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„Operation Bagration“: größere Verluste als in Stalingrad

Zur Notausbettung Belarus: #volksbundhistory erinnert an den Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte

Zweimal rollte der Krieg über Belarus hinweg und hinterließ Opfer und Zerstörung in gigantischem Umfang. In Bobruisk haben Umbetter im August damit begonnen, Tote eines ehemaligen Wehrmachtsfriedhofs zu bergen – auf bis zu 1.700 deuten die Unterlagen hin. Das Zeitfenster ist eng, der Einsatz war nicht geplant – darum hat der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. im Juli dafür um Spenden gebeten (siehe unten). Warum dort deutsche Soldaten begraben sind, erklärt der Militärhistoriker Dr. Jens Wehner in einem Überblick über das Kriegsgeschehen auf belarussischem Gebiet.


Die erste Kriegswalze

Am 22. Juni 1941 begann mit dem Angriffsplan „Barbarossa“ der deutsche Überfall auf die Sowjetunion. In drei Heeresgruppen – die Heeresgruppe Mitte war die stärkste – griff die Wehrmacht die Rote Armee an. Die sowjetische Westfront gehörte nicht zu den stärksten Formationen, denn das Oberkommando der Roten Armee hatte südlicher — in der Ukraine — den Hauptstoß der Wehrmacht erwartet. 

Dennoch besaßen die sowjetischen Streitkräfte auch im Mittelabschnitt eine deutliche Überzahl an schweren Waffen wie Panzern und Flugzeugen, wiesen aber auch schwerwiegende Defizite auf. Die völlig unzureichende Ausbildung der Soldaten und mangelnde Einsatzbereitschaft sorgten für geringe Kampfkraft. Dazu kamen veraltete Taktiken und eine Operationsführung, die zu träge und wenig koordiniert reagierte. 
 

Unter dem Hashtag #volksbundhistory berichten wir von historischen Ereignissen und liefern Hintergrundinformationen. Unser Autor heute: Dr. Jens Wehner. Der Historiker arbeitet für das Militärhistorische Museum der Bundeswehr in Dresden.

Der Kessel von Bjalistok-Minsk

Die Wehrmacht hatte durch ihre siegreichen Feldzüge 1939/40 viele Erfahrungen gesammelt und befand sich auf dem Höhepunkt ihrer Kampfkraft. So kann es nicht verwundern, dass die Rote Armee ihre erste große Niederlage in Belarus erlitt.

Zwei deutsche Panzergruppen kesselten große Teile der sowjetischen Westfront ein und vereinten sich bei Minsk Ende Juni 1941. Binnen weniger Tage formte die Wehrmacht den Kessel von Bjalistok-Minsk, in dem Hunderttausende Rotarmisten starben oder in deutsche Kriegsgefangenschaft gerieten. 
 

Verbrechen hinter der Front

An den Gefangenen beging die Wehrmacht ihr größtes Kriegsverbrechen. In Lagern ließ man die sowjetischen Soldaten hungern und entzog ihnen jede Möglichkeit zur Hygiene und Behausung. In der Folge starben die meisten im Winter 1941/42. Dieses Massensterben fand auch auf belarussischem Gebiet statt. 

Auf die Fronttruppen folgten die Einsatzgruppen der SS und weitere deutsche Mordeinheiten. Sie jagten Partisanen, Juden, Kommunisten und alle weiteren Menschengruppen, die nicht in die Vorstellungen der nationalsozialistischen Rassenideologie passten.
 

Erschießungen, Plünderungen

Sehr viele jüdische Menschen ermordete die SS in Massenerschießungen sowie in Lagern wie dem Vernichtungslager Maly Trostinez. Zudem kam es zu zahlreichen Plünderungen und Übergriffen auf die einheimische Bevölkerung durch deutsche Soldaten.

Partisanenkrieg und Wende

Als sich eine größere Partisanenbewegung formierte, reagierten die deutschen Besatzer mit genozidaler Gewalt. Einheiten von SS, Polizei und Wehrmacht jagten die Partisanen zusammen mit so genannten Schutzmannschaften aus Kollaborateuren und verschonten die Zivilisten in den betroffenen Gebieten nicht. In Tausenden Dörfern gab es Zerstörungen und Tote, Hunderte Ortschaften wurden völlig zerstört und nie wiederaufgebaut. 

Noch 1941 rückte die Front weiter nach Osten vor – auf russisches Territorium. Im Winter wurde die Heeresgruppe Mitte vor Moskau gestoppt und zurückgeworfen. Anschließend tobte der Krieg an der mittleren Ostfront bis 1944 überwiegend in Russland bei Städten wie Rshew und Smolensk. Die größten Schlachten spielten sich jedoch im Südabschnitt ab, von denen Stalingrad und Kursk die bekanntesten sind. 

Geschwächte Heeresgruppe Mitte

Bis zum Sommer 1944 konnte die Heeresgruppe Mitte eine gravierende Niederlage vermeiden. Mit geschickter Abwehr und begrenzten Rückzugsbewegungen war sie der Zerschlagung immer wieder entkommen. Aus diesem Grund ragte ihre Front im Juni 1944 weiter nach Osten vor als die der Heeresgruppe Süd. Dieser so genannte „Frontbalkon“ zog sich entlang der belarussischen Ostgrenze. 

Doch 1944 war die Heeresgruppe Mitte nur noch ein Schatten ihrer selbst, war von ihrer Stärke nichts mehr zu spüren. Aufgrund Hitlers Weisung Nr. 51 vom November 1943 gingen Verstärkungen vor allem nach Frankreich zur Abwehr der erwarteten Invasion der Westalliierten.
 

60.000 Pferde, aber keine Panzer

Für die Ostfront blieben immer weniger Soldaten und Waffen. Das betraf die Heeresgruppe Mitte besonders, weil der meiste Nachschub zur Heeresgruppe Süd ging, da sich an diesem Teil der Ostfront die größten Kämpfe abspielten. 

Im Juni 1944 bestand die Heeresgruppe Mitte aus vier Armeen. Von Nord nach Süd gruppierten sich die 3. Panzer-Armee, die 4. Armee, die 9. Armee und die 2. Armee. Allerdings waren diese Armeen sehr schwach. So umfasste die 3. Panzer-Armee längst keine Panzer mehr, dafür aber 60.000 Pferde. 
 

„Operation Bagration“

Das sowjetische Oberkommando entschied sich, Belarus in einer gewaltigen Operation zurückzuerobern. Eine enorme Kräftekonzentration war die Folge: Vier sowjetische Fronten mit bis zu 2,5 Millionen Soldaten standen bereit. Zudem hatte die Rote Armee in drei Kriegsjahren mit Blick auf die Operationsführung erheblich dazu gelernt. 

Der Plan sah vor, die drei deutschen Armeen bei belarussischen Großstädten wie Orscha, Witebsk, Mogiljew und Bobruisk einzukesseln und zu vernichten. Dafür mussten die Panzertruppen schnell und mit Unterstützung starker Fliegerkräfte vorrücken.
 

Ziel: umfassen und vernichten

Sorgfältig wurde eine Abfolge von Teiloperationen geplant, damit die gesamte Operation möglichst effizient und schnell ablaufen konnte. So erfolgten die Angriffe an den Flügeln der Heeresgruppe Mitte derart, dass die am weitesten östlich befindliche deutsche 4. Armee möglichst lange in ihrer Stellung verharrte. Dadurch konnte sie anschließend besser umfasst und vernichtet werden. 

Lage falsch eingeschätzt

Die Wehrmacht und insbesondere Hitler schätzten die Situation falsch ein. Sie erwarteten den Hauptangriff südlicher, bei Kowel. Zudem befahl Hitler, die Großstädte als Festungen zu nutzen, sodass sich die deutschen Verbände nicht zurückziehen konnten. Das kam dem Angriffskonzept der Roten Armee entgegen und machte es leichter, die Deutschen zu umgehen und einzukesseln. 

Auf Veranlassung des georgisch-stämmigen Diktators Josef Stalin benannte die Rote Armee die Operation nach dem georgischen General Pjotr I. Bagration. Er galt als einer der fähigsten Generäle auf russischer Seite im Krieg gegen Napoleon. Auch das Datum wurde zum geschichtspolitischen Symbol: Die „Operation Bagration” begann am 22. Juni 1944, dem dritte Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion. 

9. Armee und der Kampf um Bobruisk

Als die sowjetische Offensive begann, erkannten die deutschen Generäle ihr volles Ausmaß zunächst nicht. Anfangs gab es Situationen, in denen der Roten Armee Angriffe misslangen oder Fehlkoordinationen auftraten, doch insgesamt funktionierte der sowjetische Angriffsplan. Die Wehrmacht brauchte einige Tage, um die Lage überhaupt einigermaßen realistisch einzuschätzen. Hitlers Haltebefehle trugen dazu bei, die Situation zu verschärfen. 

Als endlich energische Gegenmaßnahmen eingeleitet wurden, war es zu spät. Die 3. Panzer-Armee war binnen weniger Tage zerschlagen worden – bei einem Verlust von 28.000 deutschen Soldaten allein bei Witebsk, von denen schätzungsweise 18.000 starben.  Die 9. Armee erlitt bei Bobruisk ein ähnliches Schicksal. Dort war das Chaos der deutschen Führung am 27. Juni am größten. 
 

„Völlig durchgedreht!“

An diesem 27. Juni hatte der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe um 9 Uhr den Rückzug befohlen. Um 9.15 Uhr traf Hitlers Gegenbefehl ein, gefolgt von einem weiteren Befehl zum Rückzug um 16 Uhr. Im Stab der 9. Armee reagierten die Offiziere mit Worten wie „Völlig durchgedreht!“ und „Irrenhaus“. 

Doch es war zu spät, wenngleich es der Wehrmacht gelang, einige Zehntausend deutsche Soldaten aus dem Kessel bei Bobruisk zu befreien. Die Masse der 9. Armee wurde getötet oder ging in Gefangenschaft. Durch den Zusammenbruch der beiden äußeren Armeen befand sich die 4. Armee nun in einem länglichen Kessel, der sich bis nach Minsk erstreckte.

 

Chaotische und panische Szenen

Oft stießen die Verbände der Roten Armee in die zurückflutenden deutschen Truppen. Ganze Kolonnen wurden von sowjetischen Schlachtfliegern und Panzern zerschlagen. Beim Rückzug spielten sich chaotische und panische Szenen ab. Ein Panzergrenadier berichtet, dass ein hoher Generalstabsoffizier sich den zurückweichenden Soldaten mit der Pistole entgegenstellen wollte und von diesen einfach erschossen wurde. 

An der Beresina, einem Nebenfluss des Dnepr, stauten sich die deutschen Truppen, wie sich die napoleonischen im Winter 1812 gestaut hatten. Unter ständigem Feuer der Roten Armee, hohen Verlusten und dem Zurücklassen der schweren Waffen gelang es einigen deutschen Soldaten den Fluss nach Westen zu queren. 

Rettung nur für 2. Armee

Spätestens als die sowjetischen Panzerzangen den Kessel bei Minsk am 3. Juli 1944 schlossen, war das Schicksal der 4. Armee besiegelt. Etwa eine weitere Woche dauerte die Zerschlagung dieser Armee, dann war auch sie vernichtet. 

Lediglich die 2. Armee an der Südflanke der Heeresgruppe hatte sich retten können. Deren Generalstabschef Henning von Tresckow sprach sich – wohl nicht zuletzt unter dem Eindruck der sowjetischen Offensive – mit Nachdruck für das Attentat auf Hitler durch Oberst Schenk Graf von Stauffenberg aus. Tresckow gehörte schon lange davor zum militärischen Widerstand gegen Hitler.

 

Niederlage größer als Stalingrad 

Mit den drei deutschen Armeen verlor die Wehrmacht mindestens 250.000 Soldaten, wahrscheinlich aber viel mehr. Im Kampf getötet, blieben sie auf belarussischer Erde liegen. Überlebende kamen in sowjetische Gefangenenlager. 57.000 von ihnen wurden auf Stalins Befehl am 17. Juli 1944 durch die Straßen Moskaus geführt. Sie sollten der Welt den gewaltigen Sieg der Roten Armee vor Augen führen. 

Im Vergleich zu Stalingrad war die Niederlage deutlich größer. In Stalingrad war eine Armee mit 200.000 Soldaten in etwa zweieinhalb Monaten vernichtet worden. In Belarus 1944 gingen jedoch drei deutsche Armeen in knapp drei Wochen zugrunde bei insgesamt erheblich höheren Verlusten an Menschen. Daher wird sie von einigen Militärhistorikern als eine der schwersten Niederlagen der deutschen Militärgeschichte eingeordnet.

Meilenstein beim alliierten Sieg

Der Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte schuf eine mehrere Hundert Kilometer breite Frontlücke, die von der Wehrmacht nur mit Mühe gefüllt werden konnte. Erst bei Warschau waren die Angriffskräfte der Roten Armee erschöpft. Belarus war der mörderischen Herrschaft Deutschlands entledigt und wieder Teil der Sowjetunion. 

Hitler überlebte zwar das Attentat am 20. Juli 1944, doch das Ende seiner Herrschaft war durch die „Operation Bagration“ und weitere militärische Erfolge der Alliierten absehbar. Die Welt sollte bald von den unfassbaren Verbrechen der Nationalsozialisten erfahren, denn als Folge von „Bagration“ konnte die Rote Armee am 23. Juli 1944 das Vernichtungslager Majdanek bei Lublin befreien.

Allerdings sollten noch Millionen deutscher Soldaten sterben, bevor der Krieg ein knappes Jahr später sein Ende fand. „Bagration“ war zweifellos ein sehr wichtiger Meilenstein auf dem Weg zum alliierten Sieg. Zurück blieben die vielen Toten der Zivilbevölkerung, der Roten Armee und der Wehrmacht in belarussischer Erde 

Text: Dr. Jens Wehner, Historiker am Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden

Spendenaufruf für Bobruisk

Die Genehmigung, 80 Jahre später die Gebeine toter Soldaten auf einem ehemaligen Wehrmachtsfriedhof in Bobruisk bergen zu dürfen, kam unerwartet und mit enger zeitlicher Frist. Um diesen ungeplanten Einsatz finanzieren und rechtzeitig abschließen zu können, hatte der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. im Juli zu Spenden aufgerufen: Notausbettung Osteuropa - Namen für Schtschatkowo. Die Resonanz war so groß, dass der Einsatz am 21. August beginnen konnte.
Stand nach sechs Wochen: Die Umbetter haben 609 Tote geborgen und 200 Erkennungsmarken gefunden. 151 davon sind gut oder teilweise lesbar. Damit werden sich etliche Schicksale klären lassen.

Lesetipps

Boog, Horst, Jürgen Förster, Joachim Hoffmann, Ernst Klink, Rolf-Dieter Müller, Gerd R. Ueberschär: Der Angriff auf die Sowjetunion (= Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 4)., Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1983

Frieser, Karl-Heinz u.a. (Hrsg. im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes) Die Ostfront 1943/44. Der Krieg im Osten und an den Nebenfronten (= Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 8). Deutsche Verlags-Anstalt, München 2007

Gerlach, Christian: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrussland 1941 bis 1944. Hamburger Edition, Hamburg 1999 (Zugl.: Berlin, Techn. Univ., Diss., 1998 u.d.T.: Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941–44).

Glantz, David M., Harold S. Orenstein (Übersetzer und Herausgeber): Belorussia 1944: the Soviet General Staff study. Frank Cass Publishers, 2001

Pohl, Dieter: Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941–1944. Oldenbourg, München 2008 (Zugl.: München, Univ., Habil.-Schr., 2007).

Quinkert, Babette: Propaganda und Terror in Weißrußland 1941-1944: Die deutsche "geistige" Kriegführung gegen Zivilbevölkerung und Partisanen (Krieg in der Geschichte) Gebundene Ausgabe, Paderborn u.a. 2009

#volksbundhistory

Ob der Beginn einer Schlacht, ein Bombenangriff, ein Schiffsuntergang, ein Friedensschluss – mit dem Format #volksbundhistory möchte der Volksbund die Erinnerung an historische Ereignisse anschaulich vermitteln und dabei fachliche Expertise nutzen. Der Bezug zu Kriegsgräberstätten und zur Volksbund-Arbeit spielt dabei eine wichtige Rolle.

Die Beiträge werden sowohl von Historikern aus den eigenen Reihen als auch von Gastautoren stammen. Neben Jahres- und Gedenktagen sollen auch historische Persönlichkeiten und Kriegsbiographien vorgestellt werden. Darüber hinaus können Briefe, Dokumente oder Gegenstände aus dem Archiv ebenfalls Thema sein – jeweils eingebettet in den historischen Kontext.

Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. ist ein Verein, der seine Arbeit überwiegend aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden finanziert.

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