Am Fundort: Die Umbetter arbeiten behutsam, um die Gebeine nicht zu beschädigen. (© Diane Tempel-Bornett)
Werden wir ihn finden? – Die vermissten Toten der Narvaschlacht
Volksbund sucht nach gefallenen Soldaten in Estland – Bild-Zeitung begleitet Arbeit
In einem Waldstück bei Narva, nahe dem Ostseestrand, passiert etwas Ungewöhnliches. Es riecht nach Lagerfeuer, ein Bagger rumpelt durch das Gelände, eine Motorsäge kreischt. Rund 20 Männer in Tarn- und Arbeitskleidung stapfen durch den Wald, graben Löcher, fällen Bäume und durchkämmen das Gelände mit Metallsuchgeräten. Sie sind auf der Suche nach gefallenen Soldaten des Zweiten Weltkrieges, die in der Narvaschlacht um Leben gekommen sind.
Einer von ihnen ist Patrick Leidig. Im Hauptberuf ist der 37-Jährige Feuerwehrmann in Marl. Doch wann immer es möglich ist, reist er nach Estland – seit 13 Jahren. Der freiwillige Umbetter hat eine Passion: Er will die in Estland gefallenen Soldaten bergen und bestatten.
Kriegserlebnisse des Großvaters
Das hat auch familiäre Gründe. Sein Großvater hat in Estland gekämpft. Er war Teil der Heeresgruppe Nord und kam dort auch Kriegsgefangenschaft. Leidig erzählt: „Mein Opa sagte immer: ‘Wir hatten keine andere Wahl, eine andere Option gab es nicht. Doch die Erlebnisse, der Anblick des Krieges, das kann man nicht vergessen.’“
In Estland wurde lange und erbittert gekämpft. Leidig rechnet noch mit vielen weiteren Grablagen. Diese hat er anhand von Luftbildern aus Kriegszeiten lokalisiert. Die Aufnahmen liegen in amerikanischen Archiven. Ein Zeitzeuge vor Ort bestätigte die Grablage. Die deutschen Freiwilligen werden von der estnischen Suchgruppe „Kamerad“ um Pawel Stimmer unterstützt. Stimmer, studierter Psychologe, sucht und birgt seit 15 Jahren gefallene Soldaten in Estland.
Werden die Toten noch vermisst?
Der Volksbund will die Toten bergen, identifizieren und ihnen ein würdiges Grab geben. Doch gibt es auch noch Familien, die sie vermissen? Das können die Mitarbeiterinnen der Angehörigenbetreuung beantworten. Für diesen Bereich, Narva-Jõesuu – der historische deutscher Name war Hungerburg – liegen dem Volksbund einige Verlustmeldungen vor. Die Angehörigen werden angeschrieben und darüber informiert, dass der Volksbund nach den Gefallenen sucht.
Dieses Vorgehen ist eine Ausnahme. Üblicherweise werden nach der Exhumierung Gebeine und Beifunde sorgfältig dokumentiert und dann beginnt der lange Weg durch die Akten. Viele Schritte werden mit dem Bundesarchiv in Berlin abgestimmt. Es dauert Monate, manchmal Jahre, bis ein Toter zweifelsfrei identifiziert werden kann.
Was geschah in Estland?
Am 23. August 1939 unterzeichneten Deutschland und die Sowjetunion einen Nichtangriffsvertrag samt geheimem Zusatzprotokoll, den sogenannten „Hitler-Stalin-Pakt“. Der bilaterale Vertrag hatte schwerwiegende Folgen. Er gab den Weg für den deutschen Angriff auf Polen, der den Beginn des Zweiten Weltkriegs markierte, frei. Für die baltischen Staaten und die Länder Ostmitteleuropas begann jahrzehntelange Unfreiheit.
Am 14. Juni 1940 besetzte die Rote Armee Estland, trotz eines Paktes über gegenseitige Hilfestellung. Drei Tage später verlor Estland seine Unabhängigkeit. Ab Juni 1941 herrschte stalinistischer Terror – 10.000 Esten wurden nach Sibirien deportiert. Viele Esten flohen in die Wälder, sie nannten sich „Waldbrüder“. Die im August 1941 einmarschierende Wehrmacht begrüßten viele Esten als Befreier, sie hofften auf staatliche Souveränität. Doch die estnische Selbstverwaltung wurde dem „Reichskommissariat Ostland“ unterstellt.
Freiwillige auf Seiten der Deutschen
Viele „Waldbrüder“ unterstützten die Wehrmacht im Kampf gegen die Rote Armee und schlossen sich der Waffen-SS an. Die 20. Waffen-Grenadierdivision der Waffen-SS (estnische Nr.1) bestand mehrheitlich aus estnischen Freiwilligen. Im Februar 1942 kämpften knapp 21.000 Esten auf Seiten der Deutschen.
Etliche „Waldbrüder“ kämpften aber auch auf Seiten der Roten Armee. Estland war das erste Land, das auf der Wannseekonferenz im Januar 1942 als „judenfrei“ erklärt wurde. Das lag auch daran, dass einem Großteil der jüdischen Bevölkerung die Flucht nach Finnland und in die Sowjetunion gelang. Doch bis Ende 1941 erschossen Angehörige der Einsatzgruppe A und estnische Helfer die etwa Tausend verbliebenen Juden.
Die Rote Armee in Narva
Im Frühjahr 1944 eroberte die Rote Armee nach langen Kämpfen und erbittertem Widerstand Narva. Ein großer Teil der Bevölkerung floh westwärts über Land oder die Ostsee. In der ersten Oktoberhälfte 1944 zogen sich die Wehrmachtstruppen aus Estland zurück.
Zwischen 1940 und 1944 verließen zwischen 70.000 und 75.000 Esten das Land. Estnische Diasporagemeinden gibt es auf der ganzen Welt.
Schauplatz Wald
Der Ausbettungsort liegt mitten im Wald. Um die Gräber zu erreichen, müssen einige Bäume gefällt werden. Sie sind deutlich jünger als 80 Jahre, auch das ist ein wichtiger Hinweis auf eine Grablage. Die Umbettungsteams kommen aus Estland und aus Deutschland. Fast alle sind Freiwillige. Die Männer sprechen Deutsch, Estnisch und Russisch, einige auch Englisch.
Die Gräber liegen in verschiedenen Tiefen; einige sind keinen halben Meter tief, andere fast zwei. Um zwei Tote auszubetten, die in einer Grube von rund 1,80 Meter Tiefe liegen, zimmern die Männer schnell aus Birkenstämmen und Stricken eine Leiter zusammen.
Befreit von Erde und Schlamm
Die Toten liegen in Reihen. Die Umbetter finden Stoffreste, Knöpfe, Erkennungsmarken, Soldbücher, einen Kupferring, Münzen. Einige Uniformknöpfe weisen auf Marineangehörige hin. Die Gebeine der Toten werden sorgfältig von Erde und Schlamm freigelegt, Wurzeln werden gekappt.
Die Beifunde werden in kleine Tüten gepackt. Sie gehören zu den Puzzlesteinen, mit denen der Volksbund versucht, den Menschen und seine Biografie zu rekonstruieren.
Ein besonderer Fund
Einer der Männer winkt die anderen heran, dann öffnet er seine Faust: Darin liegt ein winziges weißes Püppchen. Alle schweigen. Vermutlich haben sie das gleiche Bild im Kopf: Ein kleines Mädchen steckt seinem Vater das Püppchen in die Jackentasche der Uniform, vielleicht als Glücksbringer, vielleicht als Andenken. Es ist wie ein Blick in ein Familienalbum, in die Vergangenheit. Der Tote war Vater, Onkel, vielleicht großer Bruder. Wie fast alle, die hier liegen.
Die Umbetter finden Holzreste, Hinweise darauf, dass einige der Soldaten in Holzsärgen bestattet wurden. Die Arbeit ist mühseliger als gedacht, sie dauert länger als geplant. Die Erde ist schwer, der Boden ist durch die Bäume stark verwurzelt. In einer Woche bergen die Männer 60 Gefallene. Sie hatten rund 400 erwartet. Doch in der direkten Umgebung sind noch zahlreiche Grablagen verzeichnet, die exhumiert werden sollen.
Näher an St. Petersburg als an Tallinn
Die Arbeit stößt auf großes Interesse. Das estnische Fernsehen berichtet abends zur besten Sendezeit, ebenso der Hörfunk und die Zeitungen der Stadt. Die Resonanz ist positiv, die Umbetter werden für ihre sorgfältige Arbeit gelobt.
Narva hat rund 53.300 Einwohner der überwiegende Teil ist russischsprachig. Der Fluss Narva bildet die Grenze. Auf der Seite Estlands weht die europäische Fahne – am anderen Ufer die russische. Auf dem Fluss fahren kleine Fischerboote, dazwischen die Küstenwache, die die Bootsfahrer immer auf die Grenze hinweist.
Teilweise kommt es auch zu skurrilen Szenen, wie ein Journalist erzählt. Manchmal verschwinden nachts die Grenzbojen auf dem Fluss, manchmal werden Angelschnüre gekappt - mit dem Hinweis, dass es sich um russische, beziehungsweise estnische Fische handelt, die hier verbotenerweise geangelt würden. Stimmt – die Fische haben kein Visum erhalten, frotzeln dann die anderen.
Wer kann, zieht weg
Wie leben die Menschen in dieser Situation? Die, die mit Tourismus ihr Geld verdienen, finden sie schwierig, denn die Touristenzahlen an der Ostseestadt sind seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine stark zurückgegangen. Wer kann, zieht weg.
Für Unmut und Unverständnis bei der russischsprachigen Bevölkerung sorgte die Forderung der estnischen Regierung, dass alle Esten, auch die russischsprachigen, Estnisch lernen sollten.
Russischsprachige Minderheit
Die Sprache aus der finno-ugrischen Sprachfamilie ist sehr schwer zu erlernen. Viele Angehörige der russischsprachigen Minderheit sehen auch keinen Anlass dazu. Sie sprechen am Arbeitsplatz, auch mit ihren Freunden und der Familie Russisch. In Narva wird vorwiegend Russisch gesprochen.
Wie sieht die russischsprachige Minderheit die politische Situation in Narva? Ein estnischer Journalist meint dazu: „Ich schätze mal, ein Drittel würde sich freuen, wenn Onkel Putin kommt, ein weiteres Drittel möchte europäisch bleiben und das dritte Drittel würde sich den Umständen anpassen.“
Hoffnung auf eine Heimkehr
Wieder ein Ortswechsel: Greifswald. Einer der gefallenen Soldaten, die der Volksbund in Narva sucht, ist Otto Bunk. Seine Schwiegertochter, Monika Bunk, hat sich beim Volksbund gemeldet und zum Gespräch eingeladen. Ihr Sohn Andreas, der Enkel von Otto Bunk, ist an ihrer Seite. Ihr Mann Hartmut, der Sohn von Otto, lebt leider nicht mehr.
„Ich war sehr berührt, als ich Ihren Brief gelesen habe und dass der Volksbund ihn sucht. Auch wenn wir ihn persönlich nicht kennengelernt, war er immer ein Teil der Familie. Mein Mann Hartmut konnte sich leider nicht mehr an ihn erinnern, er war noch zu klein. Aber sein größerer Bruder Siegfried, geboren 1938, hatte noch Erinnerungen an ihn“, erklärt Monika Bunk.
Opa Otto und Oma Clara
Auch Andreas, der Enkel, kennt Bilder und Geschichten von Opa Otto und Oma Clara. Clara war eine richtige Großstädterin, selbstbewusst und hübsch. Sie hatte Otto beim Tanzen in Berlin kennengelernt. Als sie dann zu ihm in seine Heimat Greifswald gegangen ist, war sie wohl über die nordostdeutsche Provinz entsetzt.
Dazu kam, dass Otto als Flugzeugmechaniker in Norderney stationiert und selten zuhause war. Sie lebte mit ihren kleinen Söhnen in Greifswald. Dann kam die Nachricht: Otto Bunk war bei einem Testflug 1943 mit einer Heinkelmaschine abgestürzt. Mit ihm starben weitere vier Besatzungsmitglieder. Die junge Witwe erhielt Fotos des ehrenvollen Begräbnisses.
Immer in der Familie präsent
„Die Todesnachricht war für sie eine Katastrophe. Er war ihre große Liebe. Aber auch wirtschaftlich war es schlimm. Clara musste arbeiten gehen und die kleinen Jungen in ein Kinderheim geben“, erzählt Monika Bunk. Die Oma nahm die Enkel zu sich und bestärkte auch Clara, wieder zu heiraten. Über Otto wurde in der Familie viel erzählt. Er war in der Familie präsent als großer, flotter, gutaussehender Mann, ein guter Tänzer, handwerklich begabt.
„Mein Mann hat immer darunter gelitten, dass es kein Grab gab, das er besuchen konnte oder auch nicht dahin reisen konnte, wo er womöglich gestorben ist“, sagt die Schwiegertochter „Wenn er jetzt noch gefunden und identifiziert werden kann…“, hofft sie „…dann holen wir ihn nach Hause!“ ergänzt Andreas. „Auch wenn wir kein Familiengrab haben, würden wir ihn gerne nach Greifswald holen. Es gibt hier eine kleine Kriegsgräberstätte. Es wäre schön, wenn er dort seine letzte Ruhe finden könnte – nach über 80 Jahren.“
Der Volksbund wird die Suche in Narva-Jösuu im nächsten Frühjahr fortsetzen.
Zur Bild-Reportage
Die Bild-Zeitung begleitete die Arbeit der Umbetter.
Sehen Sie hier die Reportage.
Der Volksbund ist ...
… ein gemeinnütziger Verein, der im Auftrag der Bundesregierung Kriegstote im Ausland sucht, birgt und würdig bestattet. Mehr als 10.000 waren es im vergangenen Jahr. Der Volksbund pflegt ihre Gräber in 45 Ländern und betreut Angehörige. Mit seinen Jugend- und Bildungsangeboten erreicht er jährlich rund 38.000 junge Menschen. Für seine Arbeit ist er dringend auf Mitgliedsbeiträge und Spenden angewiesen.
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