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Gleichmaß, Ruhe, ungestörte Ergriffenheit

Was zwei Gegenwartsautoren über Kriegsgräber schreiben

Es geschieht eher selten, dass sich Schriftstellerinnen und Schriftsteller der Gegenwart in ihren Werken mit Kriegsgräbern befassen. Umso bemerkenswerter sind die Funde zu diesem Thema in zwei preisgekrönten Büchern, die 2017 erschienen sind.

Robert Menasse, geboren 1954 in Wien, legte im vergangenen Jahr seinen Roman Die Hauptstadt vor und erhielt dafür den Deutschen Buchpreis, den der Börsenverein des deutschen Buchhandels seit 2005 für den besten deutschsprachigen Roman des Jahres vergibt.

Das Werk bietet eine lustvolle Lektüre, handelt von der europäischen Gemeinschaft, spielt größtenteils in Brüssel und zeichnet ein facettenreiches Bild der EU-Bürokratie. Es hat satirische sowie tragikomische Elemente und kann auch als Krimi gelesen werden. Zugleich ist es ein leidenschaftliches Plädoyer für ein übernationales Europa.

Brüssel Hauptfriedhof

Ein Nebenschauplatz der Handlung ist der Friedhof im Brüsseler Stadtteil Evere. Der Autor nennt den Ort zwar nicht beim Namen, aber seine Beschreibung lässt keine andere Vermutung zu. Dort gibt es neben den kulturhistorisch bedeutsamen Gräbern des Bürgertums aus dem 19. Jahrhundert auch einige Grabfelder mit Soldatengräbern zu besichtigen: belgische, britische und auch ein Karree mit 1.147 deutschen Gefallenen des Ersten Weltkrieges.

Den Gräbern des Großbürgertums kann Menasse nichts abgewinnen. Sie sind ihm lediglich verfallende Denkmäler der Eitelkeit und des Konkurrenzkampfes (kursiver Text = Zitate):

Baufällige, von Schimmel befallene Mausoleen, die von Macht und Reichtum einer Familie monumentales Zeugnis ablegen sollten, nun verfielen und nur noch dies zeigten: Vergänglichkeit.

Als Gegenentwurf dazu beschreibt er die Soldatengräber mit den

korrekt ausgerichteten Reihen immer gleicher Grabsteine, die in ihrer unendlichen Gleichförmigkeit, nach dem lebendigen und geradezu schreienden Chaos des zivilen Teils des Friedhofs, eine dramatische Ruhe und Schönheit vermittelten (…).

Absolute optische Ruhe

An anderer Stelle greift der Autor das Thema ein zweites Mal auf: Im Gegensatz zu all der Unruhe unter den Bürgergräbern war es hier endlich still.

Die absolute optische Ruhe. Er (Kommissar Brunfaut) fand das schön in einem radikal ästhetischen Sinn, als wäre dieser Teil des Friedhofs eine Installation, das Projekt eines Künstlers, der sich mit der Formensprache der Ruhe beschäftigte, befreit von jeglichem Sinn.

An der Gestaltung von Kriegsgräberstätten wird oft deren militärisches Gleichmaß bemängelt. Die Gräber seien so in Reih und Glied angeordnet, wie die dort Begrabenen einst auf dem Kasernenhof angetreten seien. Auch Menasse ist dieser Gedanke nicht fremd:

Wer hier entlangging, schritt die Reihen ab wie ein General eine Armee der Toten, wie ein Präsident die militärische Formation bei einem Staatsempfang im Hades.

Perspektiven und Linien

Aber die Ästhetik des Gleichmaßes fasziniert ihn:

Wenn er (Brunfaut) einen Schritt nach links machte oder einen Schritt nach rechts, dann ergaben sich in diesem Feld mit den streng in gleichen Abständen und in gleichen Reihen aufgestellten Kreuzen immer andere Perspektiven, Linien, Diagonalen, Fluchtlinien, die aber perspektivisch immer in dieselbe Richtung zeigten, in die Ewigkeit.

Das Individuum, das bei den Bürgergräbern im Mittelpunkt der mitunter eitlen Erinnerung steht, spielt in dieser Anordnung keine Rolle:

Zu Ehren der Schicksale war jedes konkrete Schicksal ausgelöscht, dem Gedenken an die Opfer wurde der Gedanke geopfert, dass jedes einzelne Leben einzigartig und unwiederbringlich war. Es gab nur Form, Symmetrie, Harmonie. Eingliederung in ein ästhetisches Bild.

Harmonie, Gleichheit, die Unkenntlichkeit des Einzelnen in einer großen Zahl – das hat möglicherweise etwas Tröstliches, nimmt dem Tod den Schrecken.

Dieser Artikel ist weit davon entfernt, Menasses Roman gerecht zu werden, in dem der Autor so viele Handlungsstränge kunstvoll miteinander verknüpft. Nur einige Zitate sollten herausgepickt werden, die zum Nachdenken oder Streiten anregen mögen.

Französische Identität

Auf der Suche nach dem, was denn eigentlich Französisch sei, hat Jean-Christoph Bailly, geboren 1949 in Paris, jahrelang sein Geburtsland erkundet. Er hat Orte und Landschaften beschrieben, an denen er sich der französischen Identität anzunähern versuchte. 2011 veröffentlichte er das Ergebnis seiner Recherchen unter dem Titel Le Dépaysement. Für das Buch wurde er mit dem französischen Literaturpreis Prix Décembre ausgezeichnet – deutsch in der vielfach gelobten Übersetzung von Andreas Riehle: Fremd gewordenes Land. Eine Reise durch Frankreich, 2017.

Nicht die nationalen Sehenswürdigkeit interessieren den Autor, sondern eher die auf den ersten Blick unscheinbaren Orte, nach sehr subjektiven Kriterien ausgewählt. Seine Texte wechseln zwischen sachlichen Beschreibungen und ausführlichen Schilderungen von Gefühlen, Empfindungen, Reflexionen und Assoziationen, die sich bei seiner Spurensuche einstellen – umfangreiche Abschweifungen in die Vergangenheit, in persönliche Erinnerungen, in die Literatur- und Kunstgeschichte inbegriffen.

Immer wieder ist es die Aura der bereisten Orte, die ihn interessiert und die er in Worte zu fassen versucht. Vieles bleibt notgedrungen nur Ahnung oder vage Annäherung.

In Verdun

Keine Frage, dass er auch in den ehemaligen Kampfgebieten der beiden Weltkriege unterwegs war. In Verdun spricht er von der lastenden Stille über den einstigen Schlachtfeldern, von einem Mantel aus träger, resignierter Schwermut, der sich über Wälder, Felder und Dörfer gebreitet habe, und von Trauerarbeit der Natur, die noch immer von den Granateinschlägen und Schützengräben gezeichnet sei.

Hart geht Bailly mit der Architektur der dortigen Gedenkstätten ins Gericht. Er schließt sich dem Urteil des Berliner Dramatikers Heiner Müller an, der sie 1995 als Kitsch bezeichnete, als Lügen, die die Wahrheit verdeckten – was damals an der Maas als Riesenskandal empfunden wurde.

Bailly aber geht in seiner Kritik noch über Müller hinaus, indem er die martialische Gestaltung des Beinhauses der faschistischen Ästhetik zuordnet.

Defiliermarsch der Namen

Ganz anders seine Empfindungen angesichts der vielen Namen auf den Gedenksteinen in den Dörfern der Umgebung – eine nicht fassbare Schicht von Trübsinn (liegt) in der Luft, die sich jederzeit verdichten kann. Mehr noch auf den Friedhöfen, in der Nähe der Orte, an denen die dort Begrabenen von einem Tag auf den anderen nicht mehr lebten.

Bailly besucht die Hügel von Les Éparges und den deutschen Soldatenfriedhof in Apremont-sur-Aire, einem Dorf in den Ardennen, wo 1 111 Gefallene des Ersten Weltkrieges begraben sind. Wie Robert Menasse hat auch er einen Blick für Perspektiven:

Die in regelmäßigen Abständen aufgestellten Kreuze bilden ebenso viele Wege wie Reihen, und ohne dass seine Ausmaße riesig sind, vermitteln sie ein Gefühl der Unendlichkeit.

Es sind aber die Namen, die ihn vor allem beschäftigen: ein Walzer der Familiennamen aus den deutschen Provinzen und einige Zeilen weiter: nicht endlos, aber in einer Art Defiliermarsch (…) in der Sprache von Goethe, jenem Goethe, der hier vorbeigekommen ist, in der Nähe der Aire, unter den Ahnen dieser gefallenen Krieger.

Bailly phantasiert sich, angeregt vom Klang der Namen, in ausgedachte deutsche Lebensläufe hinein. Aber leider bleibt es nur angedeutet.

Er stößt auf die Stele für einen jüdischen Soldaten, die seine Gedanken zu einem ähnlichen Gedenkstein für einen anderen gefallenen Juden lenken, der auf einem französischen Soldatenfriedhof ruht, nicht weit von hier, in Lachalade, 2 005 Gräber.

Hier wie dort das gleiche Verfahren: Das Kreuz für den deutschen Juden Karl Jakobsberg wurde ebenso durch einen Gedenkstein ersetzt wie das für den französischen Juden Paul David.

Profane Kreuze?

Ohnehin aber hätten die Kreuze auf den Soldatengräbern ihre religiöse Bedeutung so gut wie eingebüßt, schreibt Bailly:

Die vereinheitlichende Wucht der Kreuze auf allen diesen Friedhöfen (beseitigt) fast deren christlichen Ursprung, um die neutrale und schreckliche Bedeutung eines einfachen angekreuzten Kästchens anzunehmen – der Sensenmann hat hierbei seine gotischen Attribute verloren und wurde zum tristen Zöllner, der beim Vorübergehen den Stempel zückt – und jedes Grab ist ein Stempelabdruck.

Tief religiösen Menschen wird dieser Gedanke nicht gefallen: Das Kreuz nur noch als Markierung eines Grabes? Ohne christliche Aussagekraft, bloß noch eine Ortsmarke?

Waldeinsamkeit

Vom deutschen Soldatenfriedhof in Apremont-sur-Aire hat er den Eindruck, dass er kaum noch besucht wird.

Und daher ist er auf dem Wege, langsam aber sicher unabwendbar wieder zu einem Wald zu werden, dessen Moosteppich der Bürge oder der Vorbote ist: Daraus ergibt sich natürlich etwas zutiefst Deutsches im Ausdruck seiner Einsamkeit, und das rührt einen.

Was meint er mit zutiefst deutsch? Bailly führt es nicht aus. Waldeinsamkeit – ein Gestaltungsprinzip der Soldatenfriedhöfe zwischen den beiden Weltkriegen? Ganz abwegig ist die Vermutung nicht. Schließlich wurden damals viele Anlagen als Waldfriedhöfe konzipiert. Heute sind etliche Bäume fast hundert Jahre alt und zu achtbaren Riesen herangewachsen, die moostreibend die Gräber beherrschen.

In der allmählichen Wandlung des Friedhofes äußere sich, so Bailly, eine langsame Rückkehr, die vielleicht etwas über eine Chance aussagt, die den Besiegten zusteht.

Der Autor lässt die Leser auch mit dieser Andeutung allein, was immer er damit sagen will.

Ungestörte Ergriffenheit

Auf der Fahrt von den deutschen zu den französischen Soldatengräbern will Bailly Nachrichten hören. Doch er schaltet das Autoradio sofort wieder ab. Was auf ihn eindrang, passte nicht zu seiner Stimmungslage. Nichts konnte passen.

In diesen Wäldern, diesen seltsamen Lichtungen und vor all diesen auf Gräbern abgelesenen Namen, ist die Einsamkeit die absolute Bedingung für eine unversehrte Ergriffenheit. (…) Aber genau in der Sekunde, in der ich das Radio anstellte, spürte ich, dass sich damit womöglich nicht nur ein Verlust, sondern – auch wenn das Wort etwas übertrieben klingt, ein Verrat vollziehen könnte.

Soweit Jean-Christophe Bailly (Frankreich) und vorab Robert Menasse (Österreich), deren Beobachtungen und Eindrücke fruchtbare kulturphilosophische Denkanstöße sein können. Es bleibt zu wünschen, dass sich mehr zeitgenössische Autorinnen und Autoren auf ähnlich anregende Weise dem Thema Kriegsgräber und Gedenkkultur widmen.

Fritz Kirchmeier

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Literatur:

Robert Menasse, Die Hauptstadt. Roman, Berlin 2017, Seite 85ff, Seite 311ff

Jean-Christoph Bailly, Fremd gewordenes Land. Eine Reise durch Frankreich. Aus dem Französischen von Andreas Riehle, Berlin 2017. – Kapitel 14: All gone to the world of light, Seite 137-152