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Reportage

Reportage

Ihre Wiege war ein Flüchtlingsschiff
Gedenken im dänischen Esbjerg

ESBJERG/DÄNEMARK. Es gibt viele Situationen, in denen Menschen zur Flucht gezwungen werden. Zumeist sind es die Menschen selbst, die andere aus ihrer Heimat in die Fremde oder sogar in den Tod treiben. An die Flucht der Deutschen aus dem Osten und deren Leben, Leiden, und Sterben über das Kriegsende vor 70 Jahren hinaus erinnerte der Volksbund am 8. August 2015 im dänischen Esbjerg gemeinsam mit seinem Bundesvorstandsmitglied Wolfgang Wieland, Militärattaché Axel Gerke von der Deutschen Botschaft in Kopenhagen, Schauspieler Herbert Tennigkeit, Vize-Bürgermeister Jesper Frost Rasmussen, der Reisegruppe um den schleswig-holsteinischen Volksbund-Geschäftsführer Frank Niemanns sowie zahlreichen Angehörigen und internationalen Gästen anlässlich des Kriegsendes vor 70 Jahren.

Flucht - früher und heute

Einzelne Aspekte der Gedenkveranstaltung auf der deutschen Kriegsgräberstätte in Esbjerg, die vor allem durch ihre nachdenklichen und künstlerisch wertvollen Beiträge geprägt war, wiesen zugleich auf die humanitäre Verantwortung bezüglich der Flüchtlingsproblematik unserer Tage hin: "Denn jeder einzelne von ihnen ist ein geliebtes Kind Gottes, so wie du", sagte Pastorin Kristin Kristoffersen, deren Mutter einst selbst als Flüchtling an der Küste Dänemarks strandete. Sie legt hierbei auch einen Finger in die Wunde und zieht auch eine andere Verbindungslinie zwischen heute und damals: Die deutschen Flüchtlinge waren nicht bei allen willkommen und dies bekamen sie auch vielmals zu spüren - so wie auch heute wieder die Flüchtlinge nicht bei allen willkommen seien.

Viele der Menschen, die damals vor der herannahenden Roten Armee flüchteten, schafften es nicht wie Kristoffersens Mutter. Das Grab vieler Frauen, Kinder und Greise ist bis heute die See oder der brackige Grund des Haffs. Andere liegen hier auf der deutschen Kriegsgräberstätte in Esbjerg und den vielen anderen Flüchtlingsfriedhöfen in Dänemark. Noch vor den langen Reihen der weit über tausend Soldatengräber des Zweiten Weltkrieges findet man sie unweit der Birken und Flaggen, die sich im Eingangsbereich der Kriegsgräberstätte im leichten Wind wiegen: Es sind die Gräber der Kinder, die hier als völlig entkräftete und ausgezehrte Flüchtlinge verstorben, oft schlicht verhungert sind. Man mag sich nicht vorstellen, was das schlimme Schicksal von 80 Prozent der Kleinkinder die nach Dänemark kamen und nicht überlebten für deren Mütter und Väter, ihre Familien und auch alle anderen Mitmenschen bedeutet haben muss. Das Schicksal der fast 10.000 unschuldig in den Lagern in Dänemark gestorbenen Kinder unter fünf Jahren ist kaum auszuhalten.

Sehnsucht nach Sicherheit

Und heute? Heute geschieht das Gleiche wieder. Darüber spricht auch Kristin Kristoffersen, die mit ihrer Predigt zugleich eine hochpolitische Rede hält, die aufhorchen lässt: "2015 sind wieder Millionen auf der Flucht vor Krieg, Terror, Dürre und vor dem Hunger. Sie kommen zum Teil auf lebensgefährliche Weise nach Europa und suchen Schutz. Ihre größte Sehnsucht ist Sicherheit. (...) Und doch sind da zwei große Unterschiede zu der damaligen Situation: 1945 hatten die Menschen fast nichts, viel lag in Schutt und Asche und trotzdem wurden auch noch die Flüchtlinge durchgefüttert. Der zweite Unterschied: Damals waren es deutsche Landsleute, die Schutz suchten, heute sind es für uns Fremde. Der Begriff Flüchtlinge ist so aktuell zu einem Reizwort geworden, das unglaubliche negative Emotionen hervorruft - zumindest bei Einzelnen, die sich besonders in den sozialen Netzwerken austoben, hier in Dänemark auch in der Politik. Mehr oder weniger verholen werden rassistische und fremdenfeindliche Parolen salonfähig. Die Menschen, die in Europa Schutz suchen, erzeugen offenbar eine große Angst in uns. Angst, etwas zu verlieren."

Wir hätten viel zu geben

Wenn man in diesem Augenblick in die Gesichter der Teilnehmenden dieses Gedenkens blickt, erkennt man, dass diese Worte viel bewegt haben. Tatsächlich ist es so, dass wir in Deutschland sowohl im Vergleich zu den meisten anderen Ländern der Welt aber auch in der historischen Rückschau im breiten Durchschnitt in einem nie da gewesenen wirtschaftlichen Luxus leben. Wir hätten so viel zu geben ... wenn wir nur wollten. Noch entscheidender ist allerdings die moralische Verpflichtung, die aus der Tatsache erwächst, dass es eben Länder wie Dänemark waren, die damals von Deutschland überfallen wurden und später trotz allem die eigentlich feindlichen Flüchtlinge aufgenommen haben. Flucht und Vertreibung während und nach dem Zweiten Weltkrieg waren dabei die direkten Folgen der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft. Zuvor hatte das kleine Königreich an den Gestaden der Nord- und Ostsee von 1933 bis zur deutschen Besatzung im Jahr 1940 zudem als wichtiges Transitland nach Norwegen und Schweden für die deutsche Emigration gedient. Für ungezählte deutsche Juden, Kommunisten und zahlreiche weitere durch das Nazi-Regime Verfolgte war Dänemark das blasse Licht am Ende eines schier endlosen Tunnels.

Reich mir deine Hand

Auch das sollte man sich ins Bewusstsein rufen, wenn man die heutige Flüchtlingssituation betrachtet: Die meisten Menschen, die ihre Heimat verlassen, haben ganz einfach keine andere Wahl. Sie müssen flüchten, müssen fliehen um schlichtweg ihr und das Leben ihrer Kinder zu retten. Vielmehr ist es nicht. Dabei gibt es keine Wiederkehr, kein Zurück mehr - und das für immer. Als einziger Ausweg bliebe nur der nasse Tod im Mittelmeer. All dies verdeutlicht bei vielen Unterschieden einige Parallelen zum Schicksal der Vertriebenen des Zweiten Weltkrieges. "Reich mir Deine Hand. Gut, dass Du da bist!", heißt es etwa in dem Gedicht "O Erde Dänemarks", welches Herbert Tennigkeit in Esbjerg vorträgt und dessen Aussage alle Zuhörer rührt. Es ist ein schöner, ein zutiefst menschlicher Gedanke: Du bist willkommen! Wir wollen dir helfen, so wie auch uns geholfen wurde!

Dänemark bot den Flüchtlingen des Zweiten Weltkrieges damals die leise Hoffnung auf Leben, auf Überleben. Dennoch sind hier noch nach dem Krieg viele tausende Flüchtlinge elend verstorben, mangels Versorgung und Hilfe, die mancherorts bewusst verweigert wurde. Einige wurden zum Opfer eines Krieges, zu dessen Beginn sie noch nicht einmal geboren waren. Andere haben sich vielleicht auch schuldig gemacht, indem sie tatsächliche Verbrechen begingen oder indem sie das Regime noch bis zuletzt unterstützt hatten, als schon alles verloren war und sich die sinnlose Menschenverachtung dieses Krieges bereits schonungslos demaskiert hatte. Andere waren auch dazu noch viel zu jung, obgleich sie schon im Feldgrau der Wehrmacht steckten. In Esbjerg finden sich wie auch auf den anderen internationalen Kriegsgräberstätten in Europa und Nordafrika viele Soldaten und viele, viele weitere Kriegsopfer, die nach heutigen Maßstäben kaum erwachsen und eigentlich noch halbe Kinder waren. In Esbjerg waren dem Jüngsten gerade mal fünfzehn Sommer vergönnt: ein Kindersoldat.

Blumen für Unbekannte und Flüchtlinge

Auf anderen Grabsteinen findet sich noch nicht einmal ein Name. "Ein unbekannter Soldat" oder "Ein unbekannter Flüchting" ist dann auf dem Grabstein zu lesen und zeigt dem Besucher an, dass der Krieg seinen Opfern manchmal sogar den eigenen Namen und ihren liebenden Angehörigen den Ort der Trauer nimmt. Die Zerstörung des menschlichen Lebens nimmt so totale Formen an. Aus diesem Grunde startete der Volksbund dank der großzügigen und zahlreichen Spenden seiner Förderer auch im dänischen Esbjerg die Aktion "Blumen gegen das Vergessen". Dabei verteilten deutsche und dänische Reservisten und Soldaten sowie auch später die Besucher der Gedenkveranstaltung die gespendeten weißen Blumensträuße an den Gräbern der Unbekannten und der Flüchtlinge, die sonst nur selten geschmückt oder auch nur besucht würden.

Das Vermächtnis der Kreuze

Volksbund-Bundesvorstandsmitglied Wolfgang Wieland und der unter anderem aus den TV-Produktionen "Schwarzwaldklinik" oder dem "Traumschiff" bekannte Schauspieler Herbert Tennigkeit waren ebenfalls Teil dieser Gedenkaktion, suchten sich wie die anderen Besucher individuell eines der Gräber aus, um dort den weißen Blumenstrauß niederzulegen und einen Moment innezuhalten. Zuvor hatte Wieland in seiner Gedenkrede die humanitären Hintergründe der Volksbund-Arbeit wie auch der Blumenaktion verdeutlicht: "Dies ist nach wie vor die erste Aufgabe des Volksbundes, Unterstützung und Hilfe für die direkt Betroffenen, für die Trauernden anzubieten, sie mit ihrem schweren Verslust nicht alleine zu lassen. Zugleich verstehen wir die von uns gepflegten Kriegsgräberstätten als Lernorte, als Mahnung für uns Nachgeborene zum Frieden. (...) Hier, vor den Gräberfeldern, erschließt sich, dass Europa mehr ist, als der ewige Streit um Gelder für Griechenland oder um Quoten für Flüchtlinge. Es liegt an uns, zu verhindern, dass aus dem Miteinander wieder ein Gegeneinander wird. Auch dazu mahnen uns die hier liegenden Toten."

Für diese Worte erhielt Wieland - und dies ist für eine Veranstaltung auf einem Friedhof wirklich sehr ungewöhnlich - anhaltenden Applaus von den Zuhörern. Gleiches erlebten die ausgezeichneten Musiker des dänischen Prinsens Musikkorps sowie Herbert Tennigkeit, der als Ostpreuße ebenfalls ein Flüchtlingskind ist, nachdem er mit großer Kunstfertigkeit die Texte "Samländers Heimweh" und "O Erde Dänemarks" vorgetragen hatte. Auch darin geht es um das schreckliche Schicksal der Flüchtlinge, speziell der Flüchtlingskinder.

In dem Text von Agnes Miegel, die wiederum selbst das Flüchtlingsschicksal teilte, heißt es wörtlich: "O Erde sieh, nur unsre Herzen weinen. Nimm hin, Barmherzige, unsre armen Kleinen! Du hast mit Milch und Brot sie mild gespeist, nun wiege sie ein! Denn sie sind ganz verwaist. Von allzuviel Erleben ruhn sie aus. Ein frostverbrannter Anemonenstrauss. Über der Heimat, die sie nie gekannt, stand Blut und Brand. In kurzem Wiedersehensrausch erzeugt, getragen auf verschneiten Wanderwegen. Ach, Not nur hat sich über sie gebeugt, Hass sie verflucht. Es war ihr erstes Regen, Entsetzen bei dem Heulen der Sirenen; und Flüchtlingsschiffe waren ihre Wiegen."

Seinen persönlichen Blumenstrauß legt Herbert Tennigkeit übrigens am Grab von Erika Ritter ab. Sie wurde am 3. Januar 1944 im Sternzeichen Steinbock geboren. Genau ein Jahr, zwei Monate und drei Wochen später war sie tot, gestorben auf der Flucht. Auch ihre Wiege war wohl ein Flüchtlingsschiff. "Mögest Du in Frieden ruhen", sagt Herbert Tennigkeit noch. Dann legt das Flüchtlingskind seine Blumen auf das Grab des Flüchtlingskindes.

Maurice Bonkat