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An den Gräbern des Großen Krieges

Ortsbesichtigungen zwischen Ypern und Cambrai

Fotostrecke am Ende des Textes
Von der belgischen Küste bis zu den Vogesen sind es rund 800 Kilometer. Auf dieser leicht gebogenen Linie tobte ab 1915 ein jahrelanger Stellungs- und Abnutzungskrieg zwischen den deutschen Truppen auf der einen und der französischen und britischen Armee auf der anderen Seite. Aber hier kämpften und starben zu tausenden auch Amerikaner, Australier, Kanadier, Neuseeländer, Portugiesen, Menschen aus den französischen und britischen Kolonien sowie in Frankreich lebende Tschechen, Slowaken und Polen.

Wer heute auf dieser Strecke unterwegs ist, spürt unweigerlich, dass er sich auf geschichtsträchtigem Boden befindet. Davon zeugen all die Gräberstätten und Denkmäler, die Geschichten von Soldaten, Gefechten und Gemeinden erzählen, von denen es einige seit hundert Jahren nicht mehr gibt. Wir sind nur den nördlichen Teil der Frontlinie abgefahren, von Ypern bis Cambrai, und waren kaum in der Lage, all die Erinnerungsorte zu zählen.

Stolz des Empires

Am auffälligsten sind die britischen Friedhöfe. Überall sind sie anzutreffen, manchmal sind es winzig kleine Anlagen mit nur wenigen Gräbern inmitten eines Rapsfeldes, andere liegen mitten in einem Wohngebiet. Stets ist die Gestaltung gleich: die Grabstelen aus weißem Sandstein, ebenso das Hochkreuz mit dem nach unten gerichtete Bronzeschwert und der Stein der Erinnerung mit der Aufschrift "Their name liveth for evermore".

Der Rasen ist nach britischer Art extrem kurz und besticht durch exakte Kanten. Die Blumenbeete vor den Grabreihen sind liebevoll gepflegt und zeugen von großer Gartenkunst. Hier zeigt sich der Stolz des Empires, das keine Mühen und Kosten scheut, wenn es darum geht, seiner Gefallenen zu gedenken.

Trotz der einheitlichen Gestaltung haben die Architekten immer auch einen individuellen Akzent gesetzt, der die Friedhöfe voneinander unterscheidet. Am schönsten vielleicht in Richebourg auf dem Friedhof für die indischen Gefallenen. Zwei in Sandstein gehauene Tiger flankieren eine Säule, obenauf der Stern von Indien. Hier und da noch einige dezente Ornamente, und schon fühlen sich die Besucher an Tadsch Mahal erinnert. Ein Flecken Indien im Nord-Pas-de-Calais.

Erinnerungstourismus

Der größte britische Militärfriedhof in Europa ist Tyne Cot bei Ypern. Dort sind etwa 12 000 Soldaten begraben. 200 000 Besucher werden hier jährlich gezählt. Im Informationszentrum ist die Stimme eines Mädchens zu hören, das die Namen der Gefallenen verliest. Draußen gehen Touristen die Grabreihen entlang, befassen sich mit den Namen auf den Grabsteinen und den Inschriften, die die Familienangehörigen aussuchen durften. Alle sind beeindruckt von der Würde des Ortes.

Der Erinnerungstourismus boomt in Flandern und in der Picardie. Vielleicht sind es tausend Menschen, die sich an diesem Apriltag während der täglichen Last-Post-Zeremonie unter dem Menentor in Ypern drängen. Seit 1928 findet jeden Abend ein Zapfenstreich im Gedenken an die Gefallenen statt. Wir treffen einen Staatssekretär des Landes Hessen, der an diesem Abend einen Kranz niederlegt.

Auch an den deutschen Kriegsgräberstätten halten Reisebusse. In Langemark (über 44 000 Tote), wo jährlich etwa 100 000 Besucher gezählt werden, berichten englische Lehrer ihren Schülern von der Kriegsbegeisterung der deutschen Studenten und vom Besuch Hitlers auf dem Friedhof. Dann schwärmen die 15-Jährigen mit ihren Schreibbrettern aus und machen sich Notizen an den Gräbern.

Am großen Gemeinschaftsgrab liegen Blumengebinde und zahlreiche kleine Erinnerungskreuze. Manche sind mit Poppies, den in Großbritannien üblichen papiernen Klatschmohnblüten, verziert, an anderen haften in Folie eingeschweißte Sinnsprüche. Der Friedhof ist als Waldfriedhof gestaltet und macht mit seinem Wassergraben, den Bunkerruinen und dem trutzigen Eingangsgebäude einen eher düsteren Eindruck.

Käthe Kollwitz

Nicht anders ist das Bild auf der deutschen Kriegsgräberstätte in Vladslo (über 25 000 Tote). Hundertjährige Baumriesen überragen die Grabflächen und nehmen den Namenplatten das Licht. Eine Schulklasse aus Flandern lässt sich vor der berühmten Skulpturengruppe der trauernden Eltern fotografieren, die Käthe Kollwitz schuf. Auf der Grabplatte vor der Skulptur haben Kinderhände den Namen von Peter Kollwitz blank gewischt.

Peter fiel im Oktober 1914 ganz hier in der Nähe. Mit dem "Trauernden Elternpaar" versuchte Käthe Kollwitz, die Trauer um den Verlust des Sohnes künstlerisch zu verarbeiten. 1932 ließ sie die Figurengruppe auf dem Soldatenfriedhof in Esen-Roggeveld bei Dixmuide aufstellen, wo Peter begraben war. Als der Volksbund 1956 den Friedhof auflöste und die Toten nach Vladslo umbettete, wurden auch die Skulpturen versetzt.

Sie gelten als eine der bedeutendsten Arbeiten der Künstlerin. 1942 fiel ihr Enkel, der ebenfalls Peter hieß, bei Rshew in Russland. Dort hat der Volksbund 2002 eine Kriegsgräberstätte für die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges eingeweiht, die gemeinsam mit den benachbarten sowjetischen Kriegsgräbern einen Friedenspark bildet. Unter den Unbekannten auf dem deutschen Friedhof liegt wahrscheinlich auch der Enkel von Käthe Kollwitz. Er konnte nicht eindeutig identifiziert werden. In diesem Jahr aber will der Volksbund eine Replik der trauernden Eltern auf der deutschen Kriegsgräberstätte in Rshew errichten und auf diese Weise ein symbolisches Band zwischen den beiden Weltkriegen, zwischen West und Ost, spannen.

Die deutschen Friedhöfe in Flandern, Langemark, Vladslo, Hooglede und Menen, mit fast 48 000 Toten der größte in Westeuropa, stehen unter Denkmalschutz. Das bedeutet, dass sich die flämische Regierung auch an den Sanierungskosten beteiligt.

Sinnbild der Kameradschaft

In der französischen Gemeinde Fromelles liegt der Gedenkpark, der an die australischen Gefallenen des Großen Krieges erinnert. Mittelpunkt ist die Bronzestatue, die den australischen Unteroffizier Simon Frazer zeigt, wie er einen verwundeten Kameraden vom Schlachtfeld trägt. Ein Sinnbild der Kameradschaft. Bei Fromelles kamen über 5 000 Australier ums Leben.

"Mein Vater hat auch hier gekämpft", sagt ein älterer Herr aus Übersee. Er hat sich seine Schuhe ruiniert, als er in der umgepflügten Erde des angrenzenden Ackers nach Überbleibseln aus dem Krieg suchte. Stolz zeigt er eine gefundene Stahlkugel her, die aus einer Splitterbombe stammen soll. Vielleicht gehört sie aber auch zu einem Kugellager aus dem Traktor des Bauern. "Eure Toten müssen doch auch hier sein", stellt er zum Abschied fest.

Der größte deutsche Soldatenfriedhof in Frankreich liegt in Neuville-Saint-Vaast (über 44 000 Tote), nördlich von Arras. Ein Meer von Metallkreuzen ragt aus dem Rasen. Jeweils zwei Namen auf der Vorder- und Rückseite, somit sind es fast 10 000 Kreuze. Sie wurden Mitte der 1970er Jahre erneuert.

Damals hat der Volksbund auch die Kreuze auf den Gräbern der jüdischen Soldaten durch Stelen mit Davidstern ersetzt. "Möge seine Seele eingeflochten sein in den Kreis der Lebenden", heißt es dort in hebräischer Schrift. Nach jüdischem Brauch liegen auf vielen Stelen kleine Steine. Die Gemeindeverwaltung stiftete zum Abschluss der Arbeiten ein Holzkreuz mit der Inschrift "Paix aux Hommes de Bonne Volonté (Frieden den Menschen, die guten Willens sind).

Erste Panzereinsätze

Ganz anders ist die deutsche Kriegsgräberstätte in Cambrai (über 10 000 Tote) gestaltet. In dieser Region setzte die britische Armee 1917 erstmals Panzer bei einer Großoffensive ein. Kreuze aus hellem Naturstein mit eingravierten Namen und Lebensdaten prägen das Bild und eine Reihe von historischen Denkmälern, die noch während des Krieges errichtet wurden. Dazu gehört auch das mächtige Hochkreuz im Zentrum des Friedhofes. Cambrai war damals eine Stadt der Lazarette, und so mag es gekommen sein, dass hier auch rumänische, russische und britische Soldaten ruhen.

Zur Gemeinde Neuville-Saint-Vaast gehören auch die Gedenkstätten für die tschechoslowakischen und polnischen Kriegsopfer. Obwohl sie an der viel befahrenen Landstraße 937 liegen, machen einen fast vergessenen Eindruck. Sie erinnern an den Einsatz der tschechischen, slowakischen und polnischen Einwanderer aus dem Großraum Paris, die sich der französischen Armee anschlossen, um auf diese Weise einen Beitrag für die Befreiung ihrer Heimatländer zu leisten. "Za nasze wolnosc i wasza", ist am polnischen Denkmal zu lesen, "Für eure Freiheit und die unsere."

Nationale Heiligtümer

Über die Ebenen des Artois erheben sich zwei Höhenzüge, die längst als nationale Heiligtümer gelten: die Lorettohöhe, wo der französische Nationalfriedhof Notre-Dame-de-Lorette zu besichtigen ist, und der Bergkamm von Vimy mit der kanadischen Gedenkstätte.

Als die deutschen Truppen diese Höhen hielten, kontrollierten sie nach Süden die Großstadt Arras und nach Osten das Kohlebecken von Lens. Den Franzosen gelang es zwar, nach zwölfmonatigem Anrennen 1915 die Lorettohöhe einzunehmen, den Bergkamm von Vimy aber eroberten erst zwei Jahre später kanadische Verbände. Beide Siege gingen mit unvorstellbaren Verlusten einher.

Doch die stets unbegreiflichen Zahlen verstellen den Blick auf die individuellen Tragödien, die sich in dieser Region ereignet haben.

Der französische Friedhof auf der Lorettohöhe entstand in den 1920er Jahren, als die Gefallenen aus über 150 Friedhöfen an den Fronten des Artois, Flanderns, der Yser und der belgischen Küste hierher umgebettet wurden. 20 000 Soldaten waren zu identifizieren, 22 000 blieben unbekannt und ruhen in Beinhäusern. Wahrzeichen des Friedhofes sind die Basilika und der 52 Meter hohe Laternenturm, dessen Licht nachts etliche Kilometer weit zu sehen ist.

Ältere Herren, offensichtlich Veteranen, in dunklen Anzügen, bestückt mit einigen wenigen Orden und manche mit schwarzen Baretts, betreuen die Besucher. Flüstern ist hier angesagt. Die Würde des Ortes ist eindringlich und gebietet Ehrfurcht.

Im kleinen Museum des Turms hängen historische Fotos, die vom Aufräumen in den Kampfzonen erzählen. Zu sehen sind immer wieder Pferdewagen mit unzähligen Leichnamen.

Ein authentischer Gedenkort?

Elf Jahre lang dauerte der Bau der kanadischen Gedenkstätte auf den Höhen nahe des Dorfes Vimy. Heute ist sie ein sorgsam gepflegter Park von 107 Hektar, die dem kanadischen Staat überlassen wurden.

Akkurat gepflegte Straßen und Wege führen zu sauberen Parkplätzen, auf denen Stellplätze für Busse und Pkw unterschieden werden. Es gibt Orientierungstafeln, die zu einzelnen Sehenswürdigkeiten führen, ein Besucherzentrum, einen Shop und eine öffentliche Toilette.

Ein 27 Meter hohes Denkmal überragt die Anlage und versinnbildlicht, so heißt es, die transatlantische Freundschaft zwischen Frankreich und Kanada, das über 60 000 Soldaten im Ersten Weltkrieg verlor. "Das moderne Kanada wurde in den Schützengräben von Vimy geboren", ist in einem Prospekt zu lesen.

Der weiße Stein des riesigen Denkmals hebt sich majestätisch gegen den blauen Himmel ab. 20 Skulpturen sind an ihm angeordnet. Sie entbehren jeglicher militärischer oder nationaler Accessoires und zeichnen sich durch eine schwer zu deutende pseudo-religiöse Gestaltung aus. Sie wirken zeitlos, nahezu klassisch.

Bombentrichter

Die Statue einer trauernden Frau, die auf die Tiefebene von Lens hinabsieht, gleichsam auf den Ort tausendfacher Todesangst, tausendfacher Verzweiflung und tausendfachen Sterbens, scheint für alle zu stehen: Trauer ist hier das vorherrschende Thema, dem die Bildhauer Ausdruck verliehen. Das Denkmal ist monumental, die Besucher können sich seiner Anziehungskraft kaum entziehen.

Sorgfältig sind die ungezählten Bombentrichter auf dem Hügel erhalten. Das Gelände wurde während des dreijährigen Kampfes von Granaten regelrecht durchpflügt. Wie konnten Menschen hier überleben? Es gibt Krater, in die ohne weiteres ein großes Einfamilienhaus passen würde. Und es fehlt nicht an Warnschildern, man möge wegen möglicher Blindgänger die Wege nicht verlassen. Aber den Schafen mutet die Parkverwaltung zu, das Gras über dem einstigen Frontabschnitt kurz zu halten.

Spätestens an den Schützengräben, die mit kleinen Betonkissen in Form von Sandsäcken bewehrt sind und auf diese Weise nochmals ein Jahrhundert Bestand haben werden, stellt sich die Frage, wie authentisch dieser Ort noch ist. Ohne die harte Hand des Landschaftsgärtners wären die Wunden, die der Krieg in diese Erde geschlagen hat, längst verwachsen.

Verdun

Szenenwechsel: Abends lärmen und trinken wir ausgelassen mit jungen Franzosen vor einer Bar namens Le Windsor in Verdun. Die jungen Männer erproben an uns ihre Englischkenntnisse. Es sind zumeist Zeitsoldaten, die in der hiesigen Garnison stationiert sind. Einige waren in Mali eingesetzt, und alle freuen sich auf das Ende ihrer Dienstzeit.

Ihre Zukunftspläne sind diffus, ein Farbiger, der aus La Réunion stammt, freut sich ganz besonders, seine Heimat bald wiederzusehen. Wegen des Wetters schon allein. Andere sparen Geld, um bald wieder nach Australien, dem Land ihrer Träume, reisen zu können. Einer hat eine Schwester, die einen Deutschen geheiratet hat und in Homburg lebt. Da es nicht weit bis dorthin ist, besucht er sie regelmäßig. Wieder ein anderer wird demnächst eine Autowerkstatt im Süden aufmachen.

Die Stimmung steigt. Wer in dieser Nacht in den Hausbooten auf der nahen Maas Ruhe sucht, wird kaum ein Auge Schlaf finden. Wir sind alle so wunderbar weit entfernt vom Zeitalter der Weltkriege.

Bayerische Bodenständigkeit

Das zeigt sich auch am nächsten Tag vor dem weltberühmten Beinhaus. Rund 650 Mitglieder der Interessengemeinschaft Rosenheim, eines Zusammenschlusses von fast 90 Krieger-, Veteranenvereinen und Soldatenkameradschaften, treffen nach und nach an diesem sakralen Bauwerk der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg ein. Es birgt die Gebeine von über 130 000 unbekannten französischen und deutschen Soldaten.

Die Rosenheimer sind bekannt für ihre Reisen, zu denen sich alljährlich mehrere hundert Oberbayern zusammenfinden. Stets führen sie auch zu besonderen Orten des Gedenkens an die Opfer der Kriege. Dieses Mal sind sie mit einem Sonderzug bis ins Saarland gefahren und von dort mit 13 Reisebussen unterwegs.

Die Träger der Traditionsfahnen in ihren Trachten nehmen Aufstellung. Einige französische Fahnenträger gesellen sich ihnen hinzu und dann geht es mit Blasmusik gemeinsam hinein in die Krypta, wo alle zu einer Gedenkstunde Platz nehmen. Aus Paris ist eigens der stellvertretende deutsche Verteidigungsattaché angereist.

Die Szene wirkt so wunderbar entspannt und selbstverständlich. Bayerische Bodenständigkeit scheint eine gute Plattform für die europäische Verständigung zu sein.

Fritz Kirchmeier (2014)