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Frauenleben im Kassel der Nachkriegszeit

Trümmerfrauen

 

Zur Einführung:

In Kassel wie in anderen Städten gab und gibt es immer wieder Diskussionen zur Würdigung und der  Rolle der sog. Trümmerfrauen. In dem Film „Rama dama“ hat Regisseur Joseph Vilsmaier 1991 den Trümmerfrauen in München ein Denkmal gesetzt. Auch auf den Fotografien der bombenzerstörten deutschen Großstädte sind immer wieder Frauen in Kittelschürze, Kopftuch und Eimerkette zu sehen, die Steine schleppen und Schutt wegräumen. Allerdings ist zu bedenken: Die meisten Bilder, die wir kennen, zeigen das zerstörte Berlin und dort gab es tatsächlich viele Frauen, die Ziegel räumten und reinigten und Schutt abtrugen. Doch der Mythos der Trümmerfrauen, die das zerstörte Land aufgeräumt und wieder aufgebaut haben, steht auf wackeligen statistischen Füßen.

 

Wir haben die Diskussionen, die zum 75. Jahr des Kriegsendes unter anderen auch in Kassel geführt wurden, zum Anlass genommen, Dr. Ellen Spielmann, eine gebürtige Kasselerin, die jetzt in Berlin lebt und arbeitet, dazu zu befragen. Im ersten Teil ihres Textes beleuchtet sie das Thema Trümmerfrauen kurz auf die historische Wirklichkeit, im zweiten Teil erzählt sie von den Erinnerungen ihrer Familie aus Kassel.

Noch ein Hinweis zu den Bildern: Kassel erlebte im Oktober 1943 die verheerendsten Luftangriffe durch alliierte Bomberverbände. In Kassel wurden über 10.000 Menschen dabei getötet.

 

Auf den Bildern, die uns das Kasseler Stadtarchiv kostenfrei zur Verfügung gestellt hat, sind „ukrainische Trümmerfrauen“ zu sehen. Das waren ukrainische Zwangsarbeiterinnen, die in einem Zwangsarbeiterlager in Espenau bei Kassel untergebracht waren und jetzt Schutt räumen mussten.

 

Diane Tempel-Bornett

 

 

Trümmerfrauen – Frauen räumen auf

 

Der starke Mythos der Trümmerfrauen, dieser deutschen Heldenfiguren der Nachkriegszeit, hält sich bis heute hartnäckig. Seine bildgewaltige öffentliche Inszenierung, die immer wieder entfacht wird, zeigt weiterhin Wirkung. Dagegen finden profunde aktuelle Studien, die beweisen, dass die Existenz von steinklopfenden und schutträumenden Frauen auf Berlin und der ehemals sowjetisch besetzten Zone begrenzt war, in der breiten Öffentlichkeit kaum Gehör. In Berlin machten die sogenannten „Trümmerfrauen“ 5 % der Bevölkerung aus. Es waren Hilfsarbeiterinnen, die über maximal 1 Jahr gegen Lebensmittelmarken (Kategorie Schwerstarbeit) Dienst leisteten und damit maßgeblich zum Überleben der Familie beitrugen. In Westdeutschland gab es das Phänomen Trümmerfrau in der Form nicht. Das Bild der Trümmerfrau wurde nachweislich nach dem Modell der Heroin der Nazipropaganda fabriziert. Ihre Botschaft vom hilflosen Opfer des Luftkriegs, das sich befreit und zur tatkräftigen Arbeiterin avanciert, wurde übernommen und die Trümmerfrau gerierte medial aufgearbeitet via Fotoreportage und Film zum Vorbild der Aufbaugeneration. In der Praxis wurden bei regionalen Unterschieden zur Trümmer- und Schuttbeseitigung keine Freiwilligen, sondern Sicherheits- und Hilfsdienste sowie schweres Gerät eingesetzt. Strafgefangene und auch Arbeitslose wurden zwangsverpflichtet.

 

 

Erinnerungen an Kassel nach dem Bombenangriff

Auch wenn für Kassel bisher keine detaillierten historischen Studien über die große Zahl der Akteure zu Beginn des Wiederaufbaus vorliegen, wissen wir heute, dass es keine Trümmerfrauen gab. Die 2018 von der Stadt Kassel als „Baumeisterin“ geehrte Ursula („Ulla“) Schultz (Jahrgang 1923), kannte ich persönlich vom „Badeplatz“, dem Vereinshaus des Casseler Schwimmvereins Kurhessen (CSK 98) an der Fulda. Von der Hessischen Allgemeinen wurde sie anlässlich der Preisverleihung als „Trümmerfrau“ stilisiert. Doch de facto war sie keine mit Lebensmittelkarten entlohnte Hilfsarbeiterin, sondern eine der vielen integeren Frauen, die zusammen mit der Familie anpackte, aus Schutt und Trümmern Baumaterial herausfischte, Recycling betrieb zur Neuerrichtung des niedergebrannten Vereinshauses an der „Fulle“ (Fulda) wie sie als alteingesessene Kasselanerin sagte.

 

Schülerinnen und Schüler wurden zu  Aufräumarbeiten verpflichtet

Kasseler Gymnasien, z.B. die Heinrich-Schütz-Schule, verpflichteten ihre Schüler und Schülerinnen in den Sommerferien 1946-47 zwei Wochen lang an Aufräumarbeiten teilzunehmen. Meine damals 16-jährige Mutter und meine Patentante, Schulfreundin meiner Mutter, erzählten mir mit Hammer und Meißel in der Nähe des Stadtkrankenhauses Steine geklopft und die gesäuberten Ziegelsteine zu Mauern aufgeschichtet zu haben. Nach einigen Tagen hätten sie aus Überdruss an der öden Arbeit Bretter gesucht und Hausmauern mit Fenstern und Türen „gebaut“, bis der Aufseher kam und fluchte: „wir sind hier nicht zum Spaß da“. Auch zum Kartoffeln Schälen im Krankenhaus wurden die Schulmädchen eingesetzt. Meine Tante, die ein Jahr jüngere Schwester meiner Mutter, erinnert sich in der Nähe der Theaterruine am Friedrichplatz Ziegelsteine aus den Trümmern gesucht, gereinigt, geschleppt und zu Hunderten aufgeschichtet zu haben. Unbrauchbares Material und Schutt wurde zum Abtransport in Loren geschüttet. Auftrag war, Brandmauern nicht abzureißen. Bei der körperlich schweren Arbeit, kippten manche Mädchen um, arbeiteten aber dann bald weiter.

 

„Kassel ist nicht mehr“ (Tagebucheintrag 1943)

Wie war das Frauenleben in Kassel in der unmittelbaren Nachkriegszeit? Grundlegende historische Forschungen zu Kassel konzentrieren sich auf die Bombardierung am 22. Oktober 1943 in der die Stadt dem Erdboden gleichgemacht wurde, 10.000 Menschen starben (unter ihnen war auch mein Großvater), an die Folgen bis zum Kriegsende 1945 sowie in der Zeit des Faschismus. Die Rolle Kassels als Zentrum der Rüstungsindustrie steht dabei im Zentrum. In Jubiläumsbänden wichtiger Institutionen Schulen, Kultur- und Sportvereine, die die Nachkriegsjahre streifen, sind Frauen zwar präsent, aber spezifische Studien stehen noch aus. Zeugnisse vom Leben der Frauen zirkulieren mündlich im Familien- und Freundeskreis, es existieren Tagebücher, Fotos, Filme und Briefe. Soweit ich weiß wurde bisher nichts davon publiziert. Bis zur Währungsreform 1948, die auch keine schlagartige Veränderung brachte, drehte sich das Leben der Zivilbevölkerung, mehrheitlich Frauen, um das pure Überleben.

 

Zum Trauern blieb keine Zeit – 18 Menschen mussten versorgt werden

Meine Großmutter (geb. 1905) kam aus einer gut situierten Familie, sie hatte sechs Kinder. Nach der Bombennacht 22. Oktober 1943 war sie Witwe, das jüngste Kind 3 Monate alt. Von nun an musste sie das Überleben der zur Großfamilie angewachsenen Sippe - ausgebombte Familienmitglieder u.a. ihre Mutter, geflüchtete Verwandte (aus Danzig und dem Rheinland) und Flüchtlinge, später aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrende traumatisierte Neffen - organisieren. Das zweistöckige Haus am Rand des Ortsteils Harleshausen war bis auf Risse in den Wänden und kaputte Fensterscheiben instand geblieben und bot allen Platz. Täglich galt es mindestens 18 Personen im Alter zwischen 3 Monaten und 60 Jahren zu versorgen. Die Lebensmittelrationen waren unzureichend, zusätzliche Nahrungsquellen unerlässlich. Zum Haus gehörte ein großer Grund auf dem eine kleine Landwirtschaft betrieben wurde: 2-3 Schweine, 30 Hühner, 10 Truthühner, dazu Enten und Gänse, 30 Kaninchen, die in Stallungen, Garagen, im Winter teils in der großen Wohnküche untergebracht waren. Ein großer Obst- und Gemüsegarten, kleine Gewächshäuser gehörten zur Bewirtschaftung. „Davon lebten wir“, sagten meine Mutter und Tante. Beeren suchen, Pilze sammeln, Löwenzahn stechen, Brennnesseln zupfen, Kamillenblüten, Hagebutten, Wildkräuter pflücken, Klee, Gräser, Eicheln für die Tiere zu beschaffen, all das gehörte zum arbeitsreichen Programm der älteren Kinder. Beim ersten Frost wurden Bucheckern gesammelt, im Ofen getrocknet, dann geschält und gemahlen zum Plätzchen-Backen verwendet. Einmal gelang es das notwendige Quantum an Bucheckern zu sammeln um in der Ölmühle 1 Flasche Öl zu pressen.  Meine Großmutter führte den Haushalt, verteilte die viele Arbeit in Haus - Kochen, Backen, Putzen, Flicken, Nähen, Reparieren - und Hof  - Tierversorgung, -schlachtung sowie im Garten, Pflanzen, Wasser tragen, Gießen, Ernten. Das Zusammenleben in schwierigen Zeiten, insbesondere dem Hungerwinter 1946-47, musste gestaltet werden: gegen unsoziales Verhalten und männliches Gehabe, um rationierte Lebensmittel, etwa um Butter und Fleisch diplomatisch, aber pragmatisch vorzugehen. Gab es kein Koks mehr für die zentrale Heizung, froren Wasserleitungen und Toiletten ein. Der Küchenherd wurde mit Holz beheizt. Es galt im Wald Unterholz zu sammeln. Holzfrevel stand unter Strafe. Bei häufigem Strom- und Wasserausfall halfen Karbidlampen und Wasservorrat. Wichtige Entscheidungen über Sicherheit und Ausbildung traf meine Großmutter allein: als Kassels Schulen nach dem Bombenangriff 1943 schlossen, entschied sie, die schulpflichtigen Kinder anstelle in das Landverschickungsheim in Bad Wildungen, die drei großen Mädchen in das Gymnasium im 30 km entfernten Hofgeismar zu schicken. Angesichts der massiven Zunahme der Kampfhandlungen beschloss sie im Frühjahr 1945 ihre Kinder, bis auf die Älteste, meine Mutter, zu evakuieren. Nach Wilhelmshausen im Fuldatal, 23 km von Kassel und nach Gieselwerder an die Weser. Im Mai 1945, einen Monat nach der Kapitulation der „Festung Kassel“ (4. April 1945), machte sich meine Großmutter mit ihrer Freundin zu Fuß mit dem Leiterwagen und Rucksäcken auf den 42 km langen Weg durch den Reinhardswald um nach den Kindern in Gieselwerder an der Weser zu sehen und sie zurückzuholen.

 

Du wolltest ein Brot und bekamst eine Kerze

Die Versorgung der Zivilbevölkerung nach dem Krieg durch Bezug auf Lebensmittelmarken war schlecht: „Du wolltest ein Brot holen und bekamst eine Kerze“, sagt meine Tante. Meine Mutter erinnerte sich, dass meine Großmutter einmal mit allen Kindern aufs Land ging, um eine Bauersfrau um Milch und Essen zu bitten. Sie hätte das „Betteln“ als 14-jähriges Mädchen als sehr peinlich empfunden. Auf Bezugsscheine für Kleidung „gab es schreckliche Sachen, kratziges Material“, sagt meine Tante. Aus alten Vorhängen nähte sie für alle Kinder Schlafanzüge. Die „gute Wolle lachsfarbener Kleider wurde aufgeribbelt“ und daraus wurden „Unterhosen gehäkelt“. Eine „Wohltat“ für die „von den Holzklippern malträtierten Füße“ waren selbstgenähte „Hauschuhe Modell Moccassins“, als „Füllstoff diente ausgekämmtes Haar“.

Die einquartierten US-amerikanischen Soldaten hinterließen ihre Tornister, da gab es Lederreste, die recycelt wurden und als Verschluss für Tore und Türen Verwendung fanden. Im Tauschhandel wurde Obst gegen bunte Ungarntücher getauscht. Im November 1945 konnten meine Mutter und Tanten wieder die Heinrich Schütz Schule besuchen. Der Unterricht fand bis 1947 in Baracken des Realgymnasiums in der Kölnischen Straße 89 statt. Jeder Schüler musste im Winter täglich Holz für den Ofen mitbringen. Der 8 km lange Schulweg war weitgehend zu Fuß zurück zu legen. Im Sportverein KSV Hessen nahm meine Tante 1946 an Waldläufen teil, meine Mutter ging im CSK 98 im Sommer in der Fulda zum Schwimmen. Weihnachtsfeier und Frühlingsfest mit Tanz waren die ersten Vergnügungen.

1948 erwarb meine Großmutter in Oberufhausen (Rhön), ein Panjepferd und einen Pferdewagen. Sie verkaufte Obst an verschiedene Geschäfte in Kassel, z.B. das Delikatessengeschäft Lottermoser in der Wilhelmstrasse. Der Schuster in Oberufhausen fertigte nach und nach Schuhe für die Familie. Meine Tante ging mit der Mittleren Reife von der Schule ab, arbeitete ein Jahr im Haushalt ihrer Mutter und begann eine Banklehre bei der Rhein-Main Bank (später Dresdner Bank), sie erhielt erst 32, dann 35 Mark. Sie gab meiner Großmutter Geld für Kost und Logis, abzüglich der „Busfahrkarte blieben ein paar Mark“. Auf „eine Bluse sparte ich ½ Jahr“. Meine Mutter machte 1951 an der Heinrich-Schütz-Schule Abitur, ihren Chemiestudienplatz in Hamburg trat sie nicht an, sie heiratete 1952 meinen Vater und bekam Kinder.

 

                                                                  

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Dr. Ellen Spielmann, in Kassel 1958 geboren, Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, promovierte am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen, z.Zt. affilierte Forscherin am Hannah Arendt Institut, Technische Universität Dresden, lebt in Berlin.

 

 

 

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