Volksbund Logo Desktop Volksbund Logo Mobil
Gräbersuche Mitglied werden Jetzt spenden Spenden

Blick auf Berlin – persönlich und unverstellt

Buchtipp: "Berlin Mai 1945" des russischen Kriegsfotografen Valery Faminsky

Zum 75. Jahrestag des Kriegsendes liegt eine Neuauflage des Bildbandes „Berlin Mai 1945“ mit Aufnahmen des russischen Kriegsfotografen Valery Faminsky (1914–1993) vor. Er zeigt die Befreiung Berlins und die Hauptstadt in den ersten Friedenstagen – eindringlich und unverstellt. Ab 10. September 2020 sind die Fotos außerdem in Berlin in einer Ausstellung zu sehen.

Faminsky gelangte mit den ersten Soldaten am 16. April 1945 in die umkämpfte Stadt. Seine eigentliche Aufgabe war die Dokumentation der medizinischen Versorgung verwundeter Soldaten für die Militärmedizinischen Institute der Roten Armee.

Verbot missachtet
Mit dieser Legitimation konnte er sich in der Stadt frei bewegen, und aufgrund seines (foto)journalistischen wie künstlerischen Interesses setzte er sich über das verhängte Verbot der Fotografie von Zivilbevölkerung, Not und Zerstörungen hinweg.

Faminskys Fotografien schildern ohne jede Propaganda und ohne jedes Pathos, dafür mit einem zutiefst humanistischen Blick, die völlig zerstörte Stadt, die erschöpfte Bevölkerung und den Alltag der russischen Truppen.

Blick auf die Verletzungen und die Geretteten
Er zeigt die tiefe Sehnsucht nach Frieden, und sein Interesse gilt immer den individuellen Schicksalen von Menschen auf beiden Seiten der Front: osteuropäische Zwangsarbeiter auf dem Weg in die Heimat, deutsche Flüchtlinge und Ausgebombte, Zivilisten auf der Suche nach Angehörigen, Lebensmitteln und Wasser, verwundete Soldaten der Roten Armee und neben den offiziellen Siegesparaden auch Bilder einfacher Soldaten, die nur erleichtert sind, das Kriegsende überlebt zu haben. Ein Alltag zwischen den Ruinen, der aus extremen Lebenssituationen besteht. In diesen Bildern begegnen sich Menschen, nicht Sieger und Besiegte. Wir sehen die Verletzungen und die Geretteten.

Prof. Dr. Peter Steinbach umreißt in seinem Vorwort die Mission des Fotografen so: „Vielleicht war die Hoffnung Faminskys, dass seine Bilder eine Art Menetekel seien – er verzichtet auf das triumphale Gefühl der Sieger […]. Etwas ganz anderes scheint ihm wichtig. Indem er das Leiden schildert, ohne sich auf eine Seite zu schlagen, weckt er Mitleid. Er weckt Empathie, Mitgefühl und Mitbedauern […]. Faminsky braucht keine Phantasie zu beschwören, denn die entzündet sich an der Realität“.

Fotos erst 2017 veröffentlicht
Am 22. Mai 1945 kehrte Faminsky mit seinen Aufnahmen nach Moskau zurück. Er veröffentlichte diese Bilder nie – seine alltäglichen und zwischenmenschlichen Momentaufnahmen passten nicht in die historischen Narrative und heroischen Bildwelten der Sowjetzeit.

Seine Enkel entdeckten die Fotos in seinem Nachlass und boten das knapp 500 Negative umfassende Archiv im Internet an. Der in Moskau lebende ukrainische Fotojournalist Arthur Bondar erwarb das Archiv 2017 und machte die Bilder zum ersten Mal der russischen Öffentlichkeit zugänglich.

Schnell vergriffen und preisgekrönt
Die Aufnahmen haben die Designerin Ana Druga und den Fotobuchhändler Thomas Gust – die die Entdeckung des Archives Valery Faminskys von Anfang an begleiteten – so sehr beeindruckt, dass sie kurzerhand den Verlag „Buchkunst Berlin“ gründeten und die Fotografien in einem umfangreichen Bildband veröffentlichten.

Im vergangenen November wurde das Buch mit der Silbermedaille des Deutschen Fotobuchpreises 2019/20 ausgezeichnet. Die erste Auflage war schnell vergriffen, und soeben ist die zweite Auflage erschienen. Viele Zeitzeugen, die das Kriegsende in Berlin als junge Menschen noch erlebten, reagierten auf diese Veröffentlichung, da sie sich an ganz ähnliche innere Bildwelten aus dem zerstörten (Nach-)Kriegsberlin erinnern. Zugleich ermöglicht dieser Bildband allen „Nachgeborenen“ eine unverfälschte Sicht auf die uns alle verbindende Geschichte und fordert dazu auf, sie zu reflektieren.

Ausstellung  im Willy-Brandt-Haus
Faminskys Fotografien sollten ursprünglich schon im Mai in der Ausstellung „Neue Zeit?“ im Willy-Brandt-Haus in Berlin gezeigt werden. Aufgrund der Corona-Einschränkungen ist die Eröffnung erst am 10. September 2020 möglich. Um so mehr bedarf es anderer öffentlicher Plattformen, um an diese – für Deutschland und Europa wichtigen – Zeugnisse der Zeit zu erinnern. Darum präsentiert der Volksbund einige ausgewählte Fotografien Faminskys.

Text: Matteo Schürenberg

BERLIN MAI 1945 – VALERY FAMINSKY
Vorwort: Prof. Dr. Peter Steinbach
Herausgeber: Thomas Gust, Ana Druga, Arthur Bondar, Joseph Dilworth
Deutsch, Englisch / 184 Seiten / 114 s/w Abbildungen 
Verlag Buchkunst Berlin | ISBN 9783981980585
48,00 Euro 
www.buchkunst-berlin.de