale des Volksbundes ansässig ist. Hier werden die Unterlagen zu den Exhumierten ausgewertet, damit noch möglichst viele identifiziert und ihre Familien benachrichtigt werden können.

"Wir arbeiten dafür, dass die Toten ihre Namen zurückerhalten. Das ist eine Frage der Menschenwürde. Den Hinterbliebenen schaffen wir damit einen Ort der Trauer und des Gedenkens, den nachfolgenden Generationen ein Mahnmal gegen Krieg und Gewalt sowie einen Ort des Lernens aus der Vergangenheit", sagt Schily.

80 mal 50 Zentimeter

22 Stelen mit insgesamt 5 019 Namen waren es in diesem Sommer. Sie stehen jetzt neben den Blöcken 8 und 13. Damit sind die Grasflächen gemeint, wo die genannten Toten ruhen - und auch jene, die nicht identifiziert werden konnten. Jedes Grab misst 80 mal 50 Zentimeter. So klein sind die Särge, in die am Ende die Gebeine eines Menschen passen.

Einige granitene Kreuzgruppen sind über die Blöcke verteilt und deuten an, dass der Platz Teil eines Friedhofes ist. Einzelne Gräber sind nicht zu erkennen. Wer jedoch den Block, die Reihe und Nummer des Grabes weiß, kann die Stelle durch Abmessen oder Abschreiten finden.

Der Anonymität entreißen

Viele Angehörige legen Blumen an der gesuchten Stelle nieder, hinterlassen einen Kranz, eine Kerze oder ein gerahmtes Foto. Für kurze Zeit entreißen sie ihren Toten der Anonymität der Masse.

23 500 Namen sind in Sebesh zu lesen, 35 000 Gräber. Die Zahlen erdrücken. Zwischen die Namentafeln und die Leser schiebt sich die Zeit. Die Toten entgleiten uns. Wir wissen zu wenig über diese Menschen.

Doch in einem Einzelfall können wir uns der Biografie eines Gefallenen annähern. Es ist Frank Banholzer (1919-1943), begraben in Block 8, Reihe 30, Grab 2365, Sohn des Schriftstellers Bertolt Brecht, eines der bedeutendsten Autoren des 20. Jahrhunderts. Dessen Jugendliebe zu Paula Banholzer und ihr gemeinsamer Sohn Frank sind Themen, mit denen sich etliche Literaturwissenschaftler befasst haben.



Dabei mutet es wie ein heimtückischer Winkelzug des Schicksals an, dass der Sohn des Nazigegners Brecht, dessen Bücher 1933 auf den Scheiterhaufen der Nationalsozialisten brannten, der auf Goebbels' schwarzer Liste der verbotenen Autoren stand, dem die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt wurde und der ins Exil flüchten musste, dass ausgerechnet dessen Sohn im Dienst seiner Feinde an der Ostfront ums Leben kam.

Jugendliebe in Augsburg

Ende 1917 begann die Liebesbeziehung zwischen dem 19-jährigen Brecht und der 16-jährigen Augsburger Schülerin Paula Banholzer. Rund ein Jahr später erwartete Paula ein Kind. Der angehende Schriftsteller, der bekanntlich ebenfalls aus Augsburg kam, hatte sein Studium in München unterbrechen müssen, weil er im letzten Kriegsjahr zum Krankendienst in einem Lazarett seiner Heimatstadt einberufen worden war.

Das Paar wollte heiraten. Doch Paulas Vater, ein angesehener Arzt, war mit diesem Schwiegersohn, der dem Augsburger Arbeiter- und Soldatenrat angehörte und sich gern als Bürgerschreck inszenierte, nicht einverstanden.

Mehr noch: Als Paulas Schwangerschaft sichtbar wurde, schickte er seine Tochter aufs Land, um das Ansehen der Familie zu wahren. Frank Banholzer wurde am 30. Juli 1919 in Kimratshofen bei Kempten geboren.

Das erste Jahr blieb seine Mutter bei ihm. Dann folgte sie Brecht nach München. Die Liebe kühlte aber rasch ab. Brecht heiratete 1922 die Sängerin Marianne Zoff, zog jedoch schon kurz danach mit Helene Weigel, seiner späteren zweiten Ehefrau nach Berlin. Paula heiratete 1924 den Augsburger Kaufmann Hermann Groß. Der war allerdings nicht bereit, Paulas uneheliches Kind aufzunehmen.

Beziehungsgeflecht

Frank Banholzer wuchs in eine sehr unruhige Kindheit hinein, die durch häufige Wechsel an Aufenthaltsorten und Bezugspersonen geprägt war. Lückenlos nachzeichnen lässt sich dieses Beziehungsgeflecht kaum noch. Um ihn kümmerten sich Pflegeeltern in Kimratshofen, Marianne Zoff (München), deren Eltern (Wien), Brechts verwitweter Vater (Augsburg), Helene Weigels Eltern (Wien), ihre Schwester (Wien) und weitere Pflegeltern in Friedberg bei Augsburg.

Brecht und Paula hatten große Mühe, die Betreuung ihres Kindes zu organisieren. Nirgends war Frank auf Dauer zu Hause. Er war oft krank. Seinen Vater dürfte er kaum gesehen haben. Der aber schickte Briefe, bescheidene Geschenke zu Festtagen und hin und wieder Geld. Über Franks Entwicklung war Brecht im Bilde. Paula und sein Vater berichteten ihm.

Auch sind einige Briefe des heranwachsenden Frank an seinen Vater erhalten: "Lieber Papa, liebe Tante Helli", schrieb er 1935 nach Dänemark, wo Brecht und Helene Weigel einige Zeit lebten. "Hörte von dem Unglück, dass Ihr aus Deutschland verbannt wurdet, und hoffe, dass es hier bald anders wird und Ihr zurückkommen könnt."

Die kindliche Naivität des 16-Jährigen, die in diesen Worten zum Ausdruck kommt, ist schmerzhaft. Es tut noch ein zweites Mal weh, wenn man weiß, was der Anlass des Briefes ist. Frank wollte sich für die 50 Mark bedanken, die Brecht ihm für den Kauf eines Anzuges geschickt hatte. Den brauchte er, weil er sich um eine Lehrstelle bewerben wollte. Darin erschöpfte sich offenbar die ganze Unterstützung, die er vom Vater in dieser schwierigen Lage erwarten konnte.

Ende 1936 bedankt er sich für sein Weihnachtsgeschenk, über das er sich sehr gefreut habe: "Aber am meisten hat es mir Freude gemacht, dass ich von Dir einen Brief erhalten habe. Zeigt es mir doch, dass Du auch zuweilen an mich denkst!"

Ausgegrenzt

Klingt das nicht wie ein unterdrückter Hilferuf? Und wenn er anschließend nach dem Befinden von Steffen und Barbara, den beiden Kindern seines Vaters mit Helene Weigel, fragt: Verbirgt sich dahinter nicht der geheime Wunsch, selbst zur Familie zu gehören? Aber Frank hatte offenbar gelernt, sich in die Unzulänglichkeiten seines Lebens hineinzufinden.

Das betraf auch seine Berufsausbildung. Die Schulzeugnisse waren schlecht. Er wäre gern Dentist geworden, aber das war zu teuer. Wahrscheinlich hat er eine kaufmännische Lehrstelle in Friedberg, der Nachbarstadt von Augsburg, gefunden. Dort war er jedenfalls rund zwei Jahre gemeldet.

Nach der Lehre wurde Frank zum Reichsarbeitsdienst eingezogen, im Oktober 1939 zum Wehrdienst. Er gehörte dem Bodenpersonal der Luftwaffe an und war bis 1943 in der Nähe von Paris stationiert.

Um seine tatsächliche Herkunft zu verschleiern, hatte er in seiner Akte als Vater "Bert Banholzer" angegeben, wohnhaft in Friedberg. Auch den Vornamen der Mutter hatte er verfälscht und Berta statt Paula eingetragen.

Seine militärischen Vorgesetzten beurteilten Frank - 1,67 Meter groß, schlank, leichte Brille - als Soldaten ohne Ehrgeiz, ohne sonderliche körperliche und geistige Fähigkeiten. Der Literaturwissenschaftler Erich Unglaub deutet dessen verschlossenes Verhalten als eine Art Tarnung. Das hieße, dass Frank Banholzer ein zeitweise konspiratives Leben führte. Oft genug war er ausgegrenzt worden, nun grenzte er sich selber aus.

Tod im Kino

Anfang September 1943 wird Frank an die Ostfront versetzt. Am 13. November 1943 - also keine drei Monate später - stirbt er bei einem Sprengstoffanschlag auf ein Wehrmachtskino in der russischen Stadt Porchow. Er wird auf dem dortigen "Heldenfriedhof" begraben, 24 Jahre alt.

Brecht, der 1939 Dänemark verlassen hatte und nach Aufenthalten in Stockholm, Helsinki, Moskau und Wladiwostok 1941 in Kalifornien angekommen war, wusste vom Militärdienst seines Sohnes. Von dessen Tod aber erfuhr er wohl erst nach dem Krieg.

Da stand sein Name ein zweites Mal auf einer schwarzen Liste. 1947, als in den USA viele Intellektuelle und Künstler als kommunistische Spione verdächtigt wurden, musste er sich vor dem "Ausschuss für unamerikanische Umtriebe" verantworten. Einen Tag später verließ er das Land.

Die Einreise in die westdeutschen Besatzungszonen wurde ihm wegen der Verdächtigungen in den USA untersagt. Er blieb ein Jahr in der Schweiz, inszenierte Dramen für Bühnen in Chur, Salzburg und Ostberlin. 1949 zog er in die angehende Hauptstadt der DDR und gründete dort mit seiner Frau Helene Weigel das Berliner Ensemble, ihr eigenes Schauspielhaus.

Es heißt, er habe noch daran gedacht, auch Paula nach Ostberlin zu holen, von der Helene Weigel sagte, es sei die einzige Frau gewesen, die er wirklich geliebt habe. Brecht starb 1956, gerade mal 58 Jahre alt. Er hinterließ ein Riesenwerk an Dramen, Gedichten und Geschichten, das längst Klassikerstatus hat. Paula wurde 87 Jahre alt und 1989 in Augsburg zu Grabe getragen.

Die Geschichte ist damit aber noch nicht zu Ende erzählt.

Fußballfeld auf den Gräbern

Porchow, wo Frank Banholzer 1943 in den Trümmern des deutschen Kinos ums Leben kam, liegt etwa 90 Kilometer östlich von Pskow und war damals eine Stadt der Wehrmachtslazarette. Als die Rote Armee 1944 den Ort zurückeroberte, kam es zu erbitterten Gefechten, in deren Verlauf nahezu die ganze Stadt zerstört wurde.

Die Gräber des deutschen "Heldenfriedhofes" wurden eingeebnet, entweder von den abziehenden deutschen Truppen oder danach von der einheimischen Bevölkerung. Später ließ die Kreisverwaltung ein Sportgelände mit Zuschauertribüne über den vergessenen Gräbern anlegen. Jahrzehntelang wurde hier Fußball gespielt.

Es dauerte lange, bis der Volksbund die Erlaubnis erhielt, die Toten zu bergen. Als das Stadion 2008 ohnehin saniert werden sollte, gab es endlich grünes Licht. Mehrere Wochen benötigten die Mitarbeiter des Volksbundes, um die Gräber der etwa 2 000 Toten unter dem Fußballrasen zu öffnen und ihre Gebeine nach Sebesh zu überführen.

Darunter waren auch die sterblichen Überreste von Frank Banholzer. Er war durch seine Erkennungsmarke zweifelsfrei zu identifizieren. 2017 schließlich betonierten die Bauarbeiter auf der Kriegsgräberstätte in Sebesh die Stelen ein, auf denen auch sein Name zu lesen ist.

Fritz Kirchmeier (August 2017)

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Literatur:
Jürgen Hillesheim, Augsburger Brechtlexikon. Personen - Institutionen - Schauplätze, Würzburg 2000
Erich Unglaub, Brechts Landkarten. In: Augias Nr. 63 (2003) S. 19-31.