Kaiserliche Truppen 1900 in China: Feldmarschall Alfred Graf von Waldersee mit seinen Soldaten (© Bundesarchiv, Bild 146-1970-068-45, CC-BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons)
„The Germans to the front!“ – der Boxeraufstand 1900 in China
#volksbundhistory erinnert an deutsche Kolonialgeschichte und Kriegsgräber in Asien
Vor 125 Jahren schlugen internationale Interventionstruppen den Boxeraufstand, eine gewalttätige, gegen ausländische Einflüsse gerichtete chinesische Volkserhebung, nieder. Das war zugleich der Höhepunkt deutscher Kolonialgeschichte in Asien.
China, 22. Juni 1900, nordwestlich von Tientsin/Tianjin, nahe dem Peiho-Fluss: Inmitten eines schweren Gefechts sucht der britische Admiral Sir Edward Seymour die Entscheidung. Mit dem Ruf „The Germans to the front!“ befiehlt er den ihm unterstehenden deutschen Marineangehörigen den Angriff. Sie sollen den Durchbruch nach Tientsin erzwingen.

Unter dem Hashtag #volksbundhistory berichten wir von historischen Ereignissen und liefern Hintergrundinformationen. Unser Autor heute: Dr. Christian Lübcke. Der Militärhistoriker ist Geschäftsführer des Landesverbandes Hamburg.
Gemälde prägt Narrativ
Carl Röchling, der bekannte Schlachten- und Historienmaler, hielt diese Szene im Jahr 1902 in einem großen Gemälde fest. Das Gemälde wurde hinterher zehntausendfach reproduziert und gilt bis heute als die bekannteste Abbildung zur deutschen Kolonialgeschichte in Asien. Kaiser Wilhelm II. nahm selbst nach seiner Abdankung noch eine Reproduktion mit in sein niederländisches Exil. Dieses Gemälde ist heute ein gutes Beispiel dafür, wie sehr sich das Narrativ rund um den Boxeraufstand und die deutsche Kolonialgeschichte in Asien verändern kann.
In Wahrheit war die „Seymour-Expedition“ ein absoluter Fehlschlag. Aufgrund dringender Bitten der internationalen Gesandtschaften in Peking um militärischen Schutz vor den fremdenfeindlichen Boxern (Ableitung von Yìhéquán: „Fäuste der Gerechtigkeit und Harmonie“), hatte der britische Admiral am 10. Juni 1900 in Tientsin/Tianjin eine internationale Schutztruppe aufgestellt.
Multinationale Schutztruppe
Aus den zusammengewürfelten Kontingenten von Marinebesatzungen aus acht Nationen stellte Seymour eine etwa 2000 Mann starke Truppe zusammen und nahm mehrere Eisenbahnzüge in Beschlag, um damit die 120 Kilometer nach Peking zurückzulegen. Das zweitstärkste Kontingent mit 450 deutschen Marineangehörigen stand unter dem Kommando von Kapitän zur See Guido von Usedom. Die Stimmung unter den Männern war gut. Man rechnete fest damit, Peking am 11. Juni zu erreichen.
Tatsächlich schafften die Züge nicht einmal die halbe Strecke bis Peking. Die Boxer unterbrachen an vielen Orten die Bahnlinien, was langwierige Reparaturen vor Ort erforderlich machte. Nahe Langfang stoppte der Vormarsch dann völlig; die Züge konnten weder vor- noch zurückfahren.
Chinesische Regierung nicht gefragt
Spätestens hier zeigte sich die Fehleinschätzung der ausländischen Militärs. Sie hatten die chinesische Regierung für ihren Vorstoß nach Peking nicht um Erlaubnis gefragt, waren aber dennoch davon ausgegangen, dass sich das reguläre chinesische Militär in dem anbahnenden Konflikt zumindest neutral verhalten würde.
Zu allem Unglück für Seymour hatten die übrigen alliierten Admiräle aber nicht den glücklichen Ausgang seiner Fahrt nach Peking abgewartet, sondern aus Sorge um ihre eigene Sicherheit am 17. Juni alle nahegelegenen Forts (Taku-Forts) gewaltsam erobert: ein offener Kriegsakt gegen China.
Verlustreicher Rückzug
Vor diesem Hintergrund wenig überraschend wurde Seymours kleine isolierte Truppe am 18. Juni bei Langfang von über 5000 Chinesen (Boxern wie auch regulären chinesischen Militäreinheiten) angegriffen. Tatsächlich behauptete sich vor allem das deutsche Kontingent in diesem Kampf sehr gut, doch letztendlich musste sich Seymours Truppe in einem verlustreichen Rückzug zu Land und auf dem Flussweg ihren Weg zurück nach Süden bahnen.
Von allen Seiten eingeschlossen, wurden die Männer erst am 25. Juni durch russische Truppen befreit. Von den etwa 2000 Seeleuten und Marineinfanteristen Seymours waren zu diesem Zeitpunkt 62 tot und 232 teils schwer verwundet. Aus heutiger Sicht ist es nur schwer erklärbar, warum Carl Röchling von allen Episoden des Boxeraufstandes ausgerechnet die gescheiterte Seymour-Expedition hinterher als „deutschen Triumph“ verewigte.
Gipfel kolonialer Hybris

Hilfe für die in der Tat äußerst bedrohten internationalen Gesandtschaften kam auf anderem Wege nach Peking. Davon ausgehend, dass kein Ausländer in Peking mehr am Leben war, planten die betroffenen Staaten eine gemeinsame Strafexpedition. Aus heutiger Sicht war diese Strafexpedition der Gipfel kolonialer Hybris in China. Keine der damals betroffenen Kolonialmächte suchte (oder fand) die wahren Ursachen für die Eskalation der Gewalt in China.
Dabei waren die Boxerbewegung und ihre brutalen Angriffe auf chinesische Christen, Missionare, oder ausländische Einrichtung ein „hausgemachtes“ Problem. Die Ursachen lassen sich heute nahtlos bis in die Zeit der Opiumkriege und den Beginn ausländischer „Interventionen“ zurückführen. Mit Waffengewalt erzwungene ungleiche Verträge, eine rücksichtlose Missionierungsarbeit, die Zerschlagung ganzer traditioneller Wirtschaftszweige, die koloniale Besetzung weiter Landstriche und die methodische Aushöhlung der vorhandenen staatlichen Gewalt, hatten hunderttausende Chinesen gegen die Fremden aufgebracht.
Hungersnöte führen zu Eskalation
Schwere Hungersnöte waren dann der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die ausländischen Mächte sahen im Angriff auf ihre diplomatischen Vertretungen dagegen einen unverzeihlichen Affront, der nur mit Waffengewalt gesühnt werden konnte.
Das Deutsche Reich nahm bei dem sich abzeichnenden Rachefeldzug eine besondere Rolle ein. Der deutsche Gesandte war in Peking von aufständischen Boxern auf offener Straße ermordet worden – und das gleich zwei Mal. Bereits eine Woche vor seinem Tod am 20. Juni 1900 hatten internationale Zeitungen weltweit von der Ermordung des deutschen Gesandten berichtet.
Ermordung des deutschen Gesandten

Diese Falschmeldung hatte ihre Gründe. Clemens von Ketteler war im Jahr 1900 einer der erfahrensten Diplomaten in China, besaß allerdings ein reizbares Wesen und neigte zu impulsiven Aktionen. Bis zu seiner Heirat mit einer reichen amerikanischen Erbin ständig hoch verschuldet, hatte er lediglich aufgrund der Verbindungen seiner Mutter mehrere Skandale heil überstanden.
Unter anderen Umständen hätte die kaiserliche Regierung ihrem schwierigen Gesandten wohl kaum eine Träne nachgeweint. Seine Ermordung in diesem Konflikt machte Ketteler jedoch zum Märtyrer und rechtfertigte den deutschen Führungsanspruch bei der anstehenden Strafexpedition.
Freiwillige für Militärdienst in China
Im Deutschen Reich wurde ein großes ostasiatisches Expeditionskorps aufgestellt, das einen regen Zulauf hatte. Aus dem ganzen Reich meldeten sich Freiwillige für den Dienst in Übersee. Unter dem Kommando des Feldmarschalls von Waldersee sollte dieser Verband im Verein mit anderen internationalen Kontingenten Peking angreifen, besetzen und vor Ort grausame Rache für die ermordeten Ausländer nehmen.
Am 27. Juli verabschiedete Kaiser Wilhelm in Bremerhaven ausrückende Truppen mit den Worten: „Kommt ihr vor den Feind, so wird er geschlagen. Pardon wird nicht gegeben, Gefangene nicht gemacht. Wer euch in die Hände fällt, sei in eurer Hand. Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel [gemeint ist Attila] sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutschlands in China in einer solchen Weise bekannt werden, daß niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen!“
Ruf deutscher Soldaten
Diese Rede, später als „Hunnenrede“ bezeichnet, wurde trotz Versuchen deutscher Staatsmänner dies zu verhindern, vielerorts abgedruckt und brachte den deutschen Soldaten im Ersten Weltkrieg den unrühmlichen Namen „Hunnen“ ein.
Tatsächlich war bei Eintreffen der deutschen Verbände in China der eigentliche Konflikt bereits beendet. Deutlich schneller hatten andere Staaten räumlich wesentlich näher gelegene Armeekorps aus Japan, Indien, den Philippinen und Russland herbeigeführt. Bereits am 14. August befreiten die Alliierten die seit 55 Tagen belagerten Gesandtschaften in Peking.
Kriegsverbrechen und Plünderungen
Waldersee traf mit seinen Truppen dagegen erst einen Monat später dort ein. Um seinen Führungsanspruch vor Ort durchzusetzen, ordnete er in der Folgezeit zahlreiche Strafexpeditionen gegen tatsächliche und vermeintliche „Widerstandsnester“ der Boxer an. In den folgenden Monaten kamen tausende Chinesen im Zuge dieser Strafexpeditionen ums Leben, umfangreiche Plünderungen beraubten China zahlreicher Kulturschätze.
In weiten Teilen Deutschlands wurden die Ereignisse in China mit Genugtuung und Spannung verfolgt. Nur wenige Staatsmänner protestierten gegen die Gräueltaten, die auch von deutschen Soldaten begangen wurden. August Bebel verlas während einer Reichstagssitzung Briefe von deutschen Soldaten, die offen und teils mit Stolz über eigene Kriegsverbrechen berichteten.
Kriegsgräber als Folge
In den folgenden zwei Jahren wurden die deutschen Truppen in China schrittweise zurückgezogen. Ab dem Sommer 1901 waren es nur noch drei Infanterieregimenter mit insgesamt 3600 Mann vor Ort. Größere deutsche Präsenz vor Ort gab es zudem noch – bis November 1914 – im deutschen Pachtgebiet Kiautschou und – bis in den Zweiten Weltkrieg hinein - in den deutschen Niederlassungen in Shanghai und Tijanin.
Zurück blieben auch viele deutsche Gräber. In den zahlreichen Gefechten in Peking, Tientsin und während der Seymour-Expedition waren mindestens 28 deutsche Marineangehörige umgekommen. Diese Verluste stehen jedoch in keinem Verhältnis zu den späteren Verlusten des Ostasiatischen Expeditionskorps. Das Korps verlor im Rahmen seiner Expedition – die wohlgemerkt erst begann, als Peking bereits von den Alliierten besetzt worden war - weitaus mehr Soldaten, als hinterher bei der Belagerung Tsingtaos durch Briten und Japaner im Jahr 1914 starben.
Krankheiten als häufigste Todesursache
Die damalige Verlustliste erweckt stark den Eindruck einer riesigen Pechsträhne. Oberst Maximilian York von Wartenburg starb im November 1900 an den Folgen einer Kohlenmonoxidvergiftung. Knapp fünf Monate später starb Waldersees Stabschef, Generalmajor Julius Karl von Schwarzhoff, bei einem Brand im Winterpalast in Peking.
Die Verlustlisten berichten von diversen Unfällen mit Munition, zahlreiche Fälle von Ertrinken; acht Soldaten starben „beim Salutschießen“. Die häufigste Todesursache waren jedoch Typhus und Ruhr. Mehr als 200 Soldaten starben allein daran – eine Tatsache, die damals vor der Öffentlichkeit geheim gehalten wurde.
Gräber nicht mehr vorhanden
Mindestens 350 deutsche Soldaten starben in den Jahren 1900 und 1901 in China, weitaus mehr wurden verwundet oder erkrankten schwer. Bestattet wurden die Soldaten auf Kriegsgräberstätten, die heute mehrheitlich nicht mehr existieren. Dies gilt auch für die Grabstätten der deutschen Kriegstoten des Ersten Weltkrieges in China.
Alle alliierten Mächte, das Deutsche Reich vorneweg, legten China im Jahr 1900 hohe Tributzahlungen und Sühneforderungen auf. Unter diesen Umständen ist es mehr als bemerkenswert, wie lange China zögerte, im Ersten Weltkrieg Maßnahmen gegen das Deutsche Reich zu ergreifen oder deutsche Krieger- und Ehrendenkmäler zu demontieren.
Zerstörte Kulturgüter
Spätestens jedoch im Zuge der „Kulturrevolution“ 1966 entlud sich der Zorn weiter Teile der chinesischen Bevölkerung auf die ausländischen Relikte aus der Zeit des Kolonialismus und des Boxeraufstandes. Ausländische Denkmäler und Kriegsgräberstätten wurden konsequent eingeebnet.
Heute zeugen nur noch einzelne Gebäude der deutschen Niederlassung in Tianjin (Stadtteil Hexi) und in Quingdao von der deutschen Kolonialpräsenz. In Peking steht heute noch immer der sogennate „Kettelerbogen“ – nun allerdings umbenannt und örtlich versetzt im zentralen Zhongshan Park.
Internationale Zusammenarbeit
Auch viele Jahrzehnte später galt die internationale Intervention während des Boxeraufstandes als Musterbeispiel internationaler Zusammenarbeit. Ein solches einvernehmliches Zusammenwirken von gleich acht internationalen Großmächten hatte es zuletzt während der napoleonischen Kriege gegeben.
Gerade vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs, der nur 14 Jahre später ausbrach, ist diese Zusammenarbeit sehr bemerkenswert. Heute hat sich die Bewertung des Boxeraufstandes, wie auch der Blick auf die folgende ausländische Intervention in China deutlich verändert. In zahlreichen deutschen Großstädten wird aktuell die eigene Kolonialgeschichte aufgearbeitet und kritisch hinterfragt.
Text: Dr. Christian Lübcke
Kontakt
Lesetipps
Kuß, Susanne und Bernd Martin (Hrsg.): Das Deutsche Reich und der Boxeraufstand, München 2002.
Preston, Diana: Rebellion in Peking. Die Geschichte des Boxeraufstands, Stuttgart 2001.
#volksbundhistory
Ob der Beginn einer Schlacht, ein Bombenangriff, ein Schiffsuntergang, ein Friedensschluss – mit dem Format #volksbundhistory möchte der Volksbund die Erinnerung an historische Ereignisse anschaulich vermitteln und dabei fachliche Expertise nutzen. Der Bezug zu Kriegsgräberstätten und zur Volksbund-Arbeit spielt dabei eine wichtige Rolle.
Die Beiträge werden sowohl von Historikern aus den eigenen Reihen als auch von Gastautoren stammen. Neben Jahres- und Gedenktagen sollen auch historische Persönlichkeiten und Kriegsbiographien vorgestellt werden. Darüber hinaus können Briefe, Dokumente oder Gegenstände aus dem Archiv ebenfalls Thema sein – jeweils eingebettet in den historischen Kontext.
Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge ist ein gemeinnütziger Verein, der seine Arbeit überwiegend aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden finanziert.
