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Volkstrauertag in Northeim

Ein Beispiel für europäische Erinnerung an Krieg und Gewalt

„Wir denken heute an die Opfer von Gewalt und Krieg, an Kinder, Frauen und Männer aller Völker.“ So beginnt das Totengedenken, das am Volkstrauertag verlesen wird. Der hier formulierte Anspruch, auf nationale Überhöhung und Exklusivität zu verzichten, durchzog wie ein Leitmotiv die Gestaltung des Volkstrauertags in Northeim. Die Veranstalter verstanden es, eindimensional auf das Leid der eigenen Nation bezogenen Gedenktraditionen klug aufzubrechen und der Erinnerung eine deutsch-französische, europäische Perspektive zu geben.

Die Aussagen und Formen der Trauer, die den Zeitgenossen der frühen 1920er Jahre ein elementares Bedürfnis waren, wirken heute wie aus der Zeit gefallen. Sie sind historische Quellen, Zeugnisse einer – zum Glück – überwundenen Zeit. In ihrer nationalen Exklusivität können sie für unsere Gegenwart keine geeigneten Erinnerungsorte mehr sein. Aber diese Orte gibt es überall in unseren Dörfern und Städten. Nun kann es nicht darum gehen, diese Orte abzuräumen, sie zu verleugnen. Alles kommt darauf an, ihre aus der Zeit gefallenen Botschaften zu brechen.

Einen solchen Ort gibt es in der evangelisch-lutherischen Kirche St. Sixti in Northeim. Hier wurde 1923 die Hieronymuskapelle als Gedenkort für die getöteten Northeimer Soldaten eingerichtet. Unter einem Gemälde, das der Kreuztragung Christi von Raffael nachempfunden ist, finden sich die Namen der 272 Northeimer, die im Krieg gefallen waren, unter ihnen auch Katholiken und Juden. Das zur gleichen Zeit angelegte Gedächtnisbuch verzeichnet zu jedem der Getöteten eine kurze biographische Notiz. Im Vorwort hatte der Kirchenvorstand seinerzeit den Sinn dieser Gedenkstätte formuliert: „Das deutsche Volk geht auf seinem Schmerzensweg und seufzt unter schwerer Last. Nicht so stark und heldenhaft wie der Heiland tröstet es das Kreuz. Aber es soll von ihm lernen. Unser Volk ist krank geworden an Leib und Seele in der Not des Krieges und in der vielen furchtbareren Not des Friedens, der kein Friede ist.“

Der Gottesdienst zum Volkstrauertag 2018 wirkte wie eine Gegenveranstaltung zu der nationalen Exklusivität des Gedenkens vor bald 100 Jahren. Pastorin Karin Gerken-Heise legte Jeremia 8,4-7 aus: „So spricht der Herr: Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gern wieder aufstünde? Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurechtkäme?“ Sie verband das Prophetenwort mit der Stelle aus Ernst Tollers Autobiographie „Eine Jugend in Deutschland“, wo Toller in Anbetracht der Toten an der Front seinen Bewusstseinswandel beschreibt: „Plötzlich erfasse ich die einfache Wahrheit Mensch, die ich vergessen hatte, die vergraben und verschüttet lag, die Gemeinsamkeit, das Eine und Einende. Ein toter Mensch. Nicht: ein toter Franzose. Nicht: ein toter Deutscher. Ein toter Mensch.“ Dieser Gedanke leitete den Gottesdienst.

Im Anschluss zog die Gemeinde in die Hieronymuskapelle. Dort wurden die Namen der 228 im Ersten Weltkrieg getöteten Franzosen aus Northeims Partnerstadt Tourlaville verlesen und in das 1923 angelegte Gedenkbuch mit aufgenommen. Als Abschluss sprach die Gemeinde das Coventry-Gebet:
„Wir alle haben gesündigt und mangeln des Ruhmes, den wir bei Gott haben sollten. Darum lasst uns beten:
Vater, vergib!
Den Hass, der Rasse von Rasse trennt, Volk von Volk, Klasse von Klasse:
Vater, vergib!
Das habsüchtige Streben der Menschen und Völker, zu besitzen, was nicht ihr eigen ist:
Vater, vergib! […]“

Unmittelbar danach fand die städtische Feier zum Volkstrauertag statt, die einen ganz besonderen Rahmen hatte, nämlich die Eröffnung der Ausstellung „Der Erste Weltkrieg in Northeim – Kriegsende 1918. Und dann?“ im Heimatmuseum der Stadt Northeim. Bürgermeister Simon Hartmann sprach zunächst das traditionelle Totengedenken zum Volkstrauertag. Dann warnte er nachdrücklich vor den Gefahren nationalistischer Positionen und zitierte aus der Rede, die der französische Staatspräsident Emanuel Macron am 11. November in Paris gehalten hatte – „Die alten Dämonen steigen wieder auf, bereit ihr Werk von Chaos und Tod zu vollenden“ – und kommentierte: „Mahnende Worte, die aktueller sind denn je seit dem Ende der Weltkriege.“

Ein deutscher Bürgermeister, der am Volkstrauertag zustimmend die Worte zitiert, die der französische Staatspräsident wenige Tage zuvor in Erinnerung an den Waffenstillstand 1918 sprach, das wäre noch vor einigen Jahren kaum vorstellbar gewesen. Es ist Ausdruck eines Bewusstseinswandels, ein Zeichen für Ansätze einer europäischen Erinnerungskultur. Ganz in dieser Perspektive stellten dann die Ausstellungsmacher – Dr. Stefan Teuber, Ekkehard Just, Jörg Dodenhöft und Hans Harer – die einzelnen Abteilungen vor.

Die Sektion zur Westfront 1918 liefert unter anderem das gewaltige Diorama eines Schlachtfelds und läuft durch die klaustrophobische Enge eines rekonstruierten Schützengrabens auf eine Liste zu, die in alphabethischer Ordnung die getöteten Soldaten aus Northeim und seiner französischen Partnerstadt Tourlaville verzeichnet. Das ist ein bemerkenswerter Versuch, unsere nationalen Perspektiven zu weiten. Die museale Inszenierung erinnert an den berühmten Anneau de la Mémoire, den Ring der Erinnerung bei Souchez, der alle im Gebiet Nord Pas-de-Calais gefallenen Soldaten ohne Rücksicht auf Ihre nationale Zugehörigkeit in alphabetischer Reihenfolge verzeichnet.

Hans Harer ging auf die Sektion der Ausstellung näher ein, die das Gedenken an den Krieg thematisiert. Hier wird auch die Arbeit von Schülerinnen und Schülern des örtlichen Gymnasiums Corvinianum präsentiert (die durch Harer betreut worden waren), mit der sie sich am deutsch-französischen Comicwettbewerb des Volksbunds „Kriegsende. Und dann?“ beteiligt hatten. Sie sind der Entstehungsgeschichte des Gemäldes in der Hieronymus Kapelle der St. Sixti Kriche nachgegangen. Ihre Arbeit zeigt, mit welcher Wucht Tod und Trauer die Familien auch in Northeim trafen und erklärt, welche Formen des Gedenkens damals entwickelt wurden. Landrätin Astrid Klinkert-Kittel, die als Kreisvorsitzende des Volksbunds die Veranstaltung abschloss, würdigte das Engagement der Schülerinnen und Schüler. Ihr Beitrag zeige die Botschaft des Volkstrauertags: „Krieg tötet, er hinterlässt Trauer und Wunden, die auch die Zeit nicht heilen kann“. Die Landrätin schloss mit dem Wunsch, dass es auch in Zukunft eine so gute Zusammenarbeit zwischen Northeimer Schulen und dem Volksbund geben möge, deren Früchte in dem Beitrag zur Hieronymus Kapelle sichtbar würden.

Northeim ist eine Kreisstadt mit gut 29.000 Einwohnern, keine Universitätsstadt mit ausgeprägtem akademischem Leben. Umso bemerkenswerter ist diese Gestaltung des Volkstrauertags: eine funktionierende Städtepartnerschaft, eine aktive Kirchengemeinde, eine wache Stadtverwaltung und die von der Landrätin unterstützten Bildungsprojekte des Volksbunds haben neue Akzente gesetzt.

Text und Bilder: Dr. Rainer Bendick, Bildungsreferent Braunschweig