Letzte Hoffnung: mit einem Schiff über die Ostsee. Flüchtlinge und Soldaten in Swinemünde (© Volksbund-Archiv / Sammlung G. Kneter)
Vor 80 Jahren: Als die Ostsee zum Massengrab wurde
#volksbundhistory erinnert an die größten Schiffskatastrophen am Ende des Zweiten Weltkrieges
In diesem Frühjahr jähren sich die größten Katastrophen der Schifffahrtsgeschichte zum 80. Mal. Die „Steuben“, die „Goya“ und auch die „Wilhelm Gustloff“ – versenkt am 30. Januar – halten in vielen Statistiken zu Schiffsuntergängen traurige Rekorde. Anfang 1945 wurden diese Schiffe im Rahmen einer bis dato nie dagewesenen Massenevakuierung von deutschen Soldaten und Zivilisten in der Ostsee eingesetzt.
Die Wracks sind ̶ unabhängig von ihrer Lage ̶ auch weiterhin deutsches Eigentum und nach internationalem Recht geschützte Seekriegsgräber. Doch was genau verbirgt sich hinter diesem Begriff und wie arbeitet der Volksbund mit Blick auf die deutschen Toten, die am Meeresgrund ihre letzte Ruhestätte fanden?

Unter dem Hashtag #volksbundhistory berichten wir von historischen Ereignissen und liefern Hintergrundinformationen. Unser Autor heute: Dr. Christian Lübcke. Der Militärhistoriker ist Geschäftsführer des Landesverbandes Hamburg und Beauftragter für Seekriegsgräberangelegenheiten.
Erfassung von Seekriegsgräbern
In diesem Beitrag berichte ich über meine Arbeit als Beauftragter für die Deutschen Seekriegsgräber. Vor vier Jahren habe ich dieses Aufgabenfeld übernommen. Ich erfasse deutsche Seekriegsgräber und -tote weltweit und bemühe mich in Zusammenarbeit mit nationalen und internationalen Behörden um einen besseren Schutz dieser Ruhestätten.
Ich arbeite Schicksale auf und versuche damit, einen Beitrag zur erinnerungskulturellen Arbeit rund um die Kriegstoten auf See zu leisten. Das ist keine einfache Aufgabe. In vielen Fällen gibt es auch heute noch keine genauen Angaben zum Standort, fehlen Besatzungs- oder Verlustlisten. Manches Schiff ist bis heute spurlos verschwunden.
Seekriegstote im Ersten Weltkrieg
Wie nähert man sich dem Schicksal so vieler Menschen an? Als Militärhistoriker komme ich da sehr rasch an meine Grenzen, denn die deutschen Verluste des Zweiten Weltkrieges auf See sind mit nichts vergleichbar, was es vorher gab.
Ein Beispiel: Für die viereinhalb Jahre des Ersten Weltkrieges können heute rund 15.000 deutsche Seekriegstote nachgewiesen werden. Das heißt, diese Seeleute starben auf See, ihre Gebeine konnten hinterher nicht geborgen werden. Diese 15.000 Toten verteilen sich – vom großen Panzerkreuzer bis zum kleinen Vorpostenboot – auf mehr als 300 deutsche Seekriegsgräber.
Drei Schiffe: über 20.000 Tote
Nehme ich dagegen die Verluste der „Wilhelm Gustloff“ (versenkt am 30. Januar 1945), der „Steuben“ (versenkt am 10. Februar 1945) und der „Goya“ (versenkt am 16. April 1945), komme ich bereits auf über 20.000 Seekriegstote.
Drei einzelne Schiffe im Zweiten Weltkrieg haben also mehr Menschen in die Tiefe gerissen, als während des gesamten Ersten Weltkrieges auf See umkamen. Wie lassen sich solche Zahlen erfassen und begreifen? Wie kann man überhaupt begreifen, dass eine Menschenmenge – so groß wie die komplette Bevölkerung einer Kleinstadt – nur durch einen einzelnen Torpedo oder eine Fliegerbombe ausgelöscht wurde?
Jeder Mensch – ein Schicksal


Statistiken sind nüchternes Zahlenwerk, doch die Schicksale, die sich hinter diesen Zahlen verbergen, sind etwas ganz anderes. Das gilt auch – oder gerade – für die Toten auf See, denn „Seekriegstoter“ ist ein vielfach belegter Begriff.
Es sind nicht nur Angehörige der Kriegs- oder der Handelsmarine, die unter diesen Begriff fallen. Es sind auch Kriegsgefangene, verwundete Luftwaffen- oder Heeresangehörige oder eben auch viele tausende zivile Flüchtlinge, die auf dem Grund des Meeres ihre letzte Ruhestätte gefunden haben.
Luftangriffe
Unter den Seekriegstoten sind auch KZ-Häftlinge, die am 3. Mai 1945 in der Lübecker Bucht umkamen. Aber: Die „Cap Arcona“, die „Thielbek“ oder die „Deutschland“, bei deren Untergang sie starben, sind keine Seekriegsgräber. Sie wurden später gehoben oder an Ort und Stelle zerlegt. Die Gebeine vieler KZ-Häftlinge jedoch liegen noch heute auf dem Meeresboden.
Genau an dem Tag, an dem die Briten Hamburg besetzten und neben dem Konzentrationslager Neuengamme hunderte weitere Arbeitslager auf Hamburger Boden befreiten, starben nicht weit entfernt noch einmal tausende KZ-Häftlinge – dieses Mal auf See. Sie starben im Feuer der angreifenden britischen Flugzeuge, die bei ihrem Luftangriff über 20 deutsche Schiffe und Boote versenkten. Sie ertranken aufgrund von Entkräftung, da sie nach ihrem Sprung ins Wasser nicht mehr zum Ufer schwimmen konnten. Sie starben aber auch im Feuer deutscher Bewacher, die sogar noch auf die Schiffbrüchigen im Wasser schossen. Etwa 8.000 Menschen kamen im Zuge dieses Luftangriffes auf See um.
Frauen und Kinder auf der Flucht


Noch weit mehr zivile Flüchtige starben in den vier Monaten vorher auf See – es sind mehr zivile deutsche Seekriegstote als bei allen anderen kriegsführenden Parteien auf dem europäischen Kriegsschauplatz zusammen. Mehrheitlich waren es Frauen und Kinder, denn: Der Masse der deutschen Männer war im Winter 1944/45 die Flucht aus Ost- und Westpreußen über die See verboten – ihnen drohte dort in den Häfen der Einzug zum Volkssturm.
Wenn Verlustlisten vorliegen, so finden sich viele Einträge mit dem Hinweis „Kind“ und die Mehrheit der Namen sind Frauennamen. Solche Informationen unreflektiert zu übernehmen, ist kaum möglich. Hinzu kommen dann noch die zahlreichen Berichte von Augenzeugen und Überlebenden dieser Untergänge.
Geburten
Ich selbst bin Vater zweier kleiner Kinder. Wenn ich lese, dass bei der Versenkung eines Schiffes aus Hamburg im Frühjahr 1945 innerhalb von nur drei Minuten über 900 Menschen untergingen – vor allem Frauen und Kinder –, dass Menschen in untergehenden, in Flammen stehenden Schiffen bei lebendigem Leib verbrannten, kann ich Recherchen zu Besatzungs- und Passagierschicksalen manchmal nur etappenweise fortsetzen.
An Bord der „Wilhelm Gustloff“ befanden sich auf ihrer letzten Fahrt mehr als 2.500 Militärangehörige und über 8.000 Flüchtlinge, unter ihnen sehr viele Kinder. Mehrere wurden sogar auf See geboren. Als in der Nacht des 30. Januars die drei sowjetischen Torpedos das Schiff trafen, betrug die Außentemperatur -20 Grad Celsius. Je nach Quelle starben bei dem Untergang zwischen 7.500 und 9.300 Menschen.
Festgeschnallt auf Krankenbetten
Auch an Bord des Verwundeten-Transportschiffes „Steuben“ erblickten in der letzten Nacht noch zwei Kinder das Licht der Welt. Als die Torpedos ihr Ziel fanden, wurden gerade mehrere Notoperationen durchgeführt. Die „Steuben“ sank am 10. Februar innerhalb von weniger als 30 Minuten. Viele der Verwundeten lagen da noch (wegen des Seegangs) festgeschnallt auf ihren Krankenbetten. Mehr als 3.600 Menschen starben.
Die hohen Opferzahlen der „Titanic“, wohl die berühmteste Schiffskatastrophe in der Neuzeit, verblassen angesichts des tausendfachen Sterbens auf der Ostsee vor 80 Jahren. Im Falle der „Goya“ kommt noch dazu, dass es sich hier nicht ̶ wie im Falle der anderen beiden Schiffe ̶ um ehemalige Kreuzfahrtschiffe, sondern um einen einfachen Erzfrachter handelte.
Im Frachtraum zusammengepfercht
Unter kaum vorstellbaren Bedingungen waren dort über 7.000 Menschen im Frachtraum zusammengepfercht – und dennoch heilfroh, den Kämpfen in Ostpreußen entkommen zu sein. Als das Schiff am 16. April versenkt wurde, überlebten nur 176 von ihnen. Nach einem illegalen Tauchgang vor einigen Jahren hieß es später, der Frachtraum habe ausgesehen, als hätte die Goya „nur Knochen und Kinderwagen“ transportiert.
Kurzfristige Massenevakuierung
Insgesamt wurden allein auf der Ostsee in den letzten Kriegsmonaten hunderte Schiffe und Boote versenkt. Das großangelegte Evakuierungsprogramm der Kriegsmarine ermöglichte zwar Hunderttausenden die Flucht in den Westen, doch Tausende kamen dabei ums Leben. Es sind Beispiele für eine deutsche Hybris, für eine viel zu spät und viel zu kurzsichtig initiierte Massenevakuierung.
Eine Massenevakuierung im tiefsten Winter, ohne ausreichend Begleitschutz und mit nur wenig wirklich geeigneten Schiffen. Eine Massenevakuierung, bei der man (zum wiederholten Male in der Geschichte des Zweiten Weltkrieges) die Möglichkeiten des militärischen Gegners stark unterschätzte. Allein in den letzten vier Kriegsmonaten des Jahres 1945 kamen auf der deutschen Seite mehr Menschen auf See um als in den Jahren 1939 bis 1943 zusammen.
Unsichtbare, bedrohte Gräber

Inzwischen verblasst die Erinnerung an die Toten der Weltkriege. Im Falle der Toten auf See verblasst sie viel schneller als im Fall der an Land Bestatteten. Während an Land mitunter riesige Kriegsgräberstätten einen Eindruck von den Verlusten an Leben geben, sind die Kriegsgräber auf dem Meeresboden unsichtbar. So mühselig Recherchen zu ihnen sind, so dringend notwendig sind sie inzwischen geworden.
Deutsche Seekriegsgräber werden seit Jahren massiv geplündert. Immer häufiger stören Schatzsucher, Hobbyforscher und Souvenirjäger die Totenruhe auf dem Meeresboden. Zugleich wächst das Interesse an Tauchsafaris und -dokumentationen. Wenn ich im Internet Bilder von Tauchern in Wracks sehe, von denen ich genau weiß, dass sie Ruhestätte zahlreicher Toter sind, wühlen mich diese Bilder auf – und motivieren mich zugleich, mich für einen besseren Schutz dieser Wracks einzusetzen.
Immer noch neue Wrackfunde
Die meisten Taucher halten sich an Recht und Gesetz, doch je mehr Zeit vergeht, desto dreister werden einzelne Unternehmungen. Gemeinsam mit Bundesbehörden und küstennahen Landesarchäologieämtern versucht der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, dieses Unwesen einzudämmen – verhindern kann er es nicht.
Das Erfassen von Seekriegsgräbern ist ein wichtiger erster Schritt zum Schutz dieser Ruhestätten. Jedes Jahr kommen neue Wracks dazu, werden neue Schiffe auf dem Meeresboden identifiziert. Der Bau von Windkraftanlagen, die Verlegung von Unterwasserkabeln – es gibt viele Gründe, weshalb gerade in Küstengebieten der Meeresboden aktuell gründlich untersucht wird. Dadurch steigt auch die Zahl der Wrackfunde.
Volksbund rekonstruiert Ereignisse

Inzwischen hat der Volksbund bereits eine gute erste Übersicht zur Anzahl der Seekriegsgräber weltweit. Es gibt kein Meer, auf dem nicht auch ein deutsches Schiff versenkt wurde. Selbst in verschiedenen Seen in Afrika finden sich Wracks mit deutschen Toten – Relikte aus der Kolonialzeit. Im Verein mit internationalen Behörden lässt sich der Zugang zu diesen Wracks einschränken.
Derweil rekonstruieren in Hamburg Volksbund-Mitarbeiter und -Ehrenamtler all die kleinen und großen Katastrophen auf See. Es ist eine komplizierte Aufgabe, denn nicht jedes Schiff, das im Weltkrieg versenkt wurde, ist ein Seekriegsgrab und nicht jede Person, die beim Untergang starb, ist ein Seekriegstoter.
Familien aus ganz Deutschland betroffen
In jedem einzigen Fall muss geprüft werden, was damals geschah. Kamen Menschen bei einem Unfall mit einer Seemine oder bei einem Gefecht auf See um? Welche Nationalität hatten sie? Konnten ihre Gebeine anschließend geborgen werden oder wurden sie an Land gespült? Wurde das Schiff geborgen? Und was geschah mit den Gebeinen an Bord? Fragen über Fragen…
Deutschland ist keine klassische Seefahrernation und hat sicherlich nicht eine so stark ausgeprägte maritimen Erinnerungskultur wie beispielsweise Großbritannien oder die Niederlande. Und doch gibt es überall in Deutschland auch heute noch Familien mit einem historischen Bezug zur Seefahrt. Denn: Die Angehörigen der deutschen Marinen rekrutierten sich in beiden Weltkriegen aus dem kompletten Reichsgebiet.
Ebenso haben sich Familien mit Fluchterfahrung aus Ostpreußen, Westpreußen oder Pommern hinterher überall in Deutschland niedergelassen. Es gibt also viele Menschen mit einem unmittelbaren Bezug zu den Seekriegstoten. Für diese Familien, das Andenken an die Toten auf See und für den Schutz der deutschen Seekriegsgräber insgesamt werden wir die Aufarbeitung weiter fortführen und alles tun, um den Schutz dieser Grabstätten auf dem Meeresboden zu gewährleisten.
Text: Dr. Christian Lübcke
Kontakt
Christian Lübcke kommt auch in einem Artikel des Hamburger Abendblatts vom 30. Januar 2025 zu Wort: „‚Gustloff’ vor 80 Jahren versenkt – Tausende Flüchtlinge starben”.
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… Sie über eine Tagung zum Thema: Seekriegsgräber – faszinierend, gefährdet, geplündert.
Internationales Gedenken auf See vor der Küste Belgiens beschreibt dieser Artikel: U-Boot-Wracks vor Zeebrugge: Ein Kranz für den Ururgroßonkel.
#volksbundhistory
Ob der Beginn einer Schlacht, ein Bombenangriff, ein Schiffsuntergang, ein Friedensschluss – mit dem Format #volksbundhistory möchte der Volksbund die Erinnerung an historische Ereignisse anschaulich vermitteln und dabei fachliche Expertise nutzen. Der Bezug zu Kriegsgräberstätten und zur Volksbund-Arbeit spielt dabei eine wichtige Rolle.
Die Beiträge werden sowohl von Historikern aus den eigenen Reihen als auch von Gastautoren stammen. Neben Jahres- und Gedenktagen sollen auch historische Persönlichkeiten und Kriegsbiographien vorgestellt werden. Darüber hinaus können Briefe, Dokumente oder Gegenstände aus dem Archiv ebenfalls Thema sein – jeweils eingebettet in den historischen Kontext.
Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge ist ein gemeinnütziger Verein, der seine Arbeit überwiegend aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden finanziert.
