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Das Pompeji des Ersten Weltkrieges

Das Pompeji des Ersten Weltkrieges

DAS POMPEJI DES ERSTEN WELTKRIEGES
KRIEGSTOTE BEI GRABUNGEN IN WIJTSCHATE ENTDECKT

25. Januar 2019 - Ein bisschen ist es wie die Geschichte von Tom Sawyer, der an einem schönen Sommertag den Gartenzaun streichen soll. Doch am Ende gelingt es ihm, all seine Freunde für diese Arbeit zu begeistern - und sie sogar noch dafür bezahlen zu lassen. Ähnlich war es auch bei dem archäologischen Crowdfunding-Projekt im belgischen Wijtschate. Dort wurde ein komplettes Grabensystem samt Bunker und Leitstelle des Ersten Weltkrieges entdeckt und inzwischen freigelegt. Daran haben sich auch viele Archäologen beteiligt, die ihre Arbeit mit Spenden selbst finanziert haben. Auch der Volksbund war beteiligt - und wird die dabei geborgenen Weltkriegssoldaten würdig bestatten.

Fast wirkt es, als sei die Zeit stehen geblieben. Die freigelegte Fundstelle von Wijtschate zeigt eindrucksvoll, wie eine der berüchtigten Grabenstellungen des Ersten Weltkriegs konkret ausgesehen hat. Nachdem der Krieg beendet war, hatte man all die Schützengräben, Bunker und Bombentrichter in Anbetracht der Seuchen- sowie Explosionsgefahr einfach zugeschüttet.

Eingefrorene Geschichte

Die Bauern in der Nähe sowie die im Wiederaufbau befindliche Stadtverwaltung wussten im Groben über die Hinterlassenschaften des Weltkrieges Bescheid. Folglich mieden sie das Areal des Todes, dessen Geschichte so allmählich in Vergessenheit zu geraten drohte. Ausrüstungsgegenstände, Munition und selbst die vielen Toten blieben genau dort, wo sie in diesem Moment lagen. Dieser Moment der Geschichte wurde gewissermaßen eingefroren und blieb bis vor kurzem völlig unangetastet. Doch was für den einen ein Ort des Schreckens und des Krieges ist, der besser gemieden wird, zieht andere förmlich an, die das Wissen um die Vergangenheit für künftige Generationen bewahren möchten. Zu diesen Menschen zählen Archäologen wie Simon Verdegem. Er ist der Projektleiter und auch Ideengeber für das beeindruckende Ausgrabungsprojekt "Dig Hill 80". Mit "Hill 80" oder auch "Hügel 80" ist dabei die zeitgenössische Militär-Bezeichnung für dieses Gelände gemeint, das etwa 80 Meter über dem Meeresspiegel liegt.

Der Vergessenheit entrissen

Auf diesem Hügel, der als solcher kaum noch zu erkennen ist, tobten beinahe über den gesamten Zeitraum des Ersten Weltkrieges schwerste Kämpfe, die sich zudem immer weiter verschärften. Am Anfang waren es nur wenige Schützengräben, dann kamen gemauerte Unterstände, unterirdische Kasernen und Bunker dazu. Am Ende ergab sich ein tödliches Gewirr von Gängen und Höhlen, von Nässe, Kälte, Todesschreien, Stacheldraht und Blut. Dies wurde nun Stück für Stück, Schicht für Schicht wieder dem Erdboden - und damit der Vergessenheit entrissen. Heute ermöglicht diese besondere Ausgrabungsstätte einen authentischen Gesamteindruck vom Alltag, vom Leben und Sterben in den Schützengräben. Aufgrund der Vielzahl und der Qualität der geborgenen Artefakte sprechen Historiker daher auch vom "Pompeji des Ersten Weltkriegs". Die Ausgräber finden viel Militärisches aber auch private Artefakte, der dort gefallenen Soldaten: Feldflaschen, Essbesteck, Karabiner, Munition und viele, viele Knochen.Das alles fachmännisch zu bergen, kostet viel Zeit und noch mehr Geld. Doch die belgische beziehungsweise flämische Regierung finanziert solche Ausgrabungen nur noch, wenn sie zufällig entdeckt werden. Die gezielte archäologische Suche nach den Zeugnissen des Ersten Weltkrieges ist damit faktisch auf die Finanzierung privater Initiativen angewiesen. 

Arbeiten - und dafür bezahlen

Das diese Finanzierung im Fall des Hill 80 als so genanntes Crowdfunding funktionierte, sorgte auch international für besonderes Interesse: Wer an der Wijtschate-Ausgrabungsstelle mitarbeiten wollte, konnte dies tun - allerdings mittels der oben beschriebenen Sawyer-Methode, sprich: gegen Bezahlung. Ein Tag Mitarbeit kostete 295 Euro, zwei Tage 480 Euro und die ganze Woche freiwilliger Arbeit schlug mit stolzen 920 Euro zu Buche. Das sind ordentliche Summen. Dennoch waren die so erstandenen Arbeitsplätze schnell vergeben. In nur zwei Monaten wurde das Projekt zuzüglich der Unterstützung durch zahlreiche Sponsoren voll finanziert.

Dennoch werden die neu gefassten Bestimmungen der archäologischen Feldforschung auch für professionelle Gräberdienste wie den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge zu einem finanziellen Problem. Yvan Vandenbosch ist seit 15 Jahren Volksbund-Beauftragter für die gesamte Region und befürchtet nun eine regelrechte Kostenlawine: "Die neuen Auflagen verlangen, dass bei jeder unserer Ausbettungen - und seien es auch nur zwei Soldaten - jeweils ein Archäologe sowie ein Anthropologe hinzugezogen und natürlich bezahlt werden müssen. Dazu kommen viele weitere Auflagen, wie beispielsweise eine Genanalyse der gefundenen Gebeine. Das können wir uns in Anbetracht der großen Zahl der noch zu Bergenden gar nicht leisten", meint der 69-Jährige.  

Die Arbeiten am Pompeji des Ersten Weltkrieges in Wijtschate waren aber auch aus Sicht der Gräberdienste dennoch ein großer Erfolg. Durch die fachmännische Arbeit der vielen Freiwilligen wurden neben all den Artefakten und Stellungen auch die Gebeine von fast 100 Soldaten unterschiedlicher Nationalität geborgen. Da die Stellung die meiste Zeit über in deutschen Händen war, ist der Großteil der gefundenen Gebeine deutschen Kriegstoten zuzuordnen. Insgesamt wurden dem Volksbund daher 70 Tote des Ersten Weltkrieges an Thomas Schock, dem Umbettungsleiter des Volksbundes übergeben. Weitere 26 Tote konnten leider nicht mehr zugeordnet werden. Dazu wurden auch die sterblichen Überreste von neun britischen, drei französischen sowie einem südafrikanischen Weltkriegssoldaten geborgen. 

Sie alle haben lange gewartet, bis sie in einem würdigen Grab die letzte Ruhe finden würden. Geholfen haben Menschen, die für ihre freiwillige Arbeit auch noch bezahlt haben. Das alles ist unglaublich beeindruckend. Am 11. Oktober 2019 wird es dann soweit sein: An diesem Tag werden die Toten von Wijtschate gemeinsam mit weiteren deutschen Kriegstoten, die in Wevelgem, Zonnebeke und anderen belgischen Orten gefunden worden, bei der offiziellen Gedenkveranstaltung durch den Volksbund auf der berühmten Kriegsgräberstätte Langemark bestattet. Erst dann wird der Erste Weltkrieg für sie wirklich beendet sein.

Maurice Bonkat