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Alltag in Wolgograd: gedrückte Stimmung, gewohnte Freundlichkeit

Volksbund-Vertreter gedenken der Toten von Stalingrad eine Woche nach den offiziellen Feierlichkeiten

Wolgograd, das ehemalige Stalingrad: An keinem anderen Ort wird das Heldentum der Sowjetarmee so gepriesen und gefeiert. Also war es nicht erstaunlich, dass der russische Präsident Wladimir Putin am 2. Februar genau dort den Angriff auf die Ukraine als Fortsetzung des „Großen Vaterländischen Krieges” bis 1945 darstellte. Um nicht Teil der verdrehten Darstellung und Propaganda zu werden, reisten Hermann Krause, Leiter des Moskauer Volksbund-Büros, und der Chef des Umbettungsdienstes, Denis Deryabkin, eine Woche später nach Wolgograd.
 

Hermann Krause, der seit mehr als 20 Jahren in Russland lebt, berichtet:
Eine Woche nach den Feierlichkeiten ist in Wolgograd wieder der Alltag eingekehrt. 80 Jahre zuvor, am 2. Februar 1943, war die Schlacht um Stalingrad mit der Kapitulation der deutschen Wehrmacht zu Ende gegangen. Auf beiden Seiten starben mehr als eine Million Menschen – Soldaten und Zivilisten. 200 Tage hatten die schweren Kämpfe gedauert. Die Stadt war ein einziges Trümmerfeld, die 6. deutsche Armee unter General Paulus vernichtend geschlagen. Ob der Kampf um Stalingrad die Wende im Zweiten Weltkrieg bedeutete, ist unter Historikern umstritten. Die psychologische Wirkung aber war eindeutig.
 

Wenig übrig von der Euphorie

Zwar hängen an den Wänden einiger Häuser immer noch die riesigen Plakate der Generäle und Offiziere vom Sieg über Hitler-Deutschland, aber ansonsten ist in Wolgograd alles wie immer. Morgens und abends Rushhour, die Straßen verstopft, Unfälle auf spiegelglatten Straßen, gegen die Kälte vermummte Passanten. Niemand bleibt jetzt gerne draußen.

Von der Euphorie des Jahrestages ist wenig übriggeblieben. Man erinnert sich nur daran, dass das Internet während des Besuchs von Wladimir Putin abgeschaltet , das Zentrum komplett abgesperrt war. Und dass ein eisiger Wind herrschte.
 

Blumen für die Toten beider Seiten

Die eisige Kälte spüren wir, als wir nach Rossoschka, 37 Kilometer vom Zentrum entfernt, aufbrechen. Am Rande des Dorfes, benannt nach dem gleichnamigen Flüsschen, liegen der deutsche und der sowjetische Soldatenfriedhof in unmittelbarer Nachbarschaft. Inmitten einer kargen Steppenlandschaft, nur getrennt durch eine wenig befahrene Straße.

Wie üblich legen wir als kleine Delegation des Volksbundes – auch zwei Mitarbeiter sind noch dazu gekommen – zuerst Blumen am sowjetischen Ehrendenkmal nieder, dann auf dem deutschen Soldatenfriedhof. Weit und breit ist niemand zu sehen, die Geste findet in aller Stille statt. „Neun Grad minus sind es heute”, sagt Deryabkin,  „man stelle sich vor, damals im Winter 1943 waren es fast 40 Grad minus!”

900 Tote im Sommer einbetten

Der eiskalte Wind fegt unbarmherzig auch über die zahlreichen Betonblöcke mit den vielen Namen der gefallenen deutschen Soldaten hinweg. Ebenso über den eigentlichen kreisrunden Friedhof – ein Rondell, in das nun seit fast 25 Jahren die sterblichen Überreste der Gefallenen eingebettet werden. Über 61.700 sind es jetzt, im Sommer werden weitere 900 hinzukommen.

Zurzeit ist die Erde so hart gefroren, dass Beisetzungen unmöglich sind. Die Gebeine, die im vergangenen Jahr gefunden wurden, werden sorgfältig in einer Halle gelagert. Einige wurden von russischen Suchmannschaften exhumiert und übergeben.

Zusammenarbeit wie gewohnt

Die Zusammenarbeit mit den russischen Suchmannschaften läuft auch in diesen politisch schwierigen Zeiten routinemäßig. In seinem kleinen Privatmuseum, das neben dem sowjetischen Friedhof liegt, hat  Andrey Oreschkin gesammelt, was die Erde im Laufe der Jahre freigegeben hat.

Münzen, Munition russischer Maschinenpistolen, Plastikröhrchen. Im Gegensatz zu deutschen Soldaten hatten sowjetische keine metallenen Erkennungsmarken, sondern nur diese Röhrchen – für Zettel mit Namen, Einheit und mehr –, die viele aber sofort wegwarfen. Ein Grund: Aberglaube.
 

Seit Jahren befreundet

Andrey Oreschkin ist der Leiter der russischen Suchbewegung in Wolgograd. Er und die Männer des Volksbundes sind seit Jahren befreundet. Denis Deryabkin: „Übers Jahr erhalten wir überall im Land von russischen Suchmannschaften Gebeine von rund 800 deutschen Soldaten. Ohne großes Aufhebens werden sie übergeben – manchmal sind sogar noch Erkennungsmarken dabei. Dann können wir die Toten identifizieren.“

Auch wenn Putin in seiner Rede am 2. Februar die Lieferung deutscher Panzer an die Ukraine als Bedrohung für  Russland darstellte – die Einstellung der Bevölkerung in Wolgograd gegenüber Reisenden aus der Bundesrepublik hat sich nicht geändert. Niemand schaut uns schief an. Es gibt keinen Hass, keine Abneigung. Das Verhalten gegenüber westlichen Ausländern ist wie immer freundlich und zuvorkommend.
 

Dirndl und Sauerkraut

Zumeist hört man folgende Aussagen: „Wir können doch nichts dafür, das macht die Politik da oben, der Einzelne kann nichts ändern.” Eine Einstellung, die noch aus Zeiten der Sowjetunion stammt. Die da oben entscheiden, das einfache Volk kann nichts machen, lautet die Devise.

„Wo bleiben die deutschen Touristen?”, fragt die Führerin in einem Museum – „wir warten sehnlichst”. Und die In-Kneipe mit dem Namen „Bamberg” ist am Wochenende brechend voll, Nürnberger Würstchen und bayerisches Sauerkraut sind der Hit! Die Kellnerinnen tragen Dirndl. Auch das ist Wolgograd.
 

Freilichtmuseum Sarepta

Am südöstlichen Rande der Stadt liegt das Dorf Sarepta, das größte deutsche Freilichtmuseum Russlands. Katharina II. hatte 1765 deutsche Siedler an den Sarpa, einen Nebenfluss der Wolga, eingeladen. Das Land, das sie bebauten, konnten sie – von allen Steuern befreit – zu ihrem Eigentum erklären.

Die Zarin wusste um die handwerklichen Fähigkeiten der Deutschen, die 1768 eine erste Fabrik errichteten. Sie verarbeiteten Tabak, produzierten Textilien, bauten Wein an, der Handel florierte. Sarepta wurde zur bedeutendsten aller deutschen Kolonien in Russland.

Vom Krieg verschont

Geblieben sind heute noch die wichtigsten Bauten. Die lutherische Kirche –mittlerweile das älteste Gebäude in Wolgograd – mit einem weißen Kirchengestühl unter einer aus Deutschland geschenkten Orgel, ist ein Prachtstück. Hier finden jeden Sonntag Gottesdienste statt – vorwiegend für Russlanddeutsche.

1989, zur Zeit der „Perestroika” unter Michail Gorbatschow, sorgte eine Bürgerinitiative für die Renovierung der Häuser, die von der Luftwaffe nie zerstört worden waren. In diesen südöstlichen Teils Wolgograd war die Wehrmacht nicht vorgedrungen.

Fünfzehn Häuser, vorwiegend um den zentralen Platz gruppiert, geben einen Eindruck davon, wie das Leben damals aussah. Die Deutschen waren Vorbild, auch was die medizinische Versorgung betraf. Die noch existierende alte Apotheke mit ihren Instrumenten und unzähligen Medikamentenkästchen ist ein Beispiel deutscher Präzisionsarbeit.
 

Mäßiges Interesse an Nachrichten

Zurück im Hotel im Stadtzentrum von Wolgograd spüren wir: Die Stimmung ist gedrückt, trotz aller Normalität! Wie fast überall in Russland ist auch in Wolgograd das Thema „militärische Spezialoperation“ präsent – und auch wieder nicht präsent.

In der Lobby des Hotels „Wolgograd“ läuft ununterbrochen der Nachrichtenkanal des Kreml, „Russia 24”, mit seinen zahlreichen Propagandashows. Zwar schauen die vorbeigehenden Gäste kurz auf den Fernseher, aber das Interesse ist nicht besonders groß. Im Jugendtheater gibt es eine Komödie von Alexander Ostrowski. Junge Leute amüsieren sich. Danach geht man in die Pizzeria.

Zahl der Trauerfeiern steigt

Gleichgültigkeit, Desinteresse oder Verdrängung? Wenn man nicht unmittelbar betroffen ist, wird das Thema „Spezialoperation“ weitgehend ausgeblendet. Aber: Die Meldungen über Beerdigungen, über Trauerfeiern, über Opfer häufen sich. Offiziell werden die Gefallenen als Helden geehrt, die ihr Vaterland verteidigten.

Wie viele junge Männer aus Wolgograd und Umgebung in der Ukraine starben? Eine offizielle Zahl gibt es nicht. Im Fernsehen wird gesammelt für die Soldaten an der Front, die Spendenbereitschaft soll groß sein. Wenn man nicht muss, wird über das Thema der Spezialoperation nicht gesprochen.
 

„Dann gehen sie an die Front”

„Wir sind ein verantwortungsvolles Volk”, hat die freundliche Führerin im Museum auch noch gesagt, „wenn der Präsident den Einsatz beschließt, da will sich niemand drücken! Dann gehen unsere Männer an die Front.” Natürlich finden sich auch andere Meinungen. Aber die, die den Krieg verurteilen, scheinen gerade in Wolgograd in der Minderheit zu sein.

Auf dem sowjetischen Soldatenfriedhof in Rossoschka liegen die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges. Damals kämpften Ukrainer und Russen gemeinsam gegen die Faschisten. Bittere Ironie des Schicksals: Heute kämpfen Russen und Ukrainer gegeneinander. Und niemand kann sagen, wann das vorbei sein wird.

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