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Was uns Sauerbruch über die NS-Zeit lehrt

Der Historiker Christian Hardinghaus erklärt, warum der legendäre und weltbekannte Chirurg kein Nazi war

In Vorbereitung zur Lesung mit Herrn Dr. Hardinghaus hat die Rhein-Zeitung Koblenz ein Interview veröffentlicht. Das Gespräch führte Christian Kunst.

Quelle: RZ Koblenz und Region vom Montag, 29. April 2019, Seite 3, Kultur extra

 

Als der Chirurg Ferdinand Sauerbruch Ende der 20er-Jahre an die Berliner Charité wechselte, war er bereits ein Weltstar der Medizin. Das von ihm entwickelte Druckdifferenzverfahren rettete Millionen das Leben, weil Chirurgen jetzt Herz, Lunge oder Speiseröhre am offenen Brustkorb operieren konnten. Die von ihm geschaffenen Prothesen verbesserten das Leben von Millionen Invaliden nach dem Ersten Weltkrieg. Doch erst in Berlin wurde er zur Legende und zu einem der umstrittensten Mediziner des 20. Jahrhunderts. Sauerbruch, der viele Politiker, darunter fast alle Nazigrößen außer Adolf Hitler, behandelte, geriet in die Mühlen des Nationalsozialismus. Nach 1945 wurde ihm vorgeworfen, die Nazis unterstützt zu haben. Der Osnabrücker Historiker Christian Hardinghaus, der erstmals unveröffentlichte Quellen nutzen konnte, widerspricht vehement: „Sauerbruch war kein Nazi.“ Im Interview mit unserer Zeitung erklärt er, was wir aus dem Fall Sauerbruch für den Umgang mit der NS-Zeit lernen können:

Ferdinand Sauerbruch war gerade auch Star der ARD-Serie „Charité“. Warum ist dieser legendäre Mediziner für Sie heute so aktuell?

Als Historiker habe ich nicht verstanden, warum Sauerbruch in der Presse oft als Nazi-Sympathisant beschimpft wurde. Denn ich erfuhr, dass er verbotenerweise Juden behandelt und auch gerettet hat. Als jemand, der über Antisemitismus promoviert hat, weiß ich, dass dieser der Kernbestandteil des Nationalsozialismus war. Aber Sauerbruch war kein Antisemit. Er war kein Nazi. Dennoch gab es gegen ihn regelrechte Kampagnen. So hatte der wissenschaftliche Beirat der Stadt Hannover 17 Straßennamen auf einen Index gesetzt, die nach Personen benannt wurden, denen eine Mitwirkung in einem Unrechtssystem nachgewiesen werden könne. Sie sollten umbenannt werden. Dazu gehörte auch der Sauerbruchweg. Diese Debatte gab es in vielen Städten.

Wie erklären Sie sich das?

Ich habe das Gefühl, je länger das „Dritte Reich“ zurückliegt, umso eifriger sucht man nach Nazis oder nach vermeintlichen Nazis von damals und heute. Es bedrückt mich als Historiker, dass dieser Begriff so inflationär verwendet wird. Vieles, was einem nicht passt, wird als „Nazi“ abgewertet. Da wird dann auch ein Mann wie Sauerbruch, der nicht so einfach zu deuten ist, schnell zum Nazi.

Verhindert das eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem sogenannten Rechtspopulismus?

Ja. Ich halte es für einen Fehler, wenn man AfD-Politiker Nazis nennt. Wer das tut, weil er meint, diese Partei schwächen zu können, sollte wissen, dass er eher zu ihrem Erfolg beiträgt. Für mich sind die Nationalsozialisten das größte Übel, das Deutschland je hervorgebracht hat – überzeugte Antisemiten, die den Holocaust zu verantworten haben. Wer heute leichtfertig demokratisch legitimierte rechtskonservative und nicht antisemitische Politiker oder Positionen einen Nazi-Stempel aufdrückt, verharmlost und relativiert die Barbarei der Nationalsozialisten. Natürlich gibt es auch heute Anhänger des Nationalsozialismus: Neonazis. Die muss man weiter stellen. Dazu muss man aber wissen, was der Nationalsozialismus war. Der Fall Sauerbruch zeigt, dass die Bewertungen viel zu undifferenziert ausfallen.

Das heißt?

Die Mehrheit der Deutschen in der Zeit des „Dritten Reiches“ waren keine überzeugten Nazis. Zugleich war es aber in einer Diktatur kaum möglich, gegen die Nazis offen aufzubegehren. Das haben Tausende mit ihrem Leben bezahlt. Aus heutiger Sicht ist es für viele nicht mehr so leicht zu beurteilen, wer mit den Nazis sympathisiert und wer sich schuldig gemacht hat. Tatsächlich werden viele Menschen von damals heute als Nazi-Sympathisanten oder NS-Täter verurteilt, weil man mit den moralischen Maßstäben von heute die Taten von damals bewertet.

Wie im Fall Sauerbruch?

Ja. Sauerbruch hat sich anders verhalten, als viele das in seiner Position heute tun würden. Sauerbruch war ein Nationalist. Doch wer heute von Nationalismus spricht, meint etwas anderes. Zu Sauerbruchs Lebzeiten war es nichts Verwerfliches, Nationalist zu sein. Das hieß nicht zwangsläufig, dass man andere Länder und Kulturen abwertete. Das aber versteht man heute unter Nationalismus, der sich meines Erachtens strikt vom Patriotismus unterscheidet. Sauerbruch war überzeugter Patriot, dem es um das Wohl Deutschlands ging. Das hatte er gemein mit den meisten Widerstandskämpfern. Patriotismus konnte damals und kann auch heute nicht der Nationalsozialismus sein. Es schließt sich aus.

Welches Verhältnis hatte Sauerbruch zu den Nazis und zu Hitler?

Sauerbruch hat sich zu Beginn der Machtübernahme nicht wesentlich von anderen Deutschen unterschieden: Er fühlte sich als Patriot durch die Niederlage von 1918, den Versailler Vertrag und die Wirtschaftskrise gekränkt. Deshalb hat er wie viele andere die Nazis nicht als das erkannt, was sie waren. Er hat geglaubt, dass Hitler und die Nazis Deutschland wieder zur alten Blüte verhelfen würden. Doch er hat den Antisemitismus der Nationalsozialisten immer strikt abgelehnt. Er hat sich für seine jüdischen Ärzte eingesetzt und ihnen im Ausland Stellen verschafft. Als er merkte, dass die Nazis sich und ihren Antisemitismus etabliert hatten, hat er sich innerlich und nach seinen Möglichkeiten öffentlich immer mehr von den Nazis abgewandt. Er wurde zum Gegner. Doch offen konnte er das nicht sagen. Es war eine Art Geben und Nehmen: Er musste den Nazis zumindest hin und wieder seine Zugehörigkeit suggerieren, damit sie ihn in Ruhe lassen und er Freiräume bekommt, um anderen zu helfen. Den Nazis diente er als Aushängeschild, da er eine große Anerkennung im Volk hatte und als der bedeutendste Arzt der Welt galt. Die Nazis wollten ihn immer wieder für sich einspannen. Aber er ist nie in die Partei eingetreten. Sie haben ihn dann mit Preisen überhäuft. Das wirft man ihm heute vor.

Aber es gibt auch schwerer wiegende Vorwürfe ...

Ja. Das betrifft vor allem seine Tätigkeit im Reichsforschungsrat ab 1937 – konkret vier Anträge, die über seinen Tisch gingen und zu Menschenversuchen in Konzentrationslagern führten. Dies war den Anträgen aber nicht zu entnehmen. Ganz sicher hat er nur von einem Menschenversuch gewusst: Im Mai 1943 war er als Generalarzt des Heeres bei einer Fachtagung für Militärärzte, bei der SS-Arzt Karl Gebhardt von seinen Sulfonamid-Versuchen an verurteilten Partisaninnen sprach. Doch dies öffentlich zu kritisieren, hätte Sauerbruch das Leben kosten können. Schließlich galten Sulfonamide als Mittel gegen Gasbrand – eine Krankheit, an der Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamtes, mutmaßlich gestorben war.

Er wusste nichts vom Holocaust?

Ich halte es für äußerst unwahrscheinlich, dass Sauerbruch vom industriellen Massenmord in Auschwitz und in den anderen Lagern in Osteuropa wusste.

Aber er wusste von KZs?

Die waren ja kein Geheimnis. Vom ganzen Ausmaß des Holocaust durfte die Zivilbevölkerung aber nichts erfahren, weil so aus Sicht der Nazis ihr Programm gefährdet worden wäre. Nur so konnte das System Nationalsozialismus funktionieren. Auch Sauerbruch sollte und konnte nicht wissen, dass es einen Massenmord durch Vergasung gab. Alles, was in den KZs passierte, geschah auf Weisung Hitlers unter höchster Geheimhaltungsstufe. Dazu gehörten auch Menschenversuche. Das ist für uns schwer nachvollziehbar, weil wir so viel über den Holocaust wissen.

Können Sie das näher erläutern?

In einem der Forschungsaufträge hieß es, dass unter der Aufsicht des Arztes Dr. Josef Mengele in einem KZ Blutproben bei Menschen entnommen werden. Bei uns löst allein der Name Mengele schon Gänsehaut aus. Sauerbruch konnte aber wohl mit dem Namen des heute berüchtigten KZ-Arztes nichts anfangen. Mengele war auf dem Papier ein unbedeutender Lagerarzt, Sauerbruch ein berühmter Chirurg. Alles war damals von den Nazis chiffriert, Informationen gab es nur portionsweise. Die Nazis haben eine eigene Sprache entwickelt, um den Holocaust zu verschleiern. Und gerade Sauerbruch durfte bestimmte Geheimnisse nicht erfahren, weil er sehr vernetzt und angesehen war. Als Sauerbruch von der Euthanasie erfuhr, war er außer sich und hat alles in Bewegung gesetzt, um das zu stoppen. Er hat beim Justizminister protestiert, Briefe geschrieben und mit der Kirche korrespondiert. Das war für Hitler eine Katastrophe.

Für Sauerbruch war das aber auch ein Ritt auf Messers Schneide?

Ja. Die Nazis hatten konkrete Hinweise, dass Sauerbruch in das Attentat vom 20. Juli 1944 eingeweiht war und den Verschwörern sein Haus zur Vorbereitung zur Verfügung gestellt hatte. Sein Sohn Peter war eng mit Stauffenberg befreundet, der bei Sauerbruch Patient war. Tausende, die nur davon gewusst haben könnten, wurden deshalb umgebracht. Sauerbruch tastete man nicht an. Das zeigt, was für eine Macht er besessen hat. Sauerbruch hat sich in erster Linie als Arzt gesehen. Von ihm stammt der Satz: „Es gibt keinen Nazi-Krebs, es gibt keinen jüdischen Krebs, für mich gibt es nur Krebs. Und der wird behandelt.“ Man wusste, dass er zornig wird und redet, wenn er von Unrecht erfährt. Die Gruppe um Stauffenberg hat ihn daher bei Unterredungen öfter auf Spaziergänge geschickt, um ihn und sich selbst zu schützen.

War er ein Widerstandskämpfer?

Dieses Wort würde ich für ihn nicht benutzen. Er war ein Nazi-Gegner und für die Widerstandskämpfer ein sehr wichtiger Mensch, der ihnen Informationen beschaffte. Sein Sohn und seine Ehefrau Margot waren im Widerstand. Seine Chefsekretärin Maria Fritsch spionierte mit ihrem Mann Fritz Kolbe für den US-Geheimdienst. Auch Sauerbruchs engste Assistenten waren Widerständler. Prof. Adolphe Jung spionierte für die Résistance. Aus seinen Tagebüchern können wir eindeutig Sauerbruchs Gesinnung ablesen: Jung beschreibt ihn als einen vehementen Nazi-Gegner.

Welche Rätsel gibt Ihnen Sauerbruch noch auf?

Ich hätte gern die letzte Bestätigung, dass er nichts von den Verbrechen in den KZs gewusst hat. Ich würde ihn gern fragen: Haben Sie geahnt, was dort passiert?

Ist es ein Fehler der Nachkriegsgeneration, dass sie ihren Eltern oft eine Kollektivschuld gegeben hat?

Ja. Ein großer Fehler. Viele Kinder haben ihre Eltern nicht gefragt, sondern sie oft als Nazis abgestempelt. Deshalb haben viele oft nichts mehr erzählt. Die einen hatten Angst, etwas zu erfahren, was man nicht wissen will. Die anderen hatten Angst, etwas Unangenehmes zu erzählen. Das führte dazu, dass wir oft sehr undifferenziert auf die NS-Zeit blicken. Es fällt uns schwer anzuerkennen, dass es auch gute Deutsche gab. Das ändert sich langsam. Deshalb ist es so wichtig, sich einzelne Schicksale wie das von Sauerbruch anzuschauen.

Das Gespräch führte Christian Kunst

RZ Koblenz und Region vom Montag, 29. April 2019, Seite 32