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Der Mensch ist des Menschen Wolf

Kapellengespräch mit Autor Harald Jähner über deutsche Mentalitätsgeschichte nach dem Krieg

Aus seinem Buch „Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945 – 1955“ las Harald Jähner im Rahmen der Gedenkwoche des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Rund um den 8. Mai erinnert der Volksbund gemeinsam mit etlichen Kooperationspartnern an verschiedenen Gedenkorten an das Ende des Zweiten Weltkrieges vor 76 Jahren. 

Zusammen mit der Gemeinde der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche hatte er den Autor und Journalisten Harald Jähner zu einer Lesung, genauer gesagt: einem „Kapellengespräch“, in die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche am 4. Mai eingeladen. Über Zoom war das Publikum dabei.

Pfarrerin Kathrin Oxen lobte die gute Zusammenarbeit mit dem Volksbund.  Dr. Heike Dörrenbächer, Abteilungsleiterin für Bildung und Gedenkkultur, betonte seine Rolle als Akteur der Gedenkkultur: „Wir setzen uns mit Geschichte auseinander, aber auch mit Gesellschaft. Dieses Buch ist ein frischer Blick auf die Zeitgeschichte und es liest sich einfach super gut!“ Harald Jähner dankte für die Gelegenheit, in der Gedächtniskirche zu lesen: „Sie ist ein besonderer, ein berührender Ort“.
 

„Neue Topographie der Trampelpfade“

Die Lesung begann mit dem zweiten Kapitel seines Buches „In Trümmern“.  Jähner beschrieb, wie die Menschen versuchten, die Masse der Trümmer in Zahlen und Bilder zu fassen. „Auf diesem je 300 Meter breiten und langen Platz (des Zeppelinfeldes auf dem Reichsparteitagsgelände, Anm. d. R.) aufgeschichtet, würden die Schuttmengen einen 4.000 Meter hohen Berg ergeben, auf dem ewiger Schnee läge.“

Er erzählte von der „neuen Topografie der Trampelpfade“ und aus dem „schon immer kehrwütigen Freiburg", in dem die „apokalyptische Szenerie“ schon wieder „wohnlich“ gewirkt habe.  Jähner schildert in seinem Buch einen regelrechten Trümmertourismus, in dem Menschen aus weniger zerstörten Teilen des Landes in vom Krieg zerstörte Landschaften gereist seien – und von skurrilen Szenarien wie dem Drahtseilakt der Akrobatin Margret Zimmermann hoch über dem zerstörten Köln. „Wie kann man – nachdem man gerade den Krieg überlebt hat – so übermütig sein?“ fragte der Autor sich und sein Publikum. Bei einem ähnlichen Kunststück verlor Margret Zimmermann wenige Jahre später ihr Leben.
 

Frauen in den Trümmern

Doch was machte den Reiz der Trümmer für die Menschen aus? „Vielleicht waren sie tröstlich – ein Spiegelbild ihres zertrümmerten Selbst?“, vermutet Jähner. Beim diesem Thema denken die meisten Menschen an die schon fast mythisch verklärten Trümmerfrauen. Welche Faszination geht von ihnen aus? Jähner spricht in diesem Zusammenhang von Bildmächtigkeit. Die Trümmerfrauen mit ihren Eimerketten hätten Aufbauwillen und Gemeinschaftsgefühl in schweren Zeiten verkörpert.

Die Rolle der Frauen sei eine ganz besondere gewesen nach Kriegsende. Sie hatten sich durchkämpfen müssen; sie hatten gelernt, dass das Leben auch ohne Männer funktioniert. Mit ihren Kindern bildeten sie häufig verschworene Gemeinschaften. Wenn Männer – die im Krieg oft Schreckliches erlebt hatten und entsprechend verletzt an Leib und Seele waren –  nach dem Krieg heimkehrten und ihre alte Macht als Haushaltsvorstand einforderten, habe das für ernsthafte Irritationen zwischen Frauen und Männern gesorgt.

„Viele waren eine Last und keine Hilfe“, so der Autor und sprach von einer Scheidungs- und einer darauffolgenden Heiratswelle. Aber wie es dazu gekommen? Jähner erklärt es mit dem Männermangel nach dem Zweiten Weltkrieg – und dem „Frauenüberschuss“. Dies hätte die Vormachtstellung der Männer gerettet. 
 

Schwarzmarkt als „Staatsbürgerschule“

Einen umfassenden und amüsanten Einblick in die „Staatsbürgerschule“ gibt Jähner in seiner Schilderung vom Schwarzmarkt. „Lektionen für die Marktwirtschaft“ heißt im Buch die Unterzeile des Kapitels. Der Autor schildert die Lernfähigkeit der ehemaligen Hitlerjungen, die schnell kapierten, dass ein SS-Ehrendolch in der neuen Währung eine halbe Stange Lucky Strike wert war. Sie brachen in naturhistorische Museen ein und verkauften den Alkohol, in dem die medizinischen Präparate gelagert wurden, als Schnaps.

Der Blick der Zeitgenossen auf die jungen Frauen und Mädchen als „deutsche Froileins“ war ein anderer. Für viele bewegten sich die Mädchen, die sich mit amerikanischen Soldaten anfreundeten, an der Grenze zur Prostitution. Jähner erklärt in seinem Buch, dass die jungen Frauen nun ein anderes Männerbild sahen und erlebten, als sie bisher kannten. Die amerikanischen GIs waren lässig, sie fuhren in offenen Jeeps, sie konnten einen Krieg gewinnen, ohne stramm zu stehen und die Hacken zusammenzuschlagen. Jähner fand dazu ein schönes Bild: „Den langen Weg nach Westen – den gingen die Frauen voran.“
 

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Fotos aus der Nachkriegszeit

Mit der Präsentation und der Erläuterung historischer Fotos nahm der Autor und Journalist das Publikum mit auf eine spannende Zeitreise. Viele Bilder hatte man so noch nicht gesehen und etliche finden sich in seinem Buch. 

Anschließend stellte sich Harald Jähner den Fragen des Publikums „vor den Empfängern zuhause“, wie er es mit einem Augenzwinkern formulierte. Eine Frage bezog sich auf den Titel des Buches: Warum Wolfszeit? So hätten viele Menschen damals diese Zeit beschrieben, erklärte Jähner, und verwies auch auf ein Zitat des britischen Staatstheoretikers Thomas Hobbes: dass der Mensch des Menschen Wolf sei. Sie hätten in dieser Zeit ein eigenartiges Sozialverhalten gepflegt, instinktsicher, auf sich zurückgezogen, dann aber auch Rudel gebildet. 

Abschließend sprachen Pastorin Oxen und Autor Jähner über den Symbolwert der Gedächtniskirche. Hier würde, so Oxen, Zerstörung präsentiert und Erinnerung wachgehalten. Manchmal sei es besser, nicht alles heilen zu wollen. Harald Jähner beschrieb seine Wahrnehmung der Stadt Berlin: Berlin habe schon immer gerne seine Wunden gezeigt, sei schon immer stolz auf seine Wirkmächtigkeit gewesen. In Berlin habe man sich schon immer wahrhaftiger gefühlt.


Zur Person

Harald Jähner, studierter Historiker und Literaturwissenschaftler, leitete die Kommunikationsabteilung des Hauses der Kulturen der Welt, war Feuilletonchef der Berliner Zeitung und ist heute Honorarprofessor an der Universität der Künste in Berlin. In „Wolfzeit“ nimmt er die Leserinnen und Leser in die direkte deutsche Nachkriegszeit mit. Dabei handelt es sich weniger um historische Fachliteratur als eine Mentalitätsgeschichte der Deutschen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.
 

Text: Diane Tempel-Bornett
Video: Simone Schmid