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Lange verdrängt, von den (Ur)enkeln wieder entdeckt

Familienerinnerungen an den Ersten Weltkrieg in Russland und Deutschland

„Unser Sohn kam eines Tages aus der Schule und fragte: „Was ist ein Waffenstillstand und warum haben wir da schulfrei? Zu der Zeit lebten wir in Brüssel und so war diese Frage kein Zufall.“ Mit dieser Anekdote eröffnete der deutsche Botschafter in Moskau Freiherr von Fritsch einen abwechslungsreichen Abend zu so unterschiedlichen Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg in Ost- und Westeuropa. Im Laufe des Abends zeigten sich zugleich manche Gemeinsamkeiten wie das grenzübergreifend gestiegene Interesse an den persönlichen Schicksalen im Krieg.

Anhand der Episode verdeutlichte Botschafter von Fritsch als Gastgeber, wie sich die unterschiedlichen Erfahrungen in Europa im Ersten Weltkrieg noch bis auf die jüngsten Generationen auswirken. So ist es kein Zufall, dass Schulkinder in Westeuropa etwas mit dem 11. November verbinden, während russische oder deutsche Jugendliche mit diesem Gedenktag kaum etwas anfangen können. Denn in Belgien und Frankreich, aber auch in Großbritannien konnte auf einen entbehrungsreichen aber siegreichen „Großen Krieg“ zurückgeblickt werden. Das Gedenken an die hohen Verluste in so gut wie jeder Familie einte diese Nationen und wirkt am jährlichen Feiertag zum Waffenstillstand aber auch im regen Gedenktourismus und in der Populärkultur bis heute nach.

Kriegsniederlage zu ambivalent für öffentliches Erinnern

In Deutschland und Russland hingegen folgten auf die jeweilige Kriegsniederlage Krisen, Revolutionen und, in Russland, mit dem Bürgerkrieg eine noch einmal gewaltvollere Zeit. „In unseren Ländern wurde der Erste Weltkrieg oft durch die so wichtige Erinnerung an Holocaust und Zweiten Weltkrieg überdeckt. Dabei ergibt sich erst aus der Zusammenschau ein tieferes Verständnis für Kontext und Kontinuität dieser zusammenhängenden Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts“ begründete der Präsident des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge Wolfgang Schneiderhan, warum der Volksbund im Gedenkjahr 2018 mit seiner Veranstaltungsreihe „Erinnerungskulturen im Gespräch“ den Blick bewusst auf die so vielfältige wie wirkmächtige Nachgeschichte des Ersten Weltkriegs richtet.

Gerade der Erste Weltkrieg als weltgeschichtliche Zäsur bietet sich für eine vergleichende Zusammenschau der Erinnerungen im Dialog an. Verlief dieses Weltereignis doch vor Ort ganz unterschiedlich und wirkt bis heute in kriegerischen Konflikten in und um Europa fort. Darum lädt der Volksbund noch bis November zusammen mit deutschen wie ausländischen Botschaften zu Historikergesprächen, Seminaren für Schülerinnen und Schüler und Lesungen ein – von Paris über Brüssel bis Moskau und von Tallin über Berlin bis Belgrad.

Im Schatten der noch gewalttätigeren Kriegsfolgen

Im nachrevolutionären Bürgerkrieg standen in Russland „Rote“ gegen „Weiße“ und in Deutschland nationalistische Freikorps gegen republiktreue Veteranen. Der Historiker Jurij Petrow schilderte in seinem Einführungsvortrag, wiederum aus der Enkel-Perspektive, wie spät erst diese Geschichtsphase in Russland öffentlich erinnert werden konnte: Obwohl sein Großvater als Bauer den ganzen Welt- und Bürgerkrieg hindurch kämpfte und dafür geehrt wurde, fand die Familie erst in seinem Nachlass mehr über diese Geschichte heraus. In der Sowjetunion gab es dafür kaum einen Platz, nicht zuhause und erst recht nicht öffentlich. Hier schrumpfte der Erste Weltkrieg nur zu einem Kräftemessen imperialistischer Kräfte und kapitalistischer Interessen zusammen – quasi als Ausgangspunkt für Revolution und Großen Vaterländischen Krieg. Eine umfassende Erinnerung an den Krieg hätte auch diejenigen mit einschließen müssen, die als „Weiße“ im Bürgerkrieg die entstehende Sowjetunion bekämpften. Doch sie waren nun als „Konterrevolutionäre“ verfemt und entweder im Lager, in der Emigration oder tot. 100 Jahre später konnte Jurij Petrow hingegen seinen Großvater in einem aufwändig digital erschlossenen Karteikartenarchiv wiederfinden.

Interesse an Schicksalen seit der Perestroika

Dass diese Datenbank vielfach von Nachgeborenen auf der Suche nach Vorfahren aufgerufen wird, verdeutlicht das neue Interesse an den persönlichen Schicksalen im Krieg – das in West- wie Osteuropa zunimmt, wie unsere bisherigen Diskussionen in Paris und Brüssel, Tallinn, Belgrad und Kiew schon zeigten. So kamen auch in Russland mit der Perestroika rasch die verdrängten Geschichten von unten wieder hoch: Bereits 1993 habe sie auf einem Moskauer Soldatenfriedhof eine Gedenktafel an die Toten des Ersten Weltkriegs gefunden, berichtete Petrows Kollegin Natalia Rostislawlewa. Wurden in der Sowjetunion noch viele dieser Gräberfelder überbaut, mit Wohnsiedlungen aber mitunter auch als Vergnügungspark, sind heute viele Kriegsgräberstätten wieder zugänglich, werden Gedenkkapellen eingeweiht und Besucherinformationen bereitgehalten.

Die Berliner Kuratorin Kristiane Janeke veranschaulichte dies anhand von Museumsexponaten. Denn in beiden Ländern gab es in den vergangenen Jahren mehrere durchaus beachtete Ausstellungsprojekte. Auf der Suche nach Exponaten sei sie 2004 von russischen Kollegen noch oft gefragt worden, wofür sie diese überhaupt brauche? Zehn Jahre später sei es für eine andere Ausstellung schon schwer geworden, überhaupt noch Exponate zu bekommen, weil sie in Russland ausgestellt wurden. Dabei gibt es für künftige Vorhaben noch viel Material: Im Zuge des gestiegenen Interesses wurden viele wertvolle Nachlässe von Bürgerkriegsemigranten neu erschlossen und wichtige Archivfunde gesichert.

Diesseits der Heroisierung – übersehene Schicksale

Allerdings müsse noch stärker an die häufig übersehenen Schicksale von Frauen oder geflüchteten Zivilisten erinnert werden. Für den Historiker Nikita Sokolow wird die russische Geschichte zu oft noch auf Heldentaten in Großen Kriegen reduziert. Es fehle an einer pazifistischen Tradition einer „verlorenen Generation“ wie um Remarque – was durchaus unterschiedlichen Widerhall im Publikum fand.

Dass in Deutschland die geschichtspolitische Lektion so stark auf Zusammenarbeit in einem friedlichen Europa hinausläuft, erklärte Sandra Dahlke demgegenüber auch mit den weltpolitischen Logiken im Kalten Krieg. Die Kanzler Adenauer und Kohl fanden hier eine historische Begründung und bildträchtige Symbolik für die Westintegration, so die Leiterin des Deutschen Historischen Instituts in Moskau.

Eine Ausstellung von Postkarten-Motiven sowie eine durch das „Studio für Neue Musik“ interpretierte Musik-Auswahl aus der Weltkriegszeit rundeten den Abend ab.

Matteo Schürenberg