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Wie Vergangenes lebendig wird

Volksbund-Projekt zu Kriegsbiographien

„Meine liebe Dora“, steht am Anfang des vergilbten Schriftstückes mit blasser Schrift geschrieben. Dann folgen große Sehnsüchte und kleine Hoffnungen, gefasst in schönen Worten auf engen Bleistiftlinien, welche jeden Quadratzentimeter der ohnehin überschaubaren Postkarte vollständig ausfüllen. Es sind die letzten Worte eines liebenden Menschen. In nur wenigen Tagen wird er im Schützengraben sterben.

Bewegende Schicksale wie dieses gab es viele im Ersten wie auch im Zweiten Weltkrieg. Feldpostbriefe aber auch persönliche Tagebücher, Fotos, kleine Andenken und vieles mehr geben davon eindrucksvoll Auskunft. Doch mit Ableben der letzten Zeitzeugen droht dies teilweise in Vergessenheit zu geraten. Deswegen forciert der Volksbund sein Projekt Kriegsbiographien. Auch Sie können daran mitwirken. Den entsprechenden Kontakt finden Sie am Ende dieses Textes.

Das Foto zeigt die junge Familie Patzlaff, deren Leben durch die Gewaltherrschaft des Zweiten Weltkrieges geprägt war. Auch ihr Schicksal wird mit dem neuen Kriegsbiographien-Projekt des Volksbundes für die Nachwelt festgehalten.

Schicksale hinter den Steinen

Die Feldpost, welche in Kriegszeiten zumeist die einzige Verbindung zwischen den Soldaten und ihren Angehörigen darstellte, bietet gerade den nachfolgenden Generationen die Möglichkeit, die Seelennöte dieser Menschen ganz konkret nachzuvollziehen. Dies ist für den Volksbund und seine Förderer ein besonders wichtiger Aspekt. „Gerade bei unseren Veranstaltungen auf Kriegsgräberstätten erleben wir immer wieder, wie sehr die unverfälschte Darstellung von Einzelschicksalen die Menschen bewegt“, sagt der Initiator und Projektleiter Arne Schrader: „Deswegen haben wir damit angefangen, die entsprechenden Daten und Dokumente, die bisher nicht oder aber beschränkt auf die lokale Ebene Verwendung fanden, nunmehr zentral zu sammeln – und sie somit zum Beispiel für die Jugendarbeit des Gesamtverbandes oder  Gedenkveranstaltungen verfügbar zu machen.“ Das langfristige Ziel des Projektes sei es zudem, für jede Kriegsgräberstätte und die dort bestatteten Opfergruppen entsprechende Biographien zu erstellen. 

Tatsächlich betreibt die Deutsche Kriegsgräberfürsorge als einziger Gräberdienst weltweit auch eine eigene Jugend- und Bildungsarbeit. Die vier Jugendbegegnungs- und Bildungsstätten (JBS) des Volksbundes sind dabei für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ein denkbar geeigneter Ort, da sie sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu großen deutschen Kriegsgräberstätten befinden. Die Leiter dieser JBS erleben dabei immer wieder, welche große Wirkung allein der Anblick tausender Gräber auf die Besucher von Kriegsgräberstätten ausübt. Doch das allein reicht nicht. Es ist wichtig, auch die menschlichen Schicksale zu ergründen, die hinter diesen Grabsteinen stehen. Diese Steine seien die großen Prediger des Friedens – so hatte es einst  Albert Schweitzer formuliert. Und dennoch sind sie stumm. Es bedarf des Engagements der Lebenden, um sie wieder zum Sprechen zu bringen.

Ausgangs- und Zielpunkt des neuen Projektes: Bei Gedenkveranstaltungen wie hier im französischem Romagne ist es zumeist das persönliche Schicksal eines einzelnen Kriegstoten, welches die Menschen am meisten bewegt.

So sieht es auch Annette Uhr, die bereits bei den Volksbund-Gedenkveranstaltungen anlässlich der Verdun-Schlachten im vergangenen Jahr ganz praktische Erfahrungen im Umgang mit solchen Kriegsbiographien gesammelt hat: „Sehr ergriffen war ich vor allem über die große Anteilnahme der Kinder und Jugendlichen an den Gräbern der gefallenen Soldaten. Nachdem sie deren Biographien bei der feierlichen Blumenniederlegung vorgetragen hatten, waren ihnen die Gefallenen letztlich sehr vertraut geworden, sogar ans Herz gewachsen. Ich hoffe, dies anhand der Kriegsbiographien auch bei vielen anderen Kindern, Jugendlichen sowie Erwachsenen bewirken zu können.“

Annette Uhr präsentiert historische Briefe, Postkarten und Fotos, die aus dem stetig wachsenden Fundus des Kriegsbiographien-Projektes stammen.

So haben viele JBS-Leiter schon in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten vor allem von Angehörigen der Kriegstoten vor Ort viele Informationen und Dokumente zu den individuellen Kriegsschicksalen erhalten. Diese teils sehr tragischen Lebensläufe wurden gesammelt, in den historischen Zusammenhang gestellt und den zumeist jugendlichen Besuchergruppen als wichtige Informationsquelle zur Verfügung gestellt. In der JBS Niederbronn-les-Bains ist daraus beispielsweise die Ausstellung „Kriegsschicksale“ (Destins de guerre) entstanden. In der JBS Golm auf Usedom gibt es ebenfalls ein ähnliches Zeitzeugen-Projekt. 

Zugleich wird durch die Vielfältigkeit der dort repräsentierten Kriegsopfergruppen wie zum Beispiel Zivilisten, Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene oder Kindersoldaten schnell deutlich, dass der Krieg gegenüber seinen Opfern schlicht keine Gnade kennt. Das pädagogische Ziel dieser authentischen Aufarbeitung persönlicher Schicksale ist es, den Toten wieder ein menschliches Antlitz zu geben und so die Vergangenheit wieder lebendig werden zu lassen.

Die Zeit drängt

Diese Auseinandersetzung mit der Geschichte wird nun vom Volksbund weiter ausgearbeitet und professionalisiert. Der Grund dafür ist naheliegend: „Die Zeit drängt. Die letzten Zeitzeugen und selbst deren nächste Angehörige werden uns bald nicht mehr berichten können. Deswegen ist es sehr wichtig, diese jeweils individuellen Perspektiven des Kriegsgeschehens und dessen Folgen für die Nachwelt festzuhalten“, sagt Christian Reith. Er ist Teil der neuen Projektgruppe Kriegsbiographien.

Dabei sollen die einzelnen Dokumente nicht nur gesammelt, sondern auch miteinander in Beziehung gesetzt sowie durch weitere biografische Angaben der direkten Angehörigen ergänzt werden. Zugleich wird auch auf die gebotene Quellenkritik großen Wert gelegt: Was genau sagen die Dokumente, was sind Erinnerungen – und können diese auch bewusst oder unbewusst verfälscht sein? Dies alles sind denkbar schwierige Aufgaben des Kriegsbiographien-Projektes. Das Team um Christian Reith und seine drei Kolleginnen Annette Uhr, Franziska Haarhaus und Marthe Burfeind gehen sie gemeinsam mit Arne Schrader mit großem Eifer an. 

Dies hat teils persönliche Gründe: So kam etwa Christian Reith über seinen inzwischen leider verstorbenen Großvater Dietrich Schöning schon sehr früh in Kontakt mit der Friedensarbeit des Volksbundes: Denn Dietrich Schöning war einer der ehemaligen Kriegsteilnehmer, die durch ihr Zugehen auf die sowjetischen Veteranen viel dazu beigetragen haben, dass die große Kriegsgräberstätte in Rshew eröffnet werden konnte. Sein Enkel Christian hatte ihn auf dieser und auf weiteren Reise ins ehemalige Feindesland begleitet. Auch dabei machte er die Erfahrung, dass der persönliche Austausch von individuellen Erfahrungen für die meisten Menschen weitaus bedeutsamer ist als jedes Geschichtsseminar.

Mensch im Mittelpunkt

Für seine Kollegin Marthe Burfeind, die sich vom Berliner Hauptstadtbüro des Volksbundes aus mit dem so wichtigen Thema der Kindersoldaten beschäftigt, steht ebenfalls die Person, der jeweilige Mensch im Mittelpunkt des Interesses: „Den Toten auf den Kriegsgräberstätten des Volksbundes ein Gesicht und eine Geschichte zu geben - das motiviert mich bei meiner Arbeit. Da ich mich mit Berichten aus dem Projekt ’Kindersoldaten’ beschäftige und den hierin enthaltenen Hinweisen auf Kriegstote nachgehe, stehe ich im engen Kontakt mit den Zeitzeugen. Es ist eine überaus spannende und interessante Aufgabe.“

Die Berliner Volksbund-Mitarbeiterin Marthe Burfeind beschäftigt sich mit dem Spezialthema "Kindersoldaten".

Ihre Kasseler Kollegin Franziska Haarhaus ist von ihrer Aufgabe ebenfalls begeistert: „Wir wollen sozusagen eine Datenbank der individuellen Erinnerung aufbauen. Schließlich ist aus der Geschichts- und Kulturwissenschaft bekannt, dass das so genannte kommunikative oder auch kulturelle Gedächtnis nach nicht einmal 100 Jahren weitgehend erloschen ist. Dem wollen wir mit unserer Arbeit entgegenwirken.“ Dass dieses Vorhaben nicht nur sinnvoll, sondern auch erfolgreich ist, zeigt bereits der beachtliche Fundus von mehreren hundert Kriegsbiographien, über die der Volksbund bereits heute verfügt – und regelmäßig bei Gedenkveranstaltungen sowie in seiner friedenspädagogischen Arbeit einsetzt.

„Aber das Ende unserer Arbeit ist dennoch nicht in Sicht“, sagt Franziska Haarhaus: „Tatsächlich wird sie so lange weitergehen, wie es Menschen gibt, die sich für ihre Geschichte und die ihrer Vorfahren interessieren, um daraus für die Zukunft zu lernen. Deswegen möchten wir auch die Freunde und Förderer des Volksbundes weiterhin dazu auffordern, uns ihre Kriegsbiographien anzuvertrauen.“ Dann wendet sich die 22-Jährige wieder dem Stapel mit den bisher noch unbearbeiteten Kriegsbiographien zu. In einem der beigelegten Feldpostbriefe vom 21. November 1915, die ähnlich dicht beschrieben sind wie die eingangs erwähnte Feldpostkarte, liest sie folgenden Schlusssatz: „In der besten Hoffnung auf einen baldigen Frieden schließt mit vielen Grüßen und Küssen, Dein Martin.“

Maurice Bonkat

Wenn auch Sie sich an dieser Aktion Projekt Kriegsbiographien beteiligen wollen, melden Sie sich bitte zunächst per Mail: kriegsbiographien@volksbund.de.