Volksbund Logo Desktop Volksbund Logo Mobil
Grave search Become a member Donate online Donate

„Verdrängte Erinnerung wird zur Last“

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier: Zentrale Gedenkrede zum 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion bei Ausstellungseröffnung

Es ist die Lebensgeschichte eines einzelnen, die Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in den Mittelpunkt seiner Gedenkrede am 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion stellte  als Teil der Erinnerung an diesen "monströsen, verbrecherischen Angriffs- und Vernichtungskrieg". Diese bleibe den Deutschen eine Verpflichtung und der Welt ein Mahnmal. Steinmeier warnte auch davor, Erinnerung zu instrumentalisieren: "Geschichte darf nicht zur Waffe werden!"

Der Ort: das Deutsch-Russische Museum Berlin Karlshorst, wo am 8. Mai 1945 die Kapitulationsurkunde unterzeichnet wurde. Der Anlass: die Eröffnung der Ausstellung "Dimensionen eines Verbrechens. Sowjetische Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg", die erstmals die Gesamtheit dieser vergessenen Opfergruppe in den Blick nimmt. Viel zu lange seien die Verbrechen im Osten nicht anerkannt, sondern verdrängt worden, sagte der Bundespräsident. "Wir sind hier, um an 27 Millionen Tote zu erinnern – an 14 Millionen zivile Opfer."

Es ist die Lebensgeschichte von Boris Antonowitsch Popov, von der ausgehend Steinmeier die Dimensionen des Krieges als "mörderische Barbarei" nachzeichnete. Der 22. Juni 1941 stehe für den Beginn von entfesseltem Hass und Gewalt, von einer Radikalisierung des Krieges bis hin zum Wahn totaler Vernichtung.
 

"Krieg trug die Uniform der Wehrmacht"

Er erinnerte an das Leid in Kriegsgefangenenlagern, sprach vom "Hungerplan" und der belagerten Stadt Leningrad, vom Massenmord an Juden, verwüsteten Landstrichen, zügelloser und brutaler Gewalt gegenüber Zivilisten. Dass Deutsche heute in Belarus, der Ukraine oder Russland gastfreundlich empfangen würden, sei "nicht weniger als ein Wunder".

Und er sprach von den Tätern, von zynischer Sorgfalt der Planung, von den Einsatzgruppen hinter der Front, von Befehlen wie dem "Kommissarbefehl", die Unzählige das Leben kosteten. Der Krieg "trug die Uniform der Wehrmacht", sagte Steinmeier. "An seinen Grausamkeiten hatten auch Soldaten der Wehrmacht Anteil. Lange, zu lange haben wir Deutschen gebraucht, uns diese Tatsache einzugestehen."
 

Spuren der Vergangenheit lesen lernen

Verdrängte Erinnerung werde zu einer immer schwereren Last, sagte der Bundespräsident und wünschte sich, "dass junge Menschen auch die vergessenen Orte im Osten unseres Kontinents aufsuchen". Nur wer die Spuren der Vergangenheit lesen lerne, werde zu einem friedlichen Zusammenleben in Freiheit beitragen können. Versöhnung über den Gräbern bedeute für Deutschland auch Verantwortung: "Wir sollen und müssen alles tun, um Völkerrecht und territoriale Integrität auf diesem Kontinent zu schützen und für den Frieden mit und zwischen den Völkern der Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion zu arbeiten."

Erinnerung dürfe nicht zur Quelle der Entfremdung werden. Wenn sie auf eine einzige, nationale Perspektive verengt und der Austausch über verschiedene Perspektiven zum Erliegen komme oder verweigert werde, werde die Geschichtsschreibung zum Instrument neuer Konflikte, zum Gegenstand neuer Ressentiments. Steinmeier warnte vor nationaler Überheblichkeit, Verachtung, Feindschaft und Entfremdung. "Bei allen politischen Differenzen, bei allem notwendigen Streit über Freiheit und Demokratie und Sicherheit muss Platz sein für Erinnerung", sagte er.
 

Würdigung aller alliierten Kriegsgegner

Ins Zentrum der Erinnerung rückte er den "ungeheuren Beitrag" der Frauen und Männer, die in der Roten Armee gegen das nationalsozialistische Deutschland gekämpft hatten. Der Bundespräsident würdigte Mut und Entschlossenheit derer, die mit den amerikanischen, britischen und französischen Alliierten und vielen anderen ihr Leben eingesetzt und verloren haben. "Ich verneige mich in Trauer vor den ukrainischen, belarussischen und russischen Opfern – vor allen Opfern auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion". Nicht nur an dieser Stelle nannte Steinmeier die sowjetischen Staaten, die als erste überfallen worden waren, zuerst.

Damit reagierte er auch auf Kritik des ukrainischen Botschafters Andrij Melnyk, der seine Teilnahme an der Gedenkveranstaltung vor wenigen Tagen abgesagt hatte. Dass die zentrale Gedenkrede zum Jahrestag im Deutsch-Russischen Museum stattfinde, sei „aus Sicht der Ukrainer ein Affront“, hatte ihn der "Tagesspiegel" zitiert. Auch der Hinweis Steinmeiers auf die internationale Trägerschaft des Museums mit Institutionen in Deutschland, Russland, der Ukraine und Belarus dürfte als Antwort zu werten sein. 

External content

This content from the external provider

YouTube Video

is deactivated for data protection reasons and will only be displayed after your consent.

Vertreter von neun Botschaften

Neun Botschaften waren in Karlshorst vertreten: Moldau, Turkmenistan, Kirgistan, Belarus, Aserbaidschan, Usbekistan und Russland mit ihren Botschaftern in Deutschland, Armenien und Georgien mit Vertretern. Grußworte hatten die Direktoren der Partner-Museen aus Belarus (Vladimir Voropaev) und Russland (Aleksandr Nikonow) geschickt. Das Grußwort aus der Ukraine fehlte.

Museumsleiter Dr. Jörg Morré hatte die Gäste an "erinnerungspolitisch nicht ganz leichtem Ort" begrüßt und die sowjetischen Kriegsgefangenen als "vergessene Opfer" bezeichnet. Er betonte den multinationalen Ansatz der Ausstellung. "Wir hoffen, sie in allen unseren Partnermuseen zeigen zu können."  Unter den Gästen waren auch Volksbund-Präsident Wolfgang Schneiderhan, Wolfgang Wieland (Stellvertreter), Sylvia Groneick aus dem Auswärtigen Amt sowie die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Marie Behring.

Abschließend erläuterte die Kuratorin und Projektleiterin, Dr. Babette Quinkert, das Konzept der Ausstellung, bevor sie sie offiziell für eröffnet erklärte.

Die ganze Veranstaltung ist auch im ZDF-Livestream bei Facebook zu sehen. Die Rede des Bundespräsidenten im Wortlaut finden Sie hier. Ausführlich vorgestellt ist die Ausstellung in einem gesonderten Beitrag
 

Von Sandbostel bis Pankow

Der Besuch in Karlshorst reiht sich ein in weitere Termine des Bundespräsidenten zum 80. Jahrestag. So verlieh er der belarussischen Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. Außerdem wird er am 22. Juni am Sowjetischen Ehrenmal Schönholzer Heide in Berlin-Pankow einen Kranz niederlegen.

Sowjetische Kriegsgefangene hatte Frank-Walter Steinmeier schon zum Auftakt in den Fokus gerückt, als er die Gedenkstätte Lager Sandbostel in Niedersachsen besuchte. Im Kriegsgefangenenlager "Stalag X B Sandbostel" waren mehr als 300.000 Kriegsgefangene interniert, darunter 70.000 Soldaten der Roten Armee.
 

Das Deutsch-Russische Museum

1994 gegründet und 1995 eröffnet, ist das Deutsch-Russischen Museum Karlshorst das einzige Museum in Deutschland, das mit einer Dauerausstellung an den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion erinnert. Träger ist ein gemeinnütziger Verein, dem derzeit 17 institutionelle Mitglieder angehören, allen voran die Bundesrepublik Deutschland und die Russische Föderation, aber auch wissenschaftlich-kulturelle Institutionen in Deutschland, Russland, Weißrussland und der Ukraine. Die Dauerausstellung "Deutschland und die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg" entstand 2013.
 

Pressestimmen

Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ):
Johannes Leithäuser: "Erinnerung bleibt uns Deutschen eine Verpflichtung"
Kommentar von Berhold Kohler: "Ganz besonders gegenüber Russland"