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So kurz vor dem Ziel

Ein Erlebnisbericht

Erschöpfung und Verzweiflung zeichnen das Gesicht der jungen Frau. Ihre Kraft ist zu Ende. Weinen kann sie schon lange nicht mehr. Sie und ihre drei Kinder sitzen am Straßenrand in Berlin, in Britz, wo die Stadt beginnt. Die Häuser sind niedrig; kleine Gärten, Ruhe und Frühsommersonne täuschen Idylle vor. Aber die gibt es nicht im Frühling 1945. Es gibt nur die Parole der Militärs: wer nach 18 Uhr auf der Straße ist, wird ohne Anruf erschossen.

Es ist 18 Uhr. Es gibt nichts zu tun für die junge Frau und ihre Kinder. Sie können nur auf das Unvermeidliche warten. Wer jetzt nicht in einer Wohnung ist, wird erschossen. Das ist unumstößlich wie die Uhrzeit.

Sie weiß das. Und die beiden Mädchen, 6 und 8 Jahre alt, wissen es auch.

Viele hundert Kilometer haben die vier hinter sich, mit der Eisenbahn, zu Fuß, oft auf den Dächern überfüllter Güterzüge. Wer im Waggon Platz gefunden hatte, war gut dran, die Menschen auf den Dächern jedoch waren von der ständigen Angst gequält, hinunterzufallen oder in den Tunnels am beißenden Qualm aus dem Lokomotiven-Schornstein zu ersticken. Seit Wochen sind sie auf den Beinen. Nur der kleine Junge hat es gut, er ist erst drei Jahre alt und wird geschoben. Bis heute Morgen, da brach eine Achse des Kinderwagens, so, als ahnte er das Ende der Flucht. Morgen wären sie angekommen bei der Mutter der Frau. Aber heute ist heute, und es ist 18 Uhr.

Die Frau ist zu verzweifelt, um einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn, nach einem Ausweg zu suchen. Sie sitzt einfach nur da. Auch die Kinder schweigen; die monatelange Flucht hat den beiden Mädchen die Sinne für Gefahr geschärft. Der Junge in dem achsbruchschiefen Kinderwagen weiß noch nichts, aber auch er ist still.

Wann hatten sie die letzte warme Mahlzeit, wann ein Bett? Was SPIELEN bedeutet oder LACHEN ist ihnen längst verlorengegangen. Hunger, Kälte und Angst, das ist seit Monaten ihre Welt.

Abgerissen, schmutzig und mager sehen die vier aus. Als sie fliehen mussten, war strenger Winter. Wer gab ihnen Kleidung? Nahrung? Brot bekamen sie von Soldaten - erst von deutschen, später von russischen. Der Mensch kennt Erbarmen, nur die Maschinerie nicht. Krieg ist tödliche Maschinerie. Sie hat auch den Mann und Vater verschlungen, seit mehr als zwei Jahren weiß die Frau nichts über sein Schicksal.

Wie hat sie sich und ihre Kinder bis hierher gebracht? Von Osten her in einer erzwungenen Völkerwanderung mit hunderttausenden ebenso verzweifelten Gestalten über verbrannte Erde und durch zerschossene Städte. Wenige alte Männer, fast ausschließlich Frauen und Kinder, alle mit dem gleichen Ziel: nach Westen, nach Westen. Nun hat sie Berlin erreicht, ihre alte Heimat, aber es nützt ihr nichts, denn sie hat die letzten Kilometer nicht mehr geschafft. Morgen würde sie bei ihrer Mutter ankommen. Aber heute ist heute und es ist 18 Uhr.

Die Straße ist gespenstisch still. Außer der jungen Frau mit den drei Kindern ist niemand zu sehen. Stumm sitzt die kleine Gruppe am Straßenrand, die Füße im Rinnstein, vor sich den Kinderwagen. Es ist warm, wenigstens das.

Da wird zwei Häuser weiter ein Fenster geöffnet. Eine Frau ruft laut hallo, hallo, hängt sich aus dem Fenster, rudert mit den Armen. Kommt, schreit sie. Ungläubig steht die Mutter auf. Wer läßt Leute wie sie in Zeiten wie diese in seine Wohnung?

"Sie können bei uns übernachten" ruft die Frau.

Die Mädchen springen auf, greifen den Kinderwagen an den Seiten, tragen, ziehen und schleifen ihn auf das Haus zu. Die Mutter läuft hinterher. Sie weint, dass es sie schüttelt.

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