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"Gorbi" - persönliche Erinnerungen an einen großen Politiker

Hermann Krause gratuliert Michail Gorbatschow zum 90. Geburtstag

Hermann Krause war jahrzehntelang WDR-Korrespondent in Moskau und leitet heute dort das Volksbund-Büro. Michail Gorbatschow ist er viele Male begegnet. Am 2. März gratulierte er ihm mit persönlichen Erinnerungen zum 90. Geburtstag. 

„Es war eine Szene auf dem Berliner Flughafen Tegel. Durch Zufall erkannte ich in der Menschenmenge vor mir Michail Gorbatschow, der mit einer Delegation zu Gesprächen in der Bundeshauptstadt gelandet war. Er war schon lange nicht mehr Präsident der Sowjetunion, wurde aber sofort mit ‚Gorbi, Gorbi‘-Rufen begrüßt.“

Damit beginnen die Erinnerungen zum 90. Geburtstag Michail Gorbatschows –Friedensnobelpreisträger und früherer Staatspräsident der Sowjetunion, der entscheidend dazu beigetragen hat, den Kalten Krieg zu beenden und der deutschen Wiedervereinigung den Weg zu bereiten.

„Ein Freund, der mit Gorbatschow eng vertraut war, zog mich heran und stellte mich ihm mit den Worten vor: ‚Das ist einer von uns.‘ Daraufhin nahm Gorbatschow mich in den Arm und hat mich seitdem jedes Mal, wenn wir uns trafen, wie einen seiner besten Freunde begrüßt. Von diesem Mann ging stets eine Herzlichkeit aus, die einen immer wieder überraschte. Im persönlichen Umgang humorvoll, zuvorkommend, freundlich und doch in seinen politischen Auffassungen unnachgiebig.

Die Perestroika hatte gerade begonnen

Als ich 1986 als junger Reporter  für den Westdeutschen Rundfunk zum ersten Mal nach Moskau kam, war Michail Gorbatschow ein Jahr im Amt des Generalsekretärs der KPdSU. Die Perestroika hatte gerade begonnen. Für uns Journalisten war es die aufregendste Zeit überhaupt. Das ganze Land war im Umbruch, in Aufruhr. Gorbatschow hatte die Büchse der Pandora geöffnet. Alle wollten die neu gewonnene Freiheit austesten und träumten von einem besseren Leben.

Glasnost – die Offenheit erlaubte russischen Journalisten, über Dinge zu schreiben, die vorher tabu waren. Das erste privat geführte Restaurant in Moskau war eine Sensation. Der Begriff „Xozraschet“ – Selbstfinanzierung – erlaubte den Sowjetbürgern, wirtschaftlich aktiv zu werden. In den Kinos wurden Filme gezeigt, die die Zensur vorher nie zugelassen hätte. Theaterstücke, in denen die Nomenklatura, die herrschende Klasse, kritisiert wurde, durften aufgeführt werden. Als der erste McDonald-Schnellimbiss am Puschkin-Platz öffnete, standen Hunderte davor Schlange. Private Hotels und Läden öffneten. Die Versorgungssituation war katastrophal, in den Geschäften gab es kaum etwas, aber das Land spürte den Wind der Veränderung – „The wind of change“.

Abrüstung so weitreichend, wie nie zuvor

Auf der internationalen Bühne veränderte Michail Gorbatschow das Bild, das die Sowjetführer über Jahrzehnte geprägt hatten. Mit seiner sympathischen Frau Raissa eroberte er die Herzen nicht nur der Deutschen, sondern auch der Amerikaner und der Franzosen. Mit Ronald Reagan und später mit George Bush Senior schloss er die weitreichendsten Abrüstungsverträge überhaupt. Die Angst vor dem Atomkrieg verschwand. Gorbatschow 1989: „Was macht es für einen Sinn, wenn die Menschheit sich mehrfach  gegenseitig vernichten kann? Da gibt es weder Gewinner noch Verlierer.“

Für uns Korrespondenten war Gorbatschow kein einfacher Staatsmann. Die Details der Abrüstungsverträge waren kompliziert, die Definition der Raketensysteme  in der russischen Sprache anders als in der amerikanischen oder der deutschen. Gorbatschow war immer für eine Überraschung gut. Kaum hatte man sich in die Thematik der Mittelstreckenraketen eingearbeitet, ging es um Langstreckenraketen, START I, Start II, INF-Vertrag, KSE-Abkommen und so weiter Ein Abrüstungsvertrag folgte auf den nächsten. Der Warschauer Pakt zerfiel, die alten Feindbilder stimmten nicht mehr. Im gesamten Ostblock wurden die Karten neu gemischt.

Pressekonferenz nachts um zwei

Als es mit der Perestroika im eigenen Land nicht so recht voranging, brachte Gorbatschow den Begriff „Peredischka“ – Atempause – ins Spiel. Die Sowjetunion brauche eine Atempause. Das galt allerdings nicht für Korrespondenten. Pressekonferenzen gab Gorbatschow gerne nachts. Das Außenministerium rief an: Man solle doch bitte um 24 Uhr im Pressesaal erscheinen. Gegen 2 Uhr kam dann Gorbatschow, bestens gelaunt, und redete etwa zwei Stunden ohne Pause. Auch das war eine herausragende Eigenschaft des damaligen Generalsekretärs der KPdSU. Mit vielen Worten wenig sagen. Am Ende schrieben wir ein wenig ratlos: Die Perestroika geht weiter!

In der Realität aber stockte irgendwann alles, der Stern des Michail Gorbatschow sank. Die Leute bezeichneten ihn als „Apparatschik“. Er sei und bleibe ein Parteimensch, sonst nichts. Um zu überleben, verkauften die Menschen auf den Straßen ihre Wertsachen: Ikonen, das Familienbesteck, Schmuck oder Antiquitäten aus dem Wohnzimmer. Stundenlanges Warten vor leeren Geschäften – es gab keine Lebensmittel. Der Westen war mit Krediten zurückhaltend. Und in Russland wurde Gorbatschows Perestroika von verschiedensten Kräften boykottierte. Es gelang ihm nicht, den Umbau von einem zentral gelenkten System zur freien Marktwirtschaft durchzusetzen. Die Konservativen in der Kommunistischen Partei rebellierten, Gorbatschow musste taktieren, was ihm viele hinterher vorwarfen.

„Die wohl aufregendste Woche meine Lebens“

Als im August 1991 rechte Kräfte putschten, habe ich als Korrespondent für die ARD über die „Tage, die die Welt veränderten“, berichtet. Es war wohl die aufregendste Woche meines Lebens. Kein Schlaf, kaum Essen, Berichterstattung rund um die Uhr. Die Welt hielt den Atem an. Wir standen auf den Barrikaden, neben den Panzern, führten Interviews mit Soldaten, begeisterten uns für Boris Jelzin und für die Widerstandskraft der Menschen. Dann die berühmte Pressekonferenz der Putschisten. Ihre  Hände zitterten, sie hatten keinen Plan, keine Perspektive. Die Menschen wollten nicht zurück, in den Zwangskasten der ehemaligen Sowjetunion, hatten die Nase voll von Kommunismus, Sozialismus und Ideologie.

Am Montagmorgen, den 21. August, begann der Putsch – drei Tage später war er gescheitert. Gorbatschow war auf der Krim festgesetzt. Die Putschisten reisten ihm nach – entweder, um sich zu entschuldigen, oder um Rat zu holen. Er empfing sie nicht. Alles abgesprochen, ein Marionettentheater? Jedenfalls zogen die Panzer ab, die Soldaten gingen wieder in ihre Kasernen zurück.

Am Sonntagabend löste Michail Gorbatschow dann die Kommunistische Partei der Sowjetunion auf. Der Spuk war vorüber. Bis heute ist unklar, ob er die Ereignisse hat heraufziehen sehen. Hatte er gehofft, nach dem misslungenen Putsch als gestärkter Präsident zurückkehren zu können? Das Gegenteil war der Fall. Der neue starke Mann hieß Boris Jelzin, Michail Gorbatschow wurde zum Nachlassverwalter der UdSSR.

Ära Gorbatschow wirkt bis heute nach

Als dann am 31. Dezember 1991 die Fahne der Sowjetunion über dem Kreml aufhörte, zu wehen, endete die Ära Gorbatschow. Aber sie wirkt bis heute nach. Durch ihn hat die Welt erfahren, wozu Staatsmänner fähig sein können: Internationale Blockaden auflösen. Über ihren Schatten springen im Dienst des Friedens und im Sinne guter nachbarschaftlicher Beziehungen. Das, was Willy Brandt und Egon Bahr angestoßen hatten – nämlich eine neue Ostpolitik setzte der Mann aus dem Kaukasus ohne große Attitüden einfach um. Er veränderte die Welt zum Besseren.

Immer wieder wird Gorbatschow vorgeworfen, er habe die Sowjetunion mutwillig zerstört. Das ist falsch. Wer damals in die Ukraine, in die Baltischen Staaten, nach Armenien oder Georgien reiste, der spürte den Willen der Menschen, sich von der Herrschaft der Kommunistischen Partei zu lösen. Überall gab es Demonstrationen und Proteste gegen die KPdSU. Die Fliehkräfte waren so groß, dass es völlig unmöglich war für Gorbatschow, die Sowjetunion zusammenzuhalten. Diese Bewegungen gingen nicht von ihm aus, sondern von den einzelnen Völkern. Er hat lediglich den Anstoß gegeben. Sein Versuch, mit einem neuen Unionsvertrag das Imperium zu retten, scheiterte.

Fall der Mauer eine der historischen Leistungen

Dass er den Deutschen die Wiedervereinigung ermöglichte, ist ebenso eine seiner großen historischen Leistungen. Auch da hat Gorbatschow die Zeichen der Zeit erkannt und begriffen, dass es unmöglich war, eine Vereinigung mit Gewalt zu verhindern. So weigerte er sich, Truppen einzusetzen, um die Freiheitsbewegung in der damaligen DDR niederzuschlagen. Honecker und seine Genossen hätten sich das sicherlich gewünscht.

Als 1993 der Vertrag zwischen Russland und der Bundesrepublik über die Arbeit des Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge abgeschlossen wurde, war Gorbatschow schon Rentner. Der Präsident Russlands hieß Boris Jelzin. Aber ohne Gorbatschow wäre das Abkommen, das dem Volksbund seine Arbeit in Russland ermöglicht und garantiert, nicht denkbar gewesen. Immer auf Aussöhnung mit Deutschland bedacht, hat er mit seiner Politik den Boden dafür bereitet, dass dieses für den Volksbund so wichtige Abkommen zustande kam. 

Nach seinem Ausscheiden aus der Politik war Gorbatschow hin und wieder so etwas wie das Gewissen auf der internationalen Bühne. Seine wichtigste Forderung: zu seiner Politik der Abrüstung zurückkehren, den INF-Vertrag verlängern. Gegenüber Wladimir Putin war er vorsichtig. So kritisierte er nicht die Annexion der Krim, sondern bat den Westen um Verständnis für das Vorgehen des Kremls. In Radiointerviews verurteilte er auch schon mal die Entscheidungen der russischen Regierung, hielt sich jedoch aus der aktuellen Innenpolitik weitgehend heraus.

Proteste heute indirektes Erbe seiner Politik

Dass gerade jetzt auch so viele Jugendliche in Russland auf die Straße gehen, ist indirekt auch ein Erbe der Politik Gorbatschows. Er hat die Tore aufgestoßen, die Türen hin zu Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Pressefreiheit geöffnet. Sie wieder zu schließen, ist – trotz aller restriktiven Maßnahmen – auch im heutigen Russland auf lange Sicht so gut wie unmöglich."

Text: Hermann Krause