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"Ihre Arbeit wird wohl nicht einfacher"

Interview mit Freiherr Rüdiger von Fritsch

Interview mit Freiherr Rüdiger von Fritsch, Botschafter von März 2014 bis 30. Juni 2019.

Geführt von H.Krause in der Botschaft am 11.Juni 2019

1. Frage: Lieber Freiherr von Fritsch, Sie haben sich in all den Jahren als Botschafter hier in Moskau für den Volksbund eingesetzt. Warum ist der Ihnen so wichtig?            

Botschafter: Es gab  in meiner Familie schon immer die Tradition, Mitglied des Volksbundes zu sein, denn wir haben, wie viele Familien, durch den Krieg zahlreiche Verluste erlitten. In Warschau und in Moskau ist mir  plastisch vor Augen geführt worden, was im Volksbund  wirklich passiert und welche  große, großartige zivilgesellschaftliche Arbeit geleistet wird. Über Grenzen hinweg hat sich der Volksbund verpflichtet – auch gerade eingedenk unserer eigenen Geschichte -  die Erinnerung wach zu halten, um zum Frieden zu mahnen.

Es gibt ein schönes Verb mit einer doppelten Bedeutung: „etwas aufheben“! D.h. zum einen, etwas sichtbar bewahren. Ich  stelle einen Grabstein auf, ich schreibe einen Namen drauf, und damit benenne ich den Verlust, die Zahl der Opfer  und den Schrecken. Ich bewahre die Erinnerung daran. Das hebe ich auf. Und zum anderen, im übertragenen Sinne, hebe ich die Macht des Schreckens auf, indem ich ihn beim Namen benenne. Denn nur dann,  wenn wir den Schrecken beim Namen nennen, können wir ihm auf Dauer das Belastende nehmen. Es gibt den  wunderbaren Satz eines polnischen Intellektuellen, den nur ein Pole einem Deutschen sagen kann, ich meine Jan Józef Lipski. Er hat einmal gesagt: „ Wir können über alles miteinander sprechen, solange jeder von seiner eigenen Schuld spricht.“ Oder von seinem eigenen Versagen. Wenn wir das tun, heben wir auf. Und das ist das, was in der Arbeit des Volksbundes auch geschieht.

2. Frage:  In der heutigen Zeit bedrohen sich die Weltmächte wieder mit neuen Waffen, der Einsatz von Atomwaffen wird nicht mehr völlig ausgeschlossen. Hat die Menschheit nichts gelernt?

Botschafter: Die sichtbare Erinnerungsarbeit, die der Volksbund leistet, gewinnt heutzutage an Bedeutung, in einer Situation, in der wir uns sorgen müssen um die Erinnerung, um das historische Gedächtnis. Die Erinnerung daran, welche Schrecken eine militärische Auseinandersetzung bedeutet, darf nie verblassen und wir Deutsche sollten uns besonders verpflichtet sehen, das mit sicher zu stellen.

Es gibt ja den Begriff der „Schlafwandler“ hin zum Ersten Weltkrieg. Nämlich, dass alle da hinein geraten sind, ohne es recht zu bemerken oder vielleicht auch zu wollen. Ich glaube nicht, dass Geschichte sich wiederholt. Ich glaube, dass wir heute andere Mittel haben, der Kommunikation, der Diplomatie, der Verständigung und vieles mehr, aber  die Gefahr des Krieges ist  nie gebannt. Deshalb bleibt es so unendlich wichtig, den Schrecken sichtbar zu machen und so zum Frieden zu mahnen.

3. Frage: Sie waren bei der Feier zum 20.jährigen Bestehen des Friedhofs in Apscheronsk bei Krasnodar im Kaukasus mit dabei. Ich habe gesehen, dass Sie emotional sehr bewegt waren. Denn es gibt auch eine persönliche Geschichte, die Sie mit diesem Friedhof verbindet?

Botschafter: Es ist für mich eine doppelte Geschichte, sie hat mit dem Bruder meines Vaters zu tun und mit dem Bruder meiner Mutter. Historie  ist nicht nur Schwarz und Weiß, sie besteht auch aus vielen komplexen Schicksalen. Da gibt es den Lebenslauf des Bruders meines Vaters, der Berufsoffizier war und den Krieg 1939 bis 1945 mitmacht und drei Wochen vor Kriegsende fällt. Karl-Erdmann von Fritsch. Gefallen am 17. April 1945 in Schlackau, in Schlesien. Und als Offizier und handelnder Soldat hat er die ganze Zeit Verantwortung mit getragen. Der andere ist der Bruder meiner Mutter, Paul von Hahn, der mit 18 Jahren Notabitur gemacht hat, weil  man 1942  Soldaten brauchte. Er kommt in eine kurze militärische Ausbildung, drei Monate lang.  Dann drei Monate Kriegseinsatz und mit 18 Jahren fällt er in Mosdok am Kaukaus, als Fahnenjunker. Zwei  völlig verschiedene Geschichten,  aber dennoch typisch.

Auf dem Friedhof in  Apscheronsk  wird Pauls gedacht, was ich sehr schön finde. Auf den vielen Stelen, auf diesen großen Grabsteinen, steht sein Name. Ich finde es wichtig und wertvoll, dass der Volksbund dort diese wunderbare Anlage errichtet hat  - wie auch andernorts. Was mich bei dieser und anderer Gelegenheit auch sehr gefreut hat, war festzustellen, wie gut und verantwortungsvoll und mit welch positiver  Grundhaltung diese Arbeit von den russischen Partnern mitgetragen wird.

Als ich in Apscheronsk war, hatte ich  Pauls Brille dabei – „Dienstbrille“ steht auf dem Metall-Etui. Es war ja üblich, dass die Eltern oder Verwandten eines Gefallenen das zugeschickt bekamen, was der Soldat bei sich trug. In diesem Falle die Brille. Und er  hatte auf beiden Augen mehr als minus sechs Dioptrien,  er konnte also wirklich nur sehr schlecht  sehen.

Diese meine Familiengeschichte  hat  mich  immer ein Stück geleitet. Denn eigentlich ist  die Tätigkeit des Diplomaten, ohne dass dies pathetisch klingen soll, am Ende vor allem eine Arbeit für den  Frieden. Das hat mich immer motiviert. Deswegen bin ich in Apscheronsk  auf dem Soldatenfriedhof und an vielen anderen Gedenkstätten gewesen, deutschen wie russischen – und zuvor polnischen.

4. Frage: In einer Zeit des zunehmenden Patriotismus und leider auch eines sich ausweitenden  Nationalismus in Russland - wo sehen Sie die  Zukunft des Volksbundes in der russischen Föderation?

Botschafter: Ihre Arbeit wird wohl nicht einfacher. Viele russische Gesprächspartner erfüllt es mit Sorge, dass das Gedenken in Russland sich sehr verändert, immer stärker militarisiert wird, dass das Heldenhafte immer stärker in den Vordergrund rückt.

Doch Russland  hat auch Schreckliches erlitten – durch Deutsche – bevor es den  Sieg errungen hat. Und nach dem Kriege haben viele weiter leiden müssen: Versehrte, die aus dem Krieg zurückkehrten, kriegsgefangene Rotarmisten, die dann in Lagern in Sibirien landeten. Ich verstehe, dass es viele  besorgt, dass zumeist nur die eine, die glänzende Seite herausgestellt wird, dass die  andere zu oft ausgeblendet wird. Natürlich: Jedes Land hat das Recht, auf seine Art zu gedenken. Aber ich denke, es bleibt wichtig, dass es dem Volksbund möglich ist, seine Arbeit in Russland fortzusetzen – die auch an Tod, Elend  und an das Leid erinnert. Denn das ist es, was Krieg zuallererst bedeutet - Leid von Soldaten und von Zivilisten.

5. Frage: Bevor Sie nach Moskau kamen, waren Sie  noch Botschafter in Warschau. Wenn  Sie diese beiden wichtigen Stationen ihrer beruflichen Karriere vergleichen,  was waren -  wenn man das in wenigen Sätzen sagen kann -  die wichtigsten politischen Unterschiede?

Boschafter: Ein elementarer Unterschied besteht darin, dass Polen in der eigenen Sichtweise, und die wird ja auch weitgehend geteilt, zweifach Opfer und Verlierer war. Nämlich zu Beginn des Zweiten  Weltkriegs, mit dem deutschen und dem sowjetischen Angriff und der Teilung des Landes, der Besetzung und dem schrecklichen Leid, das folgte.  Im russischen Narrativ folgt 1945 dann eine  Befreiung, was die meisten Polen aber in aller Regel nicht einfach als  solche empfunden haben. Darin liegt eine wirkliche  Tragik: Einerseits was es die Befreiung von deutscher Besetzung, auf der anderen Seite aber auch eine neue Fremd- und Zwangsherrschaft, die auch so erlebt wurde. In  der russischen Erinnerungskultur  gibt es zwar auch den Schrecken des deutschen Angriffs, dann die Vernichtung und das Leid in diesen unendlichen Dimensionen, diesen furchtbaren Zahlen,  dann aber das erfolgreiche Widerstehen. Und dieses Denken und Empfinden  unterscheidet beide Nationen heute sehr stark. Ich  wünschte mir, dass diese beiden Völker  gerade über solche Fragen mehr miteinander reden würden.

6. Frage: Sie haben die Tätigkeit des Volksbundes bereits gewürdigt. Wann sind Sie  mit unserer Arbeit hier in Russland zum ersten Mal  in Berührung gekommen?

Botschafter: Ich habe mich natürlich auf Russland vorbereitet, und auch der Volksbund hat mich in Berlin vor meiner Abreise nach Moskau kontaktiert. Ich wusste ja schon um die Arbeit des Volksbundes aus meiner Zeit in Polen. Was mir dann als erstes konkret begegnete,  war das Projekt in Rschew. Man hat mich gefragt, ob ich anlässlich der Einweihung der Nachbildung der Käthe-Kollwitz-Skulptur sprechen würde. Im Friedenspark von Rschew, wo sowohl deutsche als auch russische Soldaten liegen. Auf getrennten Friedhöfen. Es gab dort Proteste, dass an dieser Feier Deutsche mitwirkten. Mir  schienen  diese Proteste sehr organisiert zu sein, wir haben uns davon nicht beeinflussen lassen. Es waren in meiner  Erinnerung nationalistische Demonstranten und dann passiert etwas ganz Interessantes. Als man versuchte, meine Rede zu unterbrechen und ich erwiderte, dass wir uns nie wieder in den gegenseitigen Hass hineinreden lassen dürften, wurde einhellig und lautstark  applaudiert. Und da wurde klar,  dass wir uns nicht von denjenigen, die uns die gemeinsame Erinnerung an die Schrecken des Krieges nehmen wollen, dass wir uns von diesen Menschen  nicht unser Tun und Handeln bestimmen lassen wollen. Aber das war nur ein Randerlebnis.

In  Wolgograd bin ich immer wieder gewesen, ich habe zum Jahrestag der Schlacht von Stalingrad gesprochen, ich habe  häufig  den gemeinsamen Friedhof in Rossoschka besucht, auch wenn eine Straße den sowjetischen und den deutschen Friedhof trennt. Auch mit den Außenministern unserer beiden Länder war ich dort. Dabei zeigte sich die Grenze des gemeinsamen Gedenkens. Auf dem sowjetischen Teil haben beide Minister einen Kranz niedergelegt, auf dem deutschen Friedhof der russische Außenminister Sergej Lawrow aber nur Blumen. Das war die Grenze des ihm Möglichen, aber die Tatsache, dass der russische Außenminister dahin mitgegangen  ist, war doch eine sehr schöne Geste.  Es zeigt, dass es ein gemeinsames Gedenken geben kann, auch wenn es noch  nicht ein vereintes ist.

7. Frage: Wie sehen Sie die Entwicklung der deutsch-russischen Beziehungen angesichts des fortdauernden Ukraine-Konfliktes und zunehmender Aufrüstung und gegenseitigem Misstrauen?

Botschafter: Wir müssen versuchen, beständig den doppelten Ansatz weiter zu verfolgen, an dem wir in den vergangenen Jahren unter schwierigen Umständen am Ende dann doch erfolgreich festgehalten haben: Zum einen müssen wir das benennen was uns trennt und uns beharrlich bemühen, den vorhandenen Konflikt zu lösen. Wir werden keine gedeihliche Zukunft aufbauen können, wenn wir uns nicht über die Fundamente  unseres Miteinanders  verständigen. Wie zum Beispiel: Man darf nicht Gewalt gegen den Nachbarn anwenden und ihm nicht einfach ein Stück seines Landes wegnehmen. Auf keinen Fall darf man sagen: Schwamm drüber! Vor allen Dingen nicht als Deutscher. Ich sage das am 80.Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts, als Deutsche und Russen sich über die territoriale Neuordnung Ostmittel-Europas verständigt haben, über die Köpfe der Betroffenen hinweg. An ihrer prinzipienfesten Linie hat die Bundesregierung auch über die ganzen Jahre beharrlich festgehalten.

Aber zugleich müssen wir das enorme vorhandene Potenzial unserer Beziehungen nutzen, um beieinander zu bleiben - in allen Bereichen: Wirtschaft und Kultur, Wissenschaft und Jugendaustausch. Wir müssen aus der großen fortdauernden Sympathie in unseren Ländern Nutzen ziehen. Nur ein Beispiel: dass der Feuerwehrmann aus Irkutsk nach Pforzheim aussiedelt und sich dort in der Freiwilligen Feuerwehr engagiert und dann dafür sorgt, dass beide Städte eine Partnerschaft eingehen. Viele helfen mit, viele kleine Steine werden gesetzt, und da ist auch die Arbeit des Volksbundes von großer Bedeutung. Sie ist ein besonders großer Stein in unseren Beziehungen! Das stimmt mich hoffnungsvoll für die Zukunft.

8. Frage: Sie sind öfter mit Michail Gorbatschow zusammen gekommen. Wir haben Sie  ihn erlebt? Welche politische Bedeutung messen Sie ihm bei?

Botschafter:  „Der Prophet gilt nichts im eigenen Lande“ sagt ein deutsches Sprichwort. Das gilt  auf ganz tragische Weise für Gorbatschow. Er  steht bei uns in hohem Ansehen wegen seines historischen Beitrags für die  Deutsche Einheit. In Russland  aber wird er ausschließlich, auch durch eine gezielt gesteuerte Wahrnehmung, als derjenige gesehen,  der für den Zerfall der  Sowjetunion  verantwortlich ist. Allerdings glaube ich, dass auf mittlere und längere Sicht sein Bild in der russischen Geschichte ganz anders gesehen werden wird. Man wird seine große historische Leistung, die er für dieses Land erbracht hat, würdigen. Unter der gerade von mir geschilderten Situation leidet Michail Gorbatschow. Er spricht viel davon, es macht ihm zu schaffen. Zum anderen ist er jemand, der eine große Sympathie für Deutschland hat, wobei man wissen muss, dass auch seine Biografie und die seiner Familie vom Zweiten Weltkrieg geprägt wurde. Er hat großen Respekt für zu seiner Zeit handelnde deutsche Persönlichkeiten. Er nennt dabei auch besonders Helmut Kohl, mit dem er sich ja erst zusammen finden musste – oder Hans-Dietrich  Genscher. Er ist jemand mit einem weiten Blick und ein Mann von bestechendem Charme  und großer Herzensgüte. Er ist persönlich einfach gewinnend! Er ist liebenswürdig und jemand, mit dem ich mich immer wieder und sehr gerne mit großem Gewinn getroffen habe.

9. Frage: Mit welchen Erinnerungen und Gefühlen verlassen Sie Russland?

Botschafter: Mein besonderes Glück ist es gewesen, dass ich mit einer großen Grundsympathie  nach Russland gekommen bin. Ich habe Wurzeln in diesem Land. Meine Mutter war Baltendeutsche, ihre Familie hat lange Zeit im russischen Reich gelebt und genau jener Onkel, über den wir bereits gesprochen haben, kommt aus dieser Familie. Seine Vorfahren haben in russischen Diensten gestanden, sein Großvater, also mein Urgroßvater, war Abgeordneter der Russischen Reichsduma. Ich bin aufgewachsen mit einem positiven Gefühl  für die Menschen und die große Kultur und die Sprache  dieses Landes. Und mit einem großen Respekt für die schwere Geschichte Russlands. Dies hat sich bewahrt und ist eher ausgebaut worden und das nehme ich an Positivem mit. Natürlich würde ich mir wünschen, dass die schweren politischen Felsbrocken, die in der Landschaft liegen, weg geräumt worden wären. Das  ist uns bisher nicht gelungen, höchstens zu verhindern, dass es noch schlimmer gekommen ist. Aber als Historiker, der ich von Ausbildung her bin und als Diplomat, der ich von Beruf bin, bin ich ganz grundsätzlich fest davon überzeugt, dass Probleme sich lösen lassen – auch wenn wir uns heute oft noch nicht vorstellen können, wie das morgen aussehen wird!

10. Frage: Was  werden Sie am meisten vermissen?

Botschafter: Natürlich die wunderbaren Menschen, denen  man begegnet ist. Das ist eine Grunderfahrung meines Berufes: Wenn man bereit und offen ist, wird man überall wunderbare Menschen treffen, ganz gleich wo Sie hingehen in der Welt -  und das war in Russland auch so. Meine Frau und ich haben sehr gerne in diesem Land gelebt, haben viele seiner Teile bereist, waren begeistert und haben sehr gerne in Moskau gelebt. Ich könnte mir vorstellen,  dass als erstes aus dieser Zeit ein Buch entsteht, das allerdings nicht die Schlüssellochperspektive  des Diplomaten haben soll.  Es geht mir darum, die Frage zu stellen: Was ist eigentlich passiert und warum ist es passiert? Wie sollten wir mit der jetzigen Situation umgehen? Wie können wir sie weiter entwickeln und aus der Krise herausfinden?