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Erinnerung ist das ewige Leben

Stilles Gedenken an die Toten der Ostsee 1945

Die Ostsee liegt ruhig unter dem blauen Himmel. An diesem sonnigen Spätsommertag kann man sich kaum vorstellen, dass dieses friedliche Meer vor 75 Jahren ein eisiger Friedhof für Zehntausende Menschen wurde.

Im Januar 1945 war die Ostsee Schauplatz von zahllosen Tragödien, Zehntausende Menschen starben in der See und an ihren Ufern. Die Reihe der versenkten Schiffe ist lang, am bekanntesten sind sicher der Untergang der Kap Arcona, die mit rund 7.000 KZ-Häftlingen aus Neuengamme von alliierten Flugzeugen beschossen wurde und sank, die Goya, die Steuben und die Wilhelm Gustloff. Das ehemalige Kreuzfahrtschiff, eigentlich gebaut für 1.500 Passagiere, dann als Lazarettschiff im Einsatz  und auf ihrer letzten Fahrt rettungslos überladen, wurde von einem sowjetischen U-Boot torpediert und sank. Es riss über 9.000 Menschen in den Tod, davon rund 8.000 Flüchtlinge, die Hälfte Kinder. Der Großvater des Schauspielers Herbert Tennigkeit war unter ihnen. Warum wählte er den Seeweg und wollte nicht mit seiner Tochter und den drei kleinen Jungen über Land flüchten? „Das habe ich meine Mutter auch oft gefragt. Warum wählte sie den Seeweg nach Westen? “ erzählt Tennigkeit.

75 Jahre später liest der heute 83-jährige, der mit seiner Mutter und zwei Brüdern 1944 aus Ostpreußen vor der Roten Armee floh, in einer Gedenkveranstaltung des Volksbundes am Timmendorfer Strand. Geplant war die Veranstaltung – wie so viele in diesem Jahr anders: international und generationenübergreifend, gemeinsam mit Angehörigen, Jugendlichen der PEACE LINE Route und den polnischen und russischen Partnern an verschiedenen Orten an und auf der Ostsee.

Nun aber wird in kleinem Rahmen am Timmendorfer Strand mit einer Lesung verschiedener Texte der Tragödien gedacht. Die Auswahl hat Herbert Tennigkeit getroffen. Er liest aus dem Bericht von Heinz Schön, der als Achtzehnjähriger den Untergang der Wilhelm Gustloff erlebte. Schön beschrieb die Massenpanik der verzweifelten Menschen, den Kampf um jede Treppenstufe, um aus dem Schiffsrumpf an das Deck und zu den Rettungsbooten zu gelangen. „Sind das noch Menschen, die so brutal und rücksichtslos nach oben stürmen? ... die Hölle kann nicht schlimmer sein!“ Er sieht Offiziere ihre Familien erschießen, wie verzweifelt die Eingeschlossenen im unteren Promenadendeck an die Glasscheiben trommeln, während das Schiff sinkt, wie Menschen niedergetrampelt werden, wie Kinder in der Ostsee erfrieren und ertrinken. Heinz Schön überlebt die Katastrophe als einer von 1.239 – von ursprünglich 10.582 Passagieren.

Daniela Schily, die die Lesung moderiert, fragt Tennigkeit: „Sie haben Ihren Großvater dort verloren. Kann man das fragen – warum musste das geschehen? Wer hat Schuld? Der sowjetische U-Boot-Kommandant, der das Schiff torpediert hat? Die deutschen Behörden, die viel zu spät die Schiffe bereitstellten?“ Tennigkeit dazu: „Wir wissen, wer den Krieg begonnen hat. Und was man säet, das wird man ernten.“

Das mag häufig stimmen, aber nicht immer. In dem nächsten Stück, das Tennigkeit vorträgt, setzte der Autor Arno Surminiski in „Winter Fünfundvierzig“ anderen unschuldigen Opfern ein literarisches Mahnmal: den Tausenden jüdischer Frauen, die aus Ghettos und KZ auf Todesmärschen nach Palmnicken getrieben wurden. Diejenigen, die den Marsch überlebten, sollten - so die Idee der Nazis - erst im Bernsteinwerk eingemauert werden, doch der Leiter des Werkes weigerte sich und stellte sich vor die Frauen. „Wollen Sie aus meinem Bernsteinwerk ein Schlachthaus machen? (..) Solange die Frauen im Bernsteinwerk sind, darf ihnen nichts geschehen! entschied Friedenstein und fügte nach einer Weile leise hinzu: Ich möchte nicht, dass die Geschichte die Namen Katyn und Palmnicken in einem Atemzug nennt! (…. ).

Doch Friedensteins Menschlichkeit und Mut wurden nicht belohnt, er konnte die Frauen nicht retten. Sie wurden von den deutschen Soldaten mit Maschinengewehrfeuer in die Ostsee getrieben. Eine Gräueltat der letzten Kriegstage, die heute kaum noch bekannt ist.

Tennigkeits eindringlicher Vortrag lässt die Zuhörerinnen und Zuhörer fassungslos zurück. „Sie haben uns mit den Worten der Zeitzeugen die Schicksale der Opfer nahegebracht, so Daniela Schily. Tausende, Zehntausende Menschen, die in den letzten Kriegsmonaten sterben mussten, die ihre Lieben verloren haben, ihr Hab und Gut, ihre Heimat.“

Was bedeutet Heimat? Kann es der Kachelofen sein, der noch immer in seinem einstigen Elternhaus steht, wovon sich Tennigkeit bei einem Besuch in den neunziger Jahren überzeugen konnte? An dem er sich als kleiner Junge nach dem Spielen in der Kälte die Hände gewärmt hat? Oder sind es die Eltern? Ist es ein Gefühl des „Zuhause sein?“? Oder Erinnerungen?

Tennigkeit antwortet, wie es einem Schauspieler gebührt mit einem Satz aus einem Gedicht von Rudolf Naujok: „Was kann man halten auf dieser Erde? Erinnerung ist das ewige Leben.“

 

Herbert Tennigkeit las Auszüge aus:

Heinz Schön: Wilhelm Gustloff. Die größte Schiffskatastrophe der Geschichte. Stuttgart 1998

Arno Surminski: Der Schrecken hat viele Namen. Lesebuchgeschichten

Ders: Die Mutter

Ders. Winter Fünfundvierzig oder Die Frauen von Palmnicken, Hamburg 2010

 

Gedichte

Pablo Neruda: Die Ruinen am baltischen Meer

Walter Scheffler: Samländers Heimweh

 

Hinweis Da die geplanten Gedenkveranstaltungen auf und an der Ostsee Corona-bedingt ausfallen mussten, bringen wir einige der Themen und Beiträge nun digital zu unseren Mitgliedern, Interessierten und all jenen, die eigentlich in diesem Sommer mit Reisegruppen nach Danzig und ins Baltikum fahren wollten: Zwar konnte die Lesung von Herbert Tennigkeit nur vor wenigen Gästen aufgenommen werden. Stattdessen werden wir jedoch Aufnahmen der Lesung mit einem Interview des Schauspielers mit der Generalsekretärin Daniela Schily sowie einem Statement des Präsidenten Wolfgang Schneiderhan im Vorfeld des Volkstrauertags auf unseren Social Media-Kanälen präsentieren.

 

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