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Erinnerung an zwei mutige Frauen

Stolpersteine in Berlin-Spandau für die Schwestern Gertrud und Antonie Hanna verlegt

Am 8. Oktober 2021 erfuhr Gertrud Hanna, Mitglied des Volksbund-Verwaltungsrates, Gewerkschafterin und frühe Kämpferin für Frauenrechte, gemeinsam mit ihrer Schwester eine späte Würdigung: Zwei neue Stolpersteine wurden in Berlin verlegt.

In der Nacht zum 26. Februar 1944 begingen die Schwestern Marie Helene Gertrud Hanna und Emma Gertrud Antonie Hanna Selbstmord. Ihrer wirtschaftlichen Lebensgrundlagen und ihres Lebensinhaltes beraubt, zermürbt von den Bespitzelungen der Gestapo und den Drangsalierungen des nationalsozialistischen Regimes, hatten die Schwestern im Freitod den einzigen Ausweg gesehen. 77 Jahre später verlegten der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und die Jugendgeschichtswerkstatt Spandau mit inhaltlicher Unterstützung der Bertolt-Brecht-Oberschule die Stolpersteine an ihrem letzten Wohnort: im  Lüdenscheider Weg 6c in Spandau.

Zu dem Gedenken an die beiden Frauen versammelten sich mehr als 100 Menschen, unter ihnen auch Vertreterinnen und Vertreter aus Gewerkschaften und Politik und interessierte Nachbarschaft. Alina Zakirova von der Bertolt-Brecht-Oberschule sorgte für die musikalische Begleitung. Die Stolpersteine verlegten Auszubildende des Oberstufenzentrums Bautechnik I der Knobelsdorff-Schule Berlin.
 

Frühe Kämpferin für Gerechtigkeit

Gertrud Hanna, die bekanntere der beiden Schwestern, war Sozialdemokratin, Gewerkschafterin, Mitglied des preußischen Landtages und der verfassungsgebenden preußischen Landesversammlung. Und sie war von 1925 bis 1933 im Verwaltungsrat des Volksbundes aktiv. 
 

Einblicke in den Lebensweg von Gertrud Hanna gaben Agnesa Ahmetaj, Marlon Alayan, Hussein Alsattam, Marvin Charoenpornwatana und Danial Kardo von der Bertolt-Brecht-Oberschule. Geboren am 22. Juni 1876 in eine arme Arbeiterfamilie, war sie mit ihren Schwestern in Tempelhof aufgewachsen. Mit 14 Jahren musste sie die Schule verlassen und wurde Hilfsarbeiterin in einer Buchdruckerei.

Als eine der ersten Frauen trat Gertrud Hanna dem freigewerkschaftlichen Verband der Buch- und Steindruckerei-Hilfsarbeiterinnen und Hilfsarbeiter bei. Mit 21 Jahren wurde sie in den Vorstand gewählt. 1907 wurde sie die zweite besoldete Sekretärin des Arbeiterinnenkomitees der Gewerkschaften. 1908 trat sie in die SPD ein, 1909 wurde sie Leiterin des Arbeiterinnensekretariats, 1916 Chefredakteurin der Gewerkschaftlichen Frauenzeitung und arbeitete im „Ausschuss für Frauenarbeit“. 

Weder gerecht noch demokratisch

Hartmut Tölle, Volksbund-Bundesvorstandsmitglied und früherer DGB-Bezirksvorsitzender, skizzierte den geschichtlichen Hintergrund der Zeit, in der Gertrud Hanna gearbeitet und gelebt hatte. Dazu zitierte er Karl Marx, der das Deutsche Reich als „mit parlamentarischen Formen verbrämten, vom Großbürgertum bekämpften, bürokratisch gezimmerten und polizeilich geführten Militärdespotismus“ beschrieben hatte.

Die Gesellschaft und mit ihr die sozialen Verhältnisse waren im Umbruch. Der technische Fortschritt, der Eisenbahnbau, die Dampfmaschine, die Elektrizität schufen in den Fabriken Hundertausende Arbeitsplätze. Zahllose Menschen strömten in die Städte, um dort zu arbeiten – und litten unter katastrophalen Lebens- und Arbeitsbedingungen. Die Arbeiterschaft hatte keine Rechte, nur die Möglichkeit zum Streik. Die Unternehmer reagierten mit Aussperrungen, der Staat mit Verboten und Gewalt, die Polizei und Militär durchsetzen mussten.

In dieser Zeit entstanden die Gewerkschaften und zu dieser Zeit wuchsen Gertrud Hanna und ihre Geschwister auf. Dass sie sich so früh gewerkschaftlich engagierte, zeigte ihren Gerechtigkeitssinn und ihren Mut. Und das war sicher der Antrieb für ihre Karriere als Gewerkschafterin. 
 

Erfolge und mühsame Kämpfe 

1919 wurde Gertrud Hanna Vorstandsmitglied des im gleichen Jahr gegründeten Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) und in den Hauptausschuss der ebenfalls 1919 gegründeten Arbeiterwohlfahrt berufen. Es war ein erfolgreiches Jahr für sie: Als SPD-Vertreterin wurde sie in die Verfassungsgebende Landesversammlung für Berlin gewählt. Zwei Jahre später, 1921, zog sie als Abgeordnete in den Preußischen Landtag ein.

Ihr Thema: die Unterstützung der arbeitenden Frauen. Ein mühsamer Kampf, was ein Zitat aus dieser Zeit verdeutlicht: „Leider besitzt auch die Arbeiterschaft nicht immer genügend Verständnis für die Sorgen der Frau… Mehr als bisher müssen wir uns deshalb auch der Interessen der Frauen annehmen.“ 
 

Bis 1933 im Volksbund-Verwaltungsrat

Mit der Zerschlagung der Gewerkschaften und der Liquidierung aller Büros des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes verlor Gertrud Hanna ihre Stelle. Nachdem die NSDAP am 2. Mai 1933 alle Büros des ADGB liquidiert hatte, wurde sie am 3. Mai vollständig „außer Dienst gestellt“. Damit verlor sie alle Funktionen, ihr Gehalt und ihren Lebensinhalt. Mit dem Verbot der SPD am 22. Juni wurde sie aus allen politischen Positionen gedrängt. Mit Flickarbeiten versuchten sie und ihre Schwester, sich durchzubringen.

Ab 1925 war Gertrud Hanna im Verwaltungsrat des Volksbundes aktiv gewesen. Für diese Zeit – bis 1933 – sind die Namen zahlreicher Frauen auf relevanten Positionen der unterschiedlichen Verbandsebenen verzeichnet. Das endete mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten und der bereitwilligen Unterwerfung des Volksbundes, der in der Zwischenkriegszeit durchaus von unterschiedlichen gesellschaftlichen, politischen und konfessionellen Milieus getragen und in seinen Gremien repräsentiert worden war.

Die jüdischen, sozialdemokratischen, wegen ihrer Konfession oder sonstiger politischer Ausrichtung unliebsam gewordenen Mitglieder wurden aus ihren Ämtern und später vielfach ganz aus dem Verein gedrängt. Jenen, denen die Verfolgung des NS-Apparats drohte, stand man nicht bei. Ihr Schicksal und ihr Vereinsengagement gerieten nach 1945 in Vergessenheit. Im Zuge der Aufarbeitung der Verbandsgeschichte durch ein Historikerteam zum 100-jährigen Vereinsbestehen 2019 hatte der Volksbund im vergangenen Jahr schon mit einer Stolperstein-Verlegung an die in Theresienstadt ermordete jüdische Frauenrechtlerin Hermine Lesser erinnert.

„Diese Frauen sind richtige Vorbilder“

Prof. Dr. Herta Däubler-Gmelin, die ehemalige Bundesjustizministerin, brachte in ihrer sehr persönlichen Rede dem Publikum die junge, kämpferische Gertrud Hanna nahe. Es ging ihr auch darum, den Schülerinnen und Schülern deutlich zu machen, warum sie nur wenige Jahre in die Schule gehen durfte: „Denkt Ihr, sie hat die Schule verlassen, weil sie eine schlechte Schülerin war? Nein. Sie war eine gute Schülerin, aufgeweckt und intelligent. Aber Mädchen aus Arbeiterfamilien mussten eben Geld verdienen.“

Auch die Lebensumstände der arbeitenden Frauen veranschaulichte Herta Däubler-Gmelin. „Die Wohnungen waren eng, dunkel, feucht und ohne jeden Komfort. Die Familien waren groß. Sie hatten meist nur einen Raum, nur wenige hatten ein eigenes Bett – die meisten schliefen in Schichten. Krankheiten waren die Folge – und viele starben früh“.
 

„Eine unglaubliche Energie“

Dann fuhr sie, direkt an die Schülerinnen und Schüler gewandt, fort: „Gertrud Hanna muss eine unglaubliche Energie gehabt haben, um ihren Weg von der Hilfsarbeiterin zur Chefredakteurin, zur Abgeordneten, zum Vorstandsmitglied zu schaffen. Auch ihre Schwester Antonie, über die wir leider weniger wissen, muss ein starker und guter Charakter gewesen sein. Sie hielt zu ihrer Schwester, sie ertrug die Ächtung und Verfolgung mit ihr. Die Nazis haben Gertrud ja bis zum Ende gehetzt und gedemütigt. Immer wieder. Die ganzen Jahre hindurch. Ich finde es sehr beeindruckend, dass die beiden Schwestern das alles so lange durchgehalten haben. Es ist gut, dass wir uns an Gertrud Hanna und ihre Schwester erinnern – das waren tolle Frauen, richtige Vorbilder!“

Interview mit Herta Däubler-Gmelin

Im Anschluss an die Stolpersteinverlegung sprach Pressesprecherin Diane Tempel-Bornett mit Prof. Dr. Herta Däubler-Gmelin über Mut, Kampf um Gerechtigkeit – und Gertrud Hanna.
 

Sie haben gesagt, Gertrud Hanna ist ein Vorbild. Eine Aufsteigerin aus einem – wir würden heute sagen – bildungsfernen Haushalt, dabei mutig, charakterstark und hilfsbereit. Was beeindruckt Sie besonders an ihr und ihrer Schwester?

Gertrud Hanna hat sich mit dem, was die reaktionäre Gesellschaft des Kaiserreichs für Mädchen aus Arbeiterfamilien vorgesehen hatte, nämlich ein elendes Leben in Armut, ohne Bildung und Chancen, nicht zufrieden gegeben. Sie hat gelernt, gearbeitet, sich engagiert und gemüht – und sie hat im Beruf und in der Politik viel erreicht, damit andere Mädchen und auch die Frauen aus Arbeiterfamilien es leichter haben. Das finde ich toll. Ihre Schwester Antonie hat immer zu ihr gehalten – auch in der schrecklichen Zeit der Verfolgung und Demütigung durch die Nazis. Großartig.
 

Was können wir von ihr lernen?

Wir können von beiden lernen. Von Gertrud, dass es lohnt, sich zu engagieren, auch für andere. Von Antonie, dass es gut ist, wenn Schwestern zusammen halten.
 

Wissen Sie, welche wichtigen Menschen es in Gertruds Leben gegeben hat und wer sie waren?

Mir fällt eine ganz besonders wichtige Frau ein, mit der sie zusammengearbeitet hat: Marie Juchacz, mit der sie sich in der Arbeit für Frauen und in der Arbeiterwohlfahrt engagierte. Aber auch in ihrer Gewerkschaft war Gertrud sehr beliebt.
 

Wie war ihr Ansehen in der SPD?

Ihr Ansehen war sehr hoch – eine Frau hatte es ja auch in der Zeit der Weimarer Republik nicht leicht, als Abgeordnete aufgestellt zu werden. Gertrud war ein wichtiges Mitglied des Preußischen Landtags – sehr eindrucksvoll.
 

War sie eher eine Kämpferin, die die Konfrontation suchte oder ging sie eher kleine Schritte?

Ich würde sagen, beides. Für ein Mädchen aus einer sozialdemokratischen Arbeiterfamilie war es unglaublich mutig, zu lernen, der SPD und der Gewerkschaft beizutreten, sich im Ersten Weltkrieg für Frauen und Arme zu engagieren und dann auch im Landtag immer für Reformen einzutreten. Das erfordert großen Mut.
 

Mir ist nur von Marie Juchacz bekannt, dass sie wohl versuchte, Gertrud Hanna zu unterstützen. Stimmt das?

Ganz sicher nicht. Man wird Vorstandsmitglied einer Gewerkschaft, Chefredakteurin oder Abgeordnete nicht ohne die Unterstützung von Kolleginnen und Kollegen.
 

Frauenpolitik galt ja auch bei führenden Sozialdemokraten als „Gedöns“. Ich weiß nicht, ob das inzwischen nur eleganter formuliert wird – aber haben Sie eine Erklärung, warum dem so ist? Wieso ausgerechnet Vertreter einer Partei, die sich Gerechtigkeit auf die Fahnen geschrieben hat, Grundlegendes für uninteressant erachten?

Ich weiß nicht so recht, woher Sie diese Einschätzung nehmen: Die Erfolge der Frauen in den letzten 50 Jahren mussten alle von Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten erkämpft werden, später unterstützt von den Grünen. Nur wenige Beispiele dafür: Hilfe für vergewaltigte Frauen, Frauenhäuser, Gleichstellungsstellen, Abschaffung des Verschuldensstrafrechts in den 1970er Jahren, Abschaffung von Gewalt als Erziehungsmitteln, die ganzen Bildungsreformen, die Quote, die Anti-Diskriminierungsgesetzgebung hätte es ohne Sozialdemokratische Politik  nicht gegeben. Gerhard Schröders blöder Spruch zeigt, dass er offensichtlich sehr auf die vielen konservativen Männer geschaut hat, die es auch heute noch gibt.
 

Sie kennen den Bundestag seit fast 40 Jahren. Wie hat sich die Stimmung mit Blick auf frauenpolitische Belange entwickelt?

Wir Sozialdemokratinnen – später dann häufig unterstützt von den Grünen – mussten die frauenpolitischen Verbesserungen hart erkämpfen – meist gegen die Konservativen. Von selbst entwickelt hat sich nichts. Heute sind gerade junge Mädchen und Frauen viel besser dran. Sie können lernen, bekommen Stipendien, können den Beruf ergreifen, den sie wollen. Es bleibt aber noch viel zu tun, gerade beispielsweise in der Familienpolitik bei Hilfen für Eltern, bei der Lohngleichheit für Frauen. Deshalb sind jetzt die Generationen meiner Tochter und meiner Enkelin dran. Sie machen weiter, heute mit mehr Unterstützung der Zivilgesellschaft – auch, wie ich hoffe, des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge.