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Erinnerung an vielen Orten

Überfall auf die Sowjetunion vor 80 Jahren: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier setzt Zeichen in Pankow

Der deutsche Krieg gegen die Sowjetunion war eine mörderische Barbarei. So schwer es uns fallen mag: Daran müssen wir erinnern! Und wann, wenn nicht an solchen Jahrestagen?“, hatte der Bundespräsident und Schirmherr des Volksbundes, Frank-Walter Steinmeier, in seiner Gedenkrede zu Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion gefragt. 80 Jahre nach dem 22. Juni 1941 setzte er selbst ein Zeichen und legte auf der sowjetischen Kriegsgräberstätte in Berlin-Pankow einen Kranz nieder – eine von zahlreichen Veranstaltungen an vielen Orten.

Wir geben hier einen Überblick, den wir nach und nach erweitern.
Video: Frank Wagner
 

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Stille Andacht vor der „Mutter Heimat“

An diesem Tag machte der Sommer eine kurze Pause, graue Wolken hingen schwer über der Sowjetischen Kriegsgräberstätte in Berlin-Pankow. Nicht vor der Krypta und dem alles überragenden Obelisken, sondern vor dem Denkmal der „Mutter Heimat“ gedachte der Bundespräsident der Toten. In der Sowjetunion hatten im Zweiten Weltkrieg rund 27 Millionen Menschen ihr Leben verloren, davon waren 14 Millionen Zivilisten.

Das Ehrenmal Schönholzer Heide ist – neben den in Treptow und Tiergarten gelegenen – eines der drei großen sowjetischen Ehrenmäler in Berlin. Dort liegen die sterblichen Überreste von über 13.000 Offizieren und Soldaten der Roten Armee, die in der Schlacht um Berlin 1945 starben.

Es war ein stilles Gedenken in kleinem Rahmen. Doch nachdem der Trompeter das Totensignal gespielt hat, kam es zu einer Überraschung: Der Bundespräsident traf auf Uwe Neumärker, Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Gemeinsam gingen sie über die Kriegsgräberstätte zu einer Gedenktafel, die bei offiziellen Veranstaltungen selten besucht wird. Dort wird der sowjetischen Kriegsgefangenen gedacht. Damit würdigte der Bundespräsident diese Opfergruppe, die bisher häufig in der Geschichtsschreibung vergessen und verdrängt wurde.

Dasselbe hatte er mit seinem Besuch im Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst getan, wo er am 18. Juni die Gedenkrede zum Jahrestag gehalten hatte. Dort hatte er eine Ausstellung eröffnet, die das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen beleuchtet.

Gedenken am Ehrenmal im Tiergarten

Auch am sowjetischen Ehrenmal im Berliner Tiergarten fand eine Gedenkveranstaltung statt. Daran nahmen die Leitung des russischen Außenministeriums, der russische Botschafter in Deutschland, Sergej Netschajew, Botschafter der GUS-Staaten, Abgeordnete der Staatsduma der Russischen Föderation, Gesandte befreundeter Organisationen und Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und Gesellschaft teil. Den Volksbund vertraten Präsident Wolfgang Schneiderhan, Generalsekretär Dirk Backen und Dr. Heike Dörrenbächer, Leiterin der Abteilung Gedenkkultur und Bildung im Volksbund. Viele Gäste legten Blumen nieder und nutzen die Gelegenheit zum Austausch. Der russische Botschafter Netschajew nutzte die Gelegenheit zu einem Gespräch mit Volksbund-Präsident Wolfgang Schneiderhan. Neben einigen anderen hatten die Botschaften von Kirgisistan, Belarus, Aserbaidschan, Turkmenistan, Usbekistan und der Russische Föderation, die Berliner Freunde der Völker Russlands, der Regierende Bürgermeister von Berlin, das Jugendforum Potsdamer Begegnung und der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge Blumen und Kränze abgelegt.

Gedenkgottesdienst in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche

Erinnern ist schwer und trennt manchmal mehr als dass sie versöhnt. Mit diesen Worten eröffnete Pfarrerin Kathrin Oxen den Gedenkgottesdienst zum 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. „Der Krieg brachte viel Leid, auch über die Angreifer“ ergänzte Pfarrerin Marion Gardei.

Wir können uns nicht auf der Gnade der späten Geburt ausruhen

Nach der Begrüßung ordneten die Pfarrerinnen den Überfall historisch ein. Sie führten nüchterne Zahlen auf, die eigentlich bekannt, aber durch ihre Größe kaum begreifbar sind. 27 Millionen Menschen in den Ländern der Sowjetunion starben. Darunter waren 14 Millionen Zivilisten. 5,5 Millionen Osteuropäer wurden als Zwangsarbeiter in Deutsche Reich verschleppt. Es gibt kaum eine Familie, die keine Angehörigen verloren hat.

Es gäbe kaum noch Augenzeugen, erklärte Kathrin Oxen. Deshalb sei es an uns, zu erinnern und sich nicht auf der ‚Gnade der späten Geburt‘ auszuruhen. Dirk Backen, Generalsekretär des Volksbundes, las aus den Seligpreisungen des Matthäus. Im Rahmen einer Psalmencollage wurden Berichte von Zeitzeugen vorgetragen, so aus dem Tagebuch eines Wehrmachtssoldaten, der am Angriff teilgenommen hatte: „... die erwartete russische Gegenwehr blieb aus. Die Einwohner waren völlig überrascht und hatten keine Zeit zu fliehen.“

„Heute erinnern wir an das Böse“

Des Menschen Bosheit lastet schwer auf ihm. Ein Mensch herrscht über den anderen zu seinem Unglück. Diese Worte des alttestamentarischen Weisen, Sammlers und Predigers Kohelet prägen die Predigt von Dr. Christian Stäblein, Bischof der Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. „Das ist nicht der Tag für schöne Sprachpirouetten. Heute erinnern wir an das Böse“. Er erinnerte auch daran, dass der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg nicht einfach in die Welt kamen. „Das Böse ist kein Einbruch. Es war im Namen des deutschen Volkes.“ Er erinnerte an die massenhaften Verbrechen hinter der Front, an die industrialisierte Ermordung von Jüdinnen und Juden. Auch vor einer Verallgemeinerung von Scham und Schuld warnte er. „Es geht um konkrete Schuld und es geht um konkrete Scham“, so Stäblein und berichtete von Pfarrer Walter Hoff, von der St. Petri-Gemeinde in Berlin, der schon vor 1933 überzeugter Antisemit und Nationalsozialist war. Er hatte sich freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet und beteiligte sich im September 1943 im Osten an der Ermordung von Hunderten Juden. Anschließend brüstete er sich damit. Zuerst wurde er verurteilt, doch wenige Jahre später wurde Walter Hoff von der Kirche rehabilitiert. Hier habe sich die Kirche schuldig gemacht, sie habe den Wahn mitgetragen, betonte Bischof Stäblein.

Mit Bekennen der Schuld beginnt die Versöhnung

Wie könne man das ändern, „das Herz richten und wenden“, wie es bei Kohelet heißt. Mit Bekennen und Benennen der Schuld beginne die Versöhnung, mit dem Gedenken für die Zukunft, dem Ausstrecken der Hand. Bischof Stäblein dankte an dieser Stelle ausdrücklich dem Arbeitskreis Partnerschaft Wolgograd und dem Präsidenten des Volksbundes,  Wolfgang Schneiderhan für ihre Arbeit und das Engagement für Erinnerung und Versöhnung.

Wolfgang Schneiderhan und mehrere Mitglieder des Arbeitskreises Wolgograd lasen Verse aus Bekenntnis und Verpflichtung vor.  Ein Bekenntnis soll an dieser Stelle vorgestellt werden: „Gott spricht: Siehe, ich mache alles neu. Wollt ihr aus der Geschichte lernen und mithelfen, ihre Wunden zu heilen? So antwortet: Ja, mit Gottes Hilfe.“

Im anschließenden Gebet konnten Teilnehmerinnen und Teilnehmer Kerzen entzünden. Mit dem Vaterunser und dem Segen endete der Gottesdienst. Möge dieser Gottesdienst zur Versöhnung beitragen, hatten die beiden Pfarrerinnen zu Beginn gewünscht. Für viele Gäste war es ein beeindruckendes Erlebnis mit einer nachhaltigen Wirkung. Dazu trugen Organist Helmut Hoeft und die vier jungen Musikerinnen des Mixi-Quartettes bei. Yula Kim und May Lueangtawikit an den Violinen, Julia Palecka an der Viola und Juliet Wolf am Violoncello spielten Sätze aus Dmitri Schostakowitsch Streichquartett Nr. 8 mit Präzision und Leidenschaft. Und auch die Auswahl dieser Musikstücke waren mit Bedacht gewählt: Der russische Pianist und Komponist Dmitri Schostakowitsch (1906 – 1975) verarbeitete sein Spannungsverhältnis zum Sowjetregime in seinen Kompositionen. „Um die Geschichte unseres Landes von 1930 bis 1970 nach zu leben, reicht es, die Sinfonien von Schostakowitsch zu hören“ schrieb eine große Moskauer Zeitung. Das Streichquartett Nr. 8 gilt als sein autobiografischstes Stück.  Diese Kollekte des Gottesdienstes geht an den Wolgograder Knabenchor, der seit 2017 nicht mehr von der Stadt unterstützt wird.

Blumen an der Ewigen Flamme in Moskau

Um 4 Uhr morgens, zu dem Zeitpunkt, als der Angriff Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion vor 80 Jahren begann, hatten sich dutzende von Menschen vor dem Alexandergarten in Moskau versammelt. In früheren Jahren war es ihnen möglich, direkt Blumen am „Grab des Unbekannten Soldaten“ an der Kremlmauer niederzulegen. Aufgrund der stetig steigenden Corona-Zahlen aber hatte die Stadt beschlossen, den Zugang zu beschränken beziehungsweise zu untersagen. So blieben die Kerzen und roten Nelken dieser Gäste bis auf wenige Ausnahmen draußen vor der Tür. Vielleicht aber hatte man auch aus Sicherheitsgründe den Alexandergarten gesperrt, denn am Morgen fuhr Präsident Wladimir Putin vor. Mittlerweile war die Kremlgarde aufmarschiert, eingeladen auch zahlreiche Veteranen, trotz Hitze in ihren Uniformen.  In seiner Rede sagte Putin: „Dem Feind war es nicht genug, sich fremdes Land anzueignen. Er ist gekommen, unser Volk auszurotten. Die verbliebenen Menschen sollten zu Sklaven ohne eigene Muttersprache, ohne Traditionen und Kultur degradiert werden.“

„Die Sieger sind unsterblich“

Zuvor hatte der Präsident mit hochdekorierten Veteranen Blumen an der Ewigen Flamme niedergelegt, anschließend an den Blöcken der „Heldenstädte“ Leningrad, Stalingrad, Kursk. Die Ansprache wurde live übertragen. Putin sagte: „Ich bin davon überzeugt, dass wir die Erinnerung, die Wahrheit über den Krieg bewahren werden. Wir setzen alles daran und werden auch in Zukunft alles tun, damit unser Land auch weiterhin eine große und starke Macht bleibt. Die Sieger sind unsterblich, wir werden ihnen ewig danken. Sie haben uns, den zukünftigen Generationen das Leben und den Frieden auf Erden geschenkt.“ In Moskau ging derweil das normale Leben weiter. Der 22. Juni ist Arbeitstag, so dass für viele Menschen die Schweigeminute um 18 Uhr überraschend kam. Radio und Fernsehen unterbrachen ihre Programme, Autos blieben stehen, der Verkehr stoppte, Russland hielt inne.

Botschafter auf dem Verbeugungshügel

Anders als der 9.Mai, der „Tag des Sieges“ ist der 22. Juni ein Tag des Gedenkens und der Erinnerung. Erinnerung an die großen Opfer, die der Zweite Weltkrieg gefordert hat. Generalmajor Kudinskij nennt in seinem Gastbeitrag die Zahl von 27 Millionen ums Leben gekommene Sowjetbürger, darunter 8,6 Millionen gefallene Soldaten. Demnach kamen zwischen 18 und 19 Millionen Zivilisten ums Leben, eine unvorstellbare Zahl. Noch einmal Putin in seiner Rede: „Solch einen grausamen Völkermord hatte die Geschichte bisher nicht gekannt. Auch heute noch erstarrt uns das Blut in den Adern, wenn man die Umsetzung der mörderischen Methoden der Nationalsozialisten und ihrer Helfershelfer betrachtet. An der Zivilbevölkerung wurden schrecklichste Gräueltaten begangen. Ältere Menschen, Frauen und Kinder wurden zu Opfern.“ Um 12 Uhr legte der deutsche Botschafter in Moskau, Dr. Géza Andreas von Geyr, auf dem Verbeugungshügel vor der Stadt einen Kranz nieder. Lange Zeit verharrte der Botschafter im Gedenken an das unendliche Leid, das Deutsche den Russen angetan hatten, vor der dortigen Ewigen Flamme.  Eine Geste, die von russischer Seite mit Respekt und Dankbarkeit angenommen wurde.

Hermann Krause