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Kinderlandverschickung und Flucht von Bochum nach Schlawe und Ratzeburg (1943 – 1945)

Ein Erlebnisbericht (2015)

1936 im Schatten des Förderturms der Zeche Präsident Schacht II auf der Hofsteder Straße 14 geboren, wurde ich am 1. April 1943 eingeschult. Meine Schulzeit begann in der Fahrendeller-Schule, die bereits am 24. April durch Bombentreffer beschädigt wurde und die Verlegung der Schulklassen zur Zeppelinschule in Hamme, Feldsieper Straße 94, zur Folge hatte.

 

Englische und amerikanische Bomberverbände flogen zwischen März und Juli 1943 in der ersten sogenannten Battle of the Ruhr fast täglich Luftangriffe auf das Ruhrgebiet und zwangen die Stadt Bochum, alle Schulen am 18. Mai 1943 zu schließen und die Schulkinder mit ihren Müttern im Zuge der Erweiterten Kinderlandverschickung „umzuquartieren“.

 

Die Idee zu einer Kinderlandverschickung entstand bereits in den Kriegsjahren 1914 bis 1918. Damals galt es, die größten Hungerprobleme gerade für Kinder zu lindern, und im II. Weltkrieg kam durch die Bedrohung der Fliegerangriffe ein noch größeres Problem für die gesamte zivile Bevölkerung hinzu. Waren es zuerst kirchliche Organisationen, die diese Form der Hilfe aufbauten, so folgten ihnen später die Kommunen und danach massiv der Staat. 

Meine Erinnerungen an diese Zeit sind geprägt von Bildern zerstörter Häuser, rauchender Trümmer und unzähligen Luftschutzbunkeraufenthalten. Ihren grausamen Höhepunkt finden diese Bilder in der Erinnerung an einen Fliegerangriff am 26. Juni 1943, als ich mit meiner Mutter [Agnes Klara Hungerige, geb. Galuske] nach der Entwarnung in einer Menschenmenge vor der brennenden Kirche Maria Hilf und dem Klosters der Redemptoristen am damaligen Platz der SA (heute: Imbuschplatz) stand und miterlebte, wie aus dem daneben liegenden katholischen Waisenhaus St. Vinzenz, das von einer Luftmine getroffen worden war, über 70 Tote, darunter 65 Waisenkinder, geborgen wurden. 

 

Diese traumatische Zeit endete für mich am 4. Juli 1943, als ich um 12:30 Uhr vom Bahnhof Nord mit meinen Klassenkameraden, dem Rektor Gustav Arens und unseren Müttern mit dem 14. Transport der Erweiterten Kinderlandverschickung (Mütter mit Kindern) auf die Reise nach Schlawe in Pommern geschickt wurde. Dem Bombenterror in Bochum entkommen, fühlte man sich wie im Paradies. Unterkunft fanden wir zuerst in der Kniephoffstr. 21 (Familie Rusch), dann im Kavelweg 3 (Familie Pieper) und kurz vor der Flucht in der Hindenburgstraße 48.

 

Eine schöne, wenn auch schwache Erinnerung an diese Zeit ist eine Reise mit meiner Mutter vom 28. April bis zum 20. Mai 1944 zu meinem Vater, der schwerverwundet in einem Lazarett in AltHarzdorf (heute: Stara Rola) bei Reichenberg (heute: Liberec) im Sudetengau (heute: Tschechische Republik) lag; wir wohnten bei einer Familie Volkmann in unmittelbarer Nähe des Lazaretts.

 

Tiefere Eindrücke bei mir hinterließ dann das Jahr 1945, als zum Ende des II. Weltkrieges durch die Bedrohung des Vormarsches der russischen Armee unsere Flucht immer näher rückte. Am 6. März war es dann soweit: Mit dem Dröhnen der russischen Panzerkanonen in den Ohren, verließen wir mit dem letzten Eisenbahnzug Schlawe in Richtung Stolp. Jahrelang blieb es mir ein Rätsel, warum wir nach Osten flüchteten und nicht in Richtung Westen. Erst ein Lagebericht des damaligen Gauleiters vom 1. März 1943, der mir erst als Erwachsender bekannt wurde, klärte dieses Phänomen: 

 

Feindliche Panzer vor Köslin:

 

Am 1. März unterbrachen Einheiten dieses Korps (sc. 3. Gde. Pz. Korps) hart ostwärts Köslin die letzte Erdverbindung zur 2. Armee und entschieden damit das Schicksal Hinterpommerns (…)

 

Durch diese Militäroperation der russischen Armee wurde die Stadt Schlawe, entgegen allen Erwartungen, plötzlich von Westen her bedroht. Dazu kam, dass in dem Maße, wie sich der Feinddruck von Süden auf Stolp erhöhte, den Bewohnern der Stadt Schlawe auch die Möglichkeit der Flucht in Richtung Osten genommen wurde. Es blieb nur die schnelle Flucht zur Küste oder in Richtung Danzig/Gotenhafen. Im Morgengrauen des 7. März wurde die Stadt Schlawe von russischen Truppen eingenommen.

 

Zu diesem Zeitpunkt war ich mit meiner Mutter schon Stunden unterwegs, um nach einigen Tagen, umgeben von Verwundeten und Toten durch Tieffliegerbeschuss, über die Stationen Stolp und Lauenburg die Stadt Gotenhafen zu erreichen. Wir wurden in einer Kirche untergebracht, und meine Mutter notierte unter dem 14. März 1945 in ihr Tagebuch: „heute schießt der Russe mit Stalinorgeln, es ist zum Gotterbarmen“.

 

Wenige Tage später gelang es uns, von deutschen Wehrmachtsangehörigen unterstützt, an Bord eines Schiffes zu gelangen. Es handelte sich um die Schwimmende Flakbatterie ARIADNE. Dieses Schiff verließ in einem Konvoi von 70 Einheiten Gotenhafen, um über die Ostsee in den Westen zu gelangen.

 

Nach Umrundung der Halbinsel Hela waren bereits die Hälfte dieser Schiffe auf Minen gelaufen und gesunken. Die ARIADNE erwischte es vor Swinemünde: Russische Torpedoflieger hatten das Schiff entdeckt und zwei ihrer Torpedos fanden ihr Ziel. Nach dem Befehl des Kapitäns „Alle Mann von Bord“, fischten junge Marinehelfer in Sturmbooten die Überlebenden aus der eiskalten Ostsee und brachten sie nach Ückermünde am Stettiner Haff. Nach einigen Tagen wurde dann durch die zuständigen Organe ein Transport zusammengestellt, der per Eisenbahn über Schwerin und Lübeck uns Flüchtlinge nach Dänemark bringen sollte. Bei einem Zwangsstopp in Lübeck (Fliegeralarm) entschloss sich meine Mutter, nach dem Aufenthalt im Luftschutzbunker nicht mehr zum Zug nach Dänemark zurück zu kehren, sondern mit mir zu Fuß zu ihrem Bruder [Paul Franz Galuske], der im 25 Kilometer entfernten Ratzeburg wohnte, zu gehen. Dort endete am 24. März 1945 unsere Flucht. Am 2. Mai besetzten englische und amerikanische Truppen Ratzeburg. Am 8. Mai endete dann mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht der II. Weltkrieg.

 

Am 22. Juni 1945 wurde mein Vater in Eutin/Segeberg aus dem Heer entlassen und in ein Lazarett nach Ratzeburg/Lbg. verlegt; unsere Familie war wieder vereint. Bereits im September 1945 fuhr mein Vater nach Bochum, um vor Ort unseren ersten Antrag auf Rückevakuierung zu stellen, dem Jahr für Jahr weitere folgten, denn die Stadt Bochum lehnte unsere Anträge immer wieder mit der Begründung ab, dass wir in Bochum unter der Rubrik Evakuierte und nicht unter der Rubrik Flüchtlinge geführt würden, und Flüchtlinge hätten bei der Wohnungsvergabe Vorrang.

 

So wurde Ratzeburg i. Lauenburg, Brauerstr. 4, nach Kriegsende für acht Jahre unsere neue Heimat.

 

Erst im Jahre 1953 wurde unserem Antrag entsprochen und uns eine Wohnung in Bochum, Springerplatz 36, zugewiesen. 

 

Anmerkungen:

 

• Die Bezeichnung Kinderlandverschickung (KLV) wurde vor dem Zweiten Weltkrieg ausschließlich für die Erholungsverschickung von Kindern verwendet. Heute wird unter diesem Stichwort meistens an die Erweiterte Kinderlandverschickung gedacht, bei der ab Oktober 1940 Schulkinder sowie Mütter mit Kleinkindern aus den vom Luftkrieg bedrohten deutschen Städten längerfristig in weniger gefährdeten Gebieten untergebracht wurden. Die „Reichsdienststelle KLV“ evakuierte bis Kriegsende insgesamt wahrscheinlich über 2.000.000 Kinder und versorgte dabei vermutlich 850.000 Schüler im Alter zwischen zehn und 14 Jahren, aber auch ältere in KLV-Lagern. (zit. nach Wikipedia, 01/2015)

 

Sławno ['swavnɔ] (deutsch Schlawe) ist eine Stadt in der polnischen Woiwodschaft Westpommern. Sie ist die Kreisstadt des Powiat Sławieński. Die Stadt ist umgeben von einer gleichnamigen Landgemeinde, der Gmina Sławno. Die hinterpommersche Stadt liegt im Nordosten der Woiwodschaft Westpommern, auf halbem Wege zwischen Koszalin (Köslin) (35 km) und Słupsk (Stolp) (27 km) an der Landesstraße 6, zugleich Europastraße 28, am Ufer des Flusses Wieprza (Wipper). (zit. nach Wikipedia, 01/2015)

 

• Der Gerichtsbezirk Reichenberg (tschechisch: soudní okres Liberec) war ein dem Bezirksgericht Reichenberg unterstehender Gerichtsbezirk im Kronland Böhmen. Er umfasste Gebiete im Norden Böhmens im Okres Liberec. Zentrum des Gerichtsbezirks war die Stadt Reichenberg (Liberec). Nach dem Ersten Weltkrieg musste Österreich den gesamten Gerichtsbezirk an die Tschechoslowakei abtreten, seit 1991 ist das Gebiet Teil der Tschechischen Republik. (zit. nach Wikipedia, 01/2015) Der Gerichtssprengel umfasste 1910 37 Gemeinden, darunter Altharzdorf (Starý Harzdorf).

 

Starý Harcov (deutsch Alt Harzdorf) ist ein Ortsteil von Liberec in Tschechien. Er liegt östlich von Liberec in einem Tal zwischen den Ausläufern des Isergebirges und dem Proschwitzer Kamm (Prosečský hřeben). (zit. nach Wikipedia, 01/2015)

 

• Bei der Schwimmenden Flakbatterie ARIADNE handelt es sich um die ehemalige niederld. Hertog Hendrik, ab 1943 schwimmende Flakbatterie. Weitere Schwimmende Flakbatterien waren ab 1942 die ARCONA und die MEDUSA, ab 1943 die UNDINE (ex niederld. Jacob van Heemskerck) und ab 1945 die ADLER (ex dänisch Peder Skram).

 

 Ueckermünde ist eine amtsfreie Hafenstadt im Landkreis Vorpommern-Greifswald im Nordosten von Mecklenburg-Vorpommern. Die Stadt ist eines der 18 Mittelzentren des Landes. Seit dem 1. Mai 2013 ist Ueckermünde offiziell anerkanntes Seebad. (zit. nach Wikipedia, 01/2015)

 

• Die Halbinsel Hel (polnisch: Półwysep Helski, Mierzeja Helska, kaschubisch: Hélskô Sztremlëzna, deutsch Halbinsel Hela oder Putziger Nehrung) ist eine 34 Kilometer lange Landzunge in Polen, die die Danziger Bucht teilweise von der Ostsee trennt. Sie liegt etwa 20 Kilometer nördlich von Danzig. Die zu Kaschubien gehörende Halbinsel ist 200 Meter bis drei Kilometer breit und entstand aus einer Kette von kleinen Inseln, die sich bis zum 18. Jahrhundert hier befanden. Nach und nach schlossen sich durch die Strömung die Lücken zwischen den Inseln mit Dünen. Damit stellt die Halbinsel Hel eine Nehrung dar, wie sie für eine Ausgleichsküste dieses Teils der Ostsee typisch ist. Im Gegensatz zur Frischen und zur Kurischen Nehrung war aber die dahinter liegende Danziger Bucht zu groß, als dass sie wie ein Haff fast vollständig von der Ostsee hätte abgetrennt werden können. (zit. nach Wikipedia, 01/2015)

 Ratzeburg (plattdeutsch: Ratzborg) ist eine Stadt in Schleswig-Holstein, direkt an der Grenze zu Mecklenburg-Vorpommern. Ratzeburg ist die Kreisstadt des Kreises Herzogtum Lauenburg. Sie ist als Luftkurort bekannt und auf Grund ihrer Insellage inmitten des Ratzeburger Sees und ihrer lediglich durch drei Dämme vermittelten Verbindung mit dem Festland auch als „Inselstadt“. (zit. nach Wikipedia, 01/2015)

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