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Vom Alltagsglück der guten Nachbarschaft

Erinnerungskulturen im Gespräch - Brüssel

„Schaut man in Deutschland auf Belgien – sieht man zunächst Pommes oder den Ferienbummel durch das schöne Brügge. Darüber wird jedoch leicht übersehen, dass von hier aus das neutrale Belgien zweimal angegriffen wurde. In Belgien sind hingegen die historischen Erfahrungen von Besatzung, Zwangsarbeit und Kriegsverbrechen immer noch präsent.“ So umriss Volksbund-Generalsekretärin Daniela Schily das historische Wechselverhältnis der deutsch-belgischen Beziehungen, die am Mittwoch in Brüssel zur Diskussion standen.

Friedliche Nachbarschaft ist in Europa nicht selbstverständlich

Die Deutsche Botschaft hatte im Rahmen der Volksbund-Veranstaltungsreihe „Erinnerungskulturen im Gespräch“ Historiker beider Länder eingeladen, um mit mehr als 100 Gästen den Ausgang und die Fortwirkungen des Ersten Weltkriegs aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Der Gastgeber betonte angesichts dieser unterschiedlichen historischen Erfahrungen den Plural im Veranstaltungstitel: „In Deutschland wird zurückhaltender erinnert und das hat seinen Grund. Ich bin überzeugt, dass sich die Kriegstoten nicht für nationalen Pathos eignen“, so Botschafter Lüdeking. Angesichts der Kämpfe in der Ost-Ukraine müsse der europäische Integrationsprozess wieder als Friedensprojekt verstanden werden.

Dies scheint in der deutsch-belgischen Grenzregion weit weg zu sein. Hier überqueren täglich Menschen für den Einkauf oder den Arbeitsweg die offene Grenze. Zudem gibt es dort in dem Örtchen Lommel inzwischen auch eine deutsche Jugendbegegnungs- und Bildungsstätte des Volksbundes, die sich mit der Aufarbeitung der beiden Weltkriege beschäftigt. 100 Jahre zuvor war dieses Verhältnis weitaus umstrittener. Der Grenzverlauf wechselte mehrfach, es kam zur Militärbesatzung auf beiden Seiten. Für Daniela Schily zeigt der wachsende Nationalismus nun immerhin auf, was auf dem Spiel steht: „Das heutige Alltagsglück einer guten Nachbarschaft mit offenen Grenzen zwischen Aachen und Lüttich ist mehr denn je keine Selbstverständlichkeit. Für die Zukunft Europas sind wir alle selbst verantwortlich.“

Das „wilde Erinnern“ vor Ort: regionale Unterschiede und transnationale Gemeinsamkeiten

Wie wird vor diesem Hintergrund an den Ersten Weltkrieg in beiden Ländern erinnert? Hier gibt es trotz der unterschiedlichen Geschichtserfahrungen erstaunlich viele Parallelen in der gelebten Erinnerungskultur: In beiden Ländern standen in den vergangenen Gedenkjahren weniger nationalistische Narrative im Zentrum, vielmehr ist der Reigen von kleineren Geschichtsprojekten durch regionale Unterschiede, aber auch durch viele lokalhistorische Gemeinsamkeiten geprägt. Der Stuttgarter Historiker Gerhard Hirschfeld berichtete von einem Boom an Anfragen. Bürgermeister und Stadtarchivare wollten zu ihrer Stadt oder einem bestimmten Gesellschaftsthema die Lokal- oder Sozialgeschichte dieses Großen Krieges erzählen. Eine Vielzahl kleinerer Ausstellungen entstand oft nur mit wenig Mitteln, aber mit viel Engagement.

Laurence Van Ypersele spricht von einem „Jahrhundert-Phänomen“. Für die Professorin von der Katholischen Universität Löwen ist das hohe Interesse dem Umstand geschuldet, dass nun die letzte Generation lebt, die immerhin noch die Weltkriegserzählungen von den Großeltern kennt. Dabei steht die Geschichte des eigenen Dorfs, der eigenen Familie im Zentrum. Von der gemeinschaftsbildenden Nachwirkung der Kriegserinnerung sprach auch Luc Vandeweyer vom Reichsarchiv Brüssel. So gibt es selbst in Australien oder Tschechien kleine, aber langlebige Erinnerungsgemeinschaften, die über den Grande Guerre immer noch mit Belgien verbunden sind.

Dies gilt in aller Ambivalenz auch für die früheren Kolonien. Zwar litten die Kolonialsoldaten weiterhin unter Diskriminierung, zugleich öffneten sich aber auch Spielräume für mehr Anerkennung, was wiederum heute erinnerungskulturell zu ganz eigenen positiven Aneignungen führt. So berichtete der im damaligen Belgisch-Kongo geborene Journalist Marc Reynebeau von einer Krupp-Kanone in seinem Geburtsort, die als eines der wenigen erhalten gebliebenen Kriegsrelikte von den Anwohnern mit Stolz präsentiert wird und sich zu einem touristischen Anziehungspunkt entwickelt hat.

Spaltende Besatzungserfahrung wirkt noch nach

Zugleich hat jedoch die deutsche Militärbesatzung Spaltungen in der belgischen Gesellschaft vertieft – zum Teil mit gezielten Geheimdienst-Maßnahmen, was in aktuellen politischen Auseinandersetzungen noch immer nachwirkt. Die Annexion der deutschsprachigen Gebiete aber auch Vereinnahmungsversuche gegenüber flämischen Separatisten stellten die Menschen vor schwierige Entscheidungen. Flucht oder dableiben, Widerstand oder Kollaboration? Diese Fragen trennten Dorfgemeinschaften und sogar Familien. Während die einen Kollaborationsvorwürfe erheben, werden in Flandern oft an die einfachen Soldaten erinnert, die sich im Grabenkampf von ihren frankophonen Offizieren im Stich gelassen fühlten. Im revolutionären Zwischenkriegsdeutschland wurden die Konflikte zwischen Truppe und Vorderen hingegen eher als soziale Frage wahrgenommen.

So lebendig und wildwüchsig die lokale Erinnerungskultur auch ist, Geschichtserzählungen unterliegen für Laurence Van Ypersele auch immer instrumentellen Aufladungen – seien es wissenschaftlichen Konkurrenzen, politische oder auch ökonomische Interessen. Denn die Verbindung aus historischen Besuchsangeboten und kreativen Gedenkprojekten sind eben auch ein wichtiger Tourismusfaktor. Für Van Ypersele kam es hier zu ästhetisch und geschichtswissenschaftlich mal mehr, mal weniger überzeugenden Gedenkprojekten.

Zwangsarbeit und Kriegsverbrechen bleiben schmerzhaft

Die Erinnerung an Ausbeutung und Übergriffe gegen Zivilsten während der Besatzung ist in Belgien immer noch schmerzhaft spürbar. Zwar berichtete Christoph Jahr von der Humboldt-Universität auch von Alltagsbegegnungen zwischen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen, die ja inmitten der Gesellschaft in Betrieben oder auf Höfen eingesetzt waren, doch die brutalen Erfahrungen der nach Deutschland Deportierten – es kam zu vielen Todesfällen – verstärkte den belgischen Widerstand erheblich.

Wie offen die Kriegswunden gerade in jenen „Märtyrerorten“ von Vergeltungsmaßnahmen noch sind, zeigen die jüngsten Forschungskontroversen um das Ausmaß und die Hintergründe deutscher Kriegsverbrechen und belgischer Widerstandsaktionen. Für Gerhard Hirschfeld ist dieser Streit um Quellenauslegungen jedoch keinesfalls repräsentativ oder gar mit den revisionistischen Tendenzen der Zwischenkriegszeit zu vergleichen. Grundsätzlich werde die deutsche Verantwortung für den Bruch der belgischen Neutralität sowie für auch seinerzeit schon völkerrechtswidrigen Übergriffe nicht abgestritten. Dass eine einzelne Publikation (Ullrich Keller: Schuldfragen, 2017 Schöningh) solch starke Ablehnung erfahre, mache allerdings deutlich, wie sensibel diese Fragen immer noch sind.

Demgegenüber war sich das Panel darin einig, dass die Weltkriegsgeschichte multiperspektivisch erzählt werden muss. Wie im Konzept des Museums Péronne an der Somme: Hier arbeiteten Historiker verschiedener Länder zusammen. In der Ausstellung finden die Besucher immer unterschiedliche Blickwinkel auf die Ereignisse im Wandel der Zeit.

Ein Ansatz, den der Volksbund auch in seiner pädagogischen Arbeit vor Ort und am Beispiel der unterschiedlichen Kriegsgräberstätten und Mahnmale in Belgien verfolgt. Von der Jugendbegegnungsstätte Lommel aus besuchen die Jugendlichen die Erinnerungsorte oder auch die Europastadt Brüssel. Hier lernen sie die Unterschiede ebenso wie die Gemeinsamkeiten im Erinnern an die beiden Weltkriege kennen und setzen sich mit den politischen Konsequenzen dieser Geschichte in der Gegenwart auseinander.

Matteo Schürenberg

(Foto: Deutsche Botschaft, Brüssel)