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Neue Sicht auf vergessene Opfergruppe

Ausstellung in Berlin-Karlshorst zeigt das Schicksal sowjetischer Kriegsgefangener 

Das großformatige Bild am Eingang ist dreigeteilt und unvollständig. Der Blick auf die Tafeln, die folgen, ist durch Metallstreben verstellt. Der Betrachter muss zusammenfügen und das ist gewollt bei der Wanderausstellung, die Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst eröffnete. Ihr Titel: „Dimensionen eines Verbrechens. Sowjetische Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg“. Der Volksbund ist Kooperationspartner.

Das Besondere: Erstmals nimmt eine Ausstellung die Gesamtheit dieser weitestgehend vergessenen Opfergruppe in den Blick. Sie will möglichst viele Perspektiven zeigen, zum differenzierten Betrachten einladen und einfache Antworten sowie Bewertungen vermeiden. Im Zentrum – auch räumlich – stehen Biographien. Der Blick auf die zwölf rostrot gefärbten Tafeln, in zwölf Gesichter, ist unverstellt.

Die Geschichte von Antonina Alexandrowna Nikiforowa aus Leningrad ist eine von ihnen. Die Militärärztin geriet 1941 in Gefangenschaft und überlebte Lager in Estland, Litauen und Polen. Wendet man sich von ihrem Porträt ab, fällt der Blick auf eine großformatige Europakarte. Sie zeigt Lagerorte und Opferzahlen im Überblick und macht so das unfassbare Ausmaß des Verbrechens sichtbar.
 

Wechselspiel der Perspektiven

Von bis zu 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen – eine der größten Opfergruppen außerhalb der Kampfhandlungen – kamen mehr als drei Millionen im deutschen Gewahrsam um. Zwei Drittel von ihnen starben in den besetzten Gebieten der Sowjetunion und in Polen. Es ist auch dieses Wechselspiel der Perspektive – zwischen der ungeheuren Dimension des Verbrechens und den stellvertretenden Schicksalen –, die diese Ausstellung besonders macht. Der dritte Schwerpunkt neben Biografien und Orten ist thematisch: Vor allem Fotos und Zitate füllen neun Begriffe von „Rechtsbruch“ über „Hungersterben“ und „Überleben“ bis hin zu „Kriegsende“ und „Rückkehr“ und schlagen den Bogen bis zur Gegenwart. Denn auch Erinnerung ist eins der Themen.
 

Von Widerstand bis Kooperation

Zu den sowjetischen Kriegsgefangenen gehören nicht nur die Ermordeten, sondern auch die, die Widerstand leisteten, die für die Deutschen arbeiten mussten oder kooperierten, betont Dr. Babette Quinkert, Projektleiterin und Kuratorin. Die Ärztin aus Leningrad gehörte zur Gruppe der KZ-Opfer. Als sie den zivilen Arbeitseinsatz verweigerte, ging ihre Leidensweg in Majdanek und Ravensbrück weiter. Die Auswahl der Biographien soll die Vielfalt innerhalb der Roten Armee zu zeigen – von nationaler und sozialer Herkunft bis hin zur Religionszugehörigkeit. 

Eine Medienstation machte die Recherche zu 25 Gedenkorten in acht Ländern möglich und lädt zur kritischen Auseinandersetzung mit historischen Fotografien ein. Neben ihr liegt eine Mappe mit Dokumenten von zentraler Bedeutung. „Der ‚Kommissarbefehl‘ dürfte der bekannteste sein“, sagt Museumsleiter Dr. Jörg Morré.

Für ihn ist die Ausstellung Teil eines Dialogs, der an jedem neuen Standort weitergeht. „Wir wollen ins Gespräch kommen“, sagt er – nicht zuletzt, weil es gelungen sei, aktuelle Diskussionen und Strömungen mit in den Blick zu nehmen.

Volksbund einer von vier Partnern

Der Volksbund ist einer von vier Kooperationspartnern des Museums und hat die Ausstellung finanziell und beratend unterstützt. Als Träger des deutsch-russischen Regierungsprojekts „Sowjetische und deutsche Kriegsgefangene und Internierte“, koordiniert von Dr. Heike Winkel, arbeitet er eng mit dem Museum und den übrigen Partnern der Ausstellung zusammen: dem Deutschen Historischen Institut in Moskau, der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg und der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten.

Heike Winkel verweist auf den aktuellen Forschungsstand, den die Ausstellung besonders gut wiedergebe. Positiv aus ihrer Sicht ist auch, dass Erinnerungskultur und ihre Entwicklung Thema sind.


Gute Zusammenarbeit für die Forschung

Das Schicksal sowjetischer Kriegsgefangener stand auch am 16. Juni in Moskau im Fokus, wo Experten – auf Einladung des Volksbundes und seiner Partner – im Rahmen des deutsch-russischen Regierungsprojekts online diskutierten. Das Thema: „Die Tragödie der Kriegsgefangenschaft“.
Auch da war von guter grenzüberschreitender Zusammenarbeit im Dienst der Forschung zu diesem Thema die Rede. Es bleibt zu hoffen, dass sich das auch in der Vorbereitung von Stationen der Ausstellung in Russland niederschlägt. 
 
Ausstellung und Katalog sind zweisprachig (deutsch/englisch). Die Installation draußen ist bis zum 3. Oktober im Park des Museums Karlshorst zu sehen. Der Eintritt ist frei. Ein Katalog auf Deutsch und Russisch liegt schon vor. Und das Spektrum der Sprachen soll noch breiter werden.

Und was ist aus Antonina Alexandrowna Nikiforowa geworden? Sie überlebte den Krieg und kehrte Ende 1945 zurück. In ihrer Heimatstadt durfte sie erst 1948 wieder wohnen. Bis zu ihrer Rente war sie Ärztin in einem Leningrader Krankenhaus.

Den Bericht zur Ausstellungseröffnung, bei der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier seine zentrale Gedenkrede zum Überfall auf die Sowjetunion vor 80 Jahren hielt, finden Sie hier.