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Kommen Sie gut durch die vierte Welle!

„Tagesspiegel“: Wie ich alt, aber leider auch immer zorniger wurde
Ein Artikel von Wolfgang Wieland

Dieser Artikel ist als Meinungsbeitrag im „Tagesspiegel“ erschienen:
In dieser Woche wurde mir die Würde eines Stadtältesten verliehen. Ich bin alt und seit dem Sommer vulnerabel. Das passt also. Ich habe mich gefreut und werde den Spott außerhalb der Stadtmauern, Stadtältester ausgerechnet Berlins zu sein, ertragen. Aber eine bei dieser Würdigung wohl vorausgesetzte Weisheit und Besonnenheit, die ist weg.

Die Ansage der Ärzte an mich lautet: Wir zerstören planmäßig durch Chemotherapie Ihr Immunsystem. Kommen Sie gut durch die vierte Welle. Das passt nicht. Deswegen bin ich, nun ja, etwas übersensibilisiert.

Durch Selbstisolation ist mein Medienverhalten so ungesund wie das der ausgesperrten Schulkinder in der zweiten Welle. Insbesondere Talkshows ruinieren meinen Blutdruck zusätzlich. Es tritt ein Ministerpräsident nach dem anderen auf und erklärt, gerade er habe in seinem Bundesland frühzeitig alles richtig gemacht. Die amtierenden Regierungsmitglieder zeigen auf die Ampel, und die Ampel erklärt, wir regieren ja noch nicht. Fragt die Moderatorin nach der Schuld, wird empört die Gebetsmühle bewegt: Hier doch bitte keine Parteipolitik, alle müssen nach vorne blicken.

Keiner, keiner, nicht mal einer ...

Ein Ministerpräsident meinte, schuld sei das Virus. Dann ist im Ahrtal der Regen und an der Polschmelze die Sonne schuld und alle sind fein raus. Das ist so kindisch, dass mir nur das Lied aus der Sesamstraße einfällt: Keiner, keiner, nicht mal einer übernimmt Verantwortung
... Halt, Winfried Kretschmann hat nachgeliefert. Er habe die Impfbereitschaft der Bevölkerung überschätzt, ausgerechnet er in der Herzkammer schwäbischer Sektierer, Esoteriker und anthroposophischer Impfgegner.

Jetzt regt er zu Recht eine Debatte über die allgemeine Impfpflicht an. Aber auch diese Debatte beginnt völlig unstrukturiert und ohne jede Orientierung und dies bei einer sehr verunsicherten Bevölkerung. Impfpflicht, Impfzwang, Zwangsimpfung, alles geht bunt durcheinander, als würden morgen Dr. Eisenbart oder Dr. Seltsam aus dem Paul-Ehrlich- Institut unter Polizeibegleitung in die Wohnungen stürmen. Der Rechtsstaat kennt Bußgeld, Zwangsgeld, Zwangshaft. Meines Erachtens kommt nur ein Bußgeld in Betracht, da die Impfung wider Willen nicht zu erzwingen ist.

Sträflich unterlassen

Ich billige wirklich allen, auch Journalist*innen und Gesundheitsminister*innen, im Sommer einen kollektiven Irrtum zu. Das Sommermärchen, diesmal mit ausgeschiedener Nationalmannschaft, lautete: Corona isch over. Doch dann baute sich die vierte Welle über Monate hin auf, mit Ansage: Impfdurchbrüche, nachlassender Impfschutz, zu wenig Geimpfte, steigende Infektionszahlen, Deltavariante. Spätestens im Oktober hätte gehandelt werden müssen.

Wer nun in derselben Pandemie zum dritten Mal seine Maßnahmen zu spät ergreift, kann sich nicht auf das Recht zum Irrtum berufen. Er hat sträflich gehandelt, genauer: sträflich unterlassen.

Bezogen auf den künftigen Koalitionspartner FDP hat bei mir schon ein Fremdschämen eingesetzt. Wolfgang Kubicki erklärt lausbubenhaft, er habe sich nicht an die Corona- Auflagen gehalten. Geschenkt, wenngleich ich von einem Politiker, der zugleich Anwalt ist, eigentlich erwarte, dass er solche Regelungen für alle zu Fall bringt.

Es gab, gerade in dem ersten, wie wir im Nachhinein wissen, Corona-Wellchen groteske Übertreibungen der Exekutive: Spielplatzsperrungen als einziger Auslaufmöglichkeit der Kinder inmitten Berliner Mietskasernen, die ja nicht mehr Freifläche als zu Zilles Zeiten bieten, nur weil sie edelsaniert und teilumgewandelt sind, hochgezogene Ländergrenzen, wie es sie seit dem Norddeutschen Bund nicht mehr gab.

Justiz hat gut funktioniert

Aber vieles haben Gerichte landauf, landab korrigiert. Die Justiz, die ja selbst auch erst einmal mit Corona klarkommen musste, hat gut funktioniert. Wie immer unter dem Radar der medialen Öffentlichkeit, wie immer ohne jede Anerkennung.

Der Satz „Not kennt kein Gebot“ gilt im Rechtsstaat nicht und galt auch zwei Corona-Jahre in der Realität nicht. Der Satz „Not ist die Stunde der Exekutive“ gilt allerdings. Ein Parlament ist kein Krisenstab. Die Ampelmänner der FDP allerdings hielten offenbar beinahe alles Bisherige für verfassungswidrig.

Der sehr sortierte Volker Wissing, das kühle Hirn der FDP, bringt dies in jedem Satz unter. Dumm nur, dass in meinem Grundgesetz die rechtsprechende Gewalt und damit auch die Letztentscheidung, was verfassungsrechtlich möglich ist, nicht der FDP, sondern Richtern anvertraut ist. Und die, das Bundesverfassungsgericht, haben eine Grundsatzentscheidung über Schulschließungen, Ausgangssperren etc. noch für diesen Monat angekündigt. Allerhöchsten Respekt vor dem allerhöchsten Gericht, das gilt für die Sonntagsreden. Missachtung quer durch die Parteien, das ist die Realität.

Niemand in meinem Umfeld versteht, dass die epidemische Notlage nicht verlängert wurde, wenigstens so lange, bis die neue Regierung einen halbwegs überzeugenden Gesetzesentwurf vorlegt und der Bundestag darüber befindet. Jetzt verbietet man den Ländern das Verbieten, wie im antiautoritären Kinderladen.

Narrenrepublik Deutschland

Es gab bekanntlich am Anfang drei Hotspots. Après-Ski in Ischgl, Karneval in Heinsberg, Starkbierfest in Tirschenreuth, alles im geschlossenen Raum. Dies kann in Zukunft weder untersagt noch beschränkt werden. Karneval in Köln kann im Saale nur noch mit 2G plus Auflagen, Personenbeschränkungen (schon fraglich), Maske und Abstand reguliert werden. Sonst nicht. Was auf der Straße stattfinden wird, haben wir am 11.11. gesehen. Schunkeln und Bützchen unter Hygieneauflage. Kein Wunder, dass die USA ihre Bürger*innen vor Reisen in diese Narrenrepublik Deutschland warnen.

Die FDP machte Wahlkampf mit der Parole: Am Wahlsonntag ist Freedom Day, wenn ihr FDP wählt. Fanden Erstwähler*innen toll. Aber dass der Versuch, dieses uneinlösbare Versprechen irgendwie über die Zeit zu retten, zu Aussagen hart an der Grenze von fake news führte, ist unverzeihlich. Der bayerische Verfassungsgerichtshof hat in zwei Entscheidungen in diesem Jahr nicht Ausgangssperren untersagt, sondern sie ausdrücklich bestätigt, wenn die entsprechenden Voraussetzungen vorliegen.

Die a-sozialen Medien plus „Bild“

Um nicht missverstanden zu werden. Ich bin als früherer Jungdemokrat (eine meiner vielen politischen Jugendsünden) eigentlich FDP-Versteher. Es war ein Privileg, mit den Legenden Gerhart Baum und Burkhard Hirsch vor dem Bundesverfassungsgericht erfolgreich zu streiten. In den Mühen des parlamentarischen Alltags gab es mit Parlamentarier*innen der FDP wie Gisela Piltz und Max Stadler immer einen Austausch, auch über die Grenzen Regierung und Opposition hinweg. Es war uns ernst mit der Verteidigung der Bürgerrechte vor dem Hintergrund diverser terroristischer Bedrohungen.
 
Um Kassandra zu verfluchen, bedurfte es in der griechischen Mythologie eines Gottes. Jetzt erledigen dies die a-Sozialen Medien plus „Bild“. Über Monate befeuert vom Vizepräsidenten des Bundestages Wolfgang Kubicki, der als Letztes den Präsidenten des Weltärztebundes als Saddam Hussein der Ärzteschaft bezeichnete. Könnte man lustig finden, wenn es nicht zum Heulen wäre.

Wen wundert es eigentlich, dass die Menschen eine Vorbildrolle nur noch von Fußballnationalspielern erwarten, nicht mehr von Politikern? Was muten wir Ärzten und Wissenschaftler*innen zu, die nicht die Eitelkeit, sondern Verzweiflung vor die Fernsehkameras treibt und die sich des folgenden Shitstorms sicher sein dürfen?

Zwischen Depression und Aufruhr

Ich lebe in Kreuzberg, hier schwankt die Stimmung zwischen Depression und Aufruhr. Keine Angst, selbst wenn Sahra Wagenknecht ihre Gelbweste aus dem häuslichen Ankleidezimmer holt. Die Revolution ist hier fest terminiert: 1. Mai, 18 Uhr. Dann ist die fünfte Welle vielleicht vorbei.

Und vielleicht wurde bis dahin ja auch einmal präventiv gehandelt und nicht nur hinterhergehechelt. Wer bei mir Führung bestellt, der bekommt sie. Bisher gab es offenbar keine Bestellungen. Deshalb: Olaf Scholz, hiermit bestelle ich.

Text: Wolfgang Wieland

veröffentlicht in „Der Tagesspiegel“ am 28. November 2021

Wolfgang Wieland ist ...

... stellvertretender Präsident des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Für Bündnis 90/Die Grünen war er von 2005 bis 2013 Mitglied des Deutschen Bundestages und von 2001 bis 2002 Bürgermeister und Senator für Justiz des Landes Berlin.

Am 26. November 2021 wurde ihm zusammen mit sechs weiteren Persönlichkeiten die Stadtältestenwürde Berlins verliehen – in Anerkennung seiner Verdienste um die Hauptstadt und seines Engagements in politischen Wahlämtern und Ehrenämtern über viele Jahre hinweg. „Sie haben die demokratische Entwicklung des Gemeinwesens besonders gefördert. Dafür gilt Ihnen unser besonderer Dank“, sagte Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (mehr lesen).

Das Foto ganz oben zeigt Wolfgang Wieland auf der deutschen Kriegsgräberstätte Pordoi in den Dolomiten in Italien 2019.