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Gedenkstätte im Wald von Bikernieki

Gedenkstätte im Wald von Bikernieki

Über die Gedenkstätte der Naziopfer im Wald von Bikernieki, Riga, und zur Geschichte dieses Ortes
von Margers Vestermanis, Historiker, Leiter des Museums „Juden in Lettland“, Mitglied der Historikerkommission Lettlands:

Die Gedenkstätte Bikernieki befindet sich am größten Massengrab von Naziopfern in Lettland.
Nach der Vertreibung der Naziokkupanten stellte der Förster eine genaue Mitteilung über die Begräbnisorte zusammen:
„Im Jahre 1941 sind insgesamt 12 Gruben mit insgesamt 518 m² in der Senke bei dem trigonometrischen Turm ausgehoben worden. Danach wurde ein Erschießungsort ausgewählt, 340 Meter vom Forsthaus entfernt auf derselben Seite der Chaussee, etliche Meter von der Chaussee entfernt, eine Aushebung von 29 m². Weiter, wenn man vom Weg nach rechts abbiegt, ca. 160 Meter von der Chaussee entfernt auf der anderen Chausseeseite beginnt das Unterholz, der Übergang zum eigentlichen Wald. Hier im südlichen Teil des Waldes sind 42 Gruben mit einer Fläche von 2338 m². Hier erfolgten die Erschießungen von 1942 bis 1944.“ (Lettisches Staatsgeschichtsarchiv, im Folgenden LVVA 132/30/35/ S. 5f.).
Mithin umfasst die Gedenkstätte Bikernieki 55 größere und kleinere Opfergräber mit einer Fläche von 2885 m². Die sowjetische „Staatliche Außerordentliche Kommission“, die sich mit der Erfassung und Erforschung der Naziverbrechen beschäftigte, errechnete, dass im Wald von Bikernieki vom Sommer 1941 bis Herbst 1944 46.500 Menschen ermordet wurden (LVVA, 132/26/4 S. 1f.). Dennoch ist das nur eine Annahme, denn im Spätherbst 1944, als die sowjetischen Experten begannen, die Massengräber zu untersuchen, waren die Gruben leer.

Die Nazis hatten von Beginn an große Aufmerksamkeit auf die Verschleierung ihrer Verbrechen gelegt, davon zeugen unter anderem eine Reihe von Archivdokumenten. So im Polizeirundschreiben vom 5. November 1941. Besonderes Augenmerk sei den „Exekutionsorten, den Juden- und Kommunistengräbern, bei denen Kommunisten demonstrieren könnten“ zu widmen (LVVA, 1371/1/49/ S. 26). Oder auch das Rundschreiben der Polizei vom 25. April 1942 und das vom Gesundheitsdepartement des 17. Juli 1942 über Seuchengefahr, die in der Sommerhitze über den oberflächlich bedeckten Massengräbern entstand (LVVA, P-54/1/11 S. 78; 4462/1/38 S. 16).
Entsprechende Beschwerden kamen auch von Einwohnern, die in der Umgebung des Waldes von Bikernieki lebten. Sanitätsarzt V. Brauks wurde vom staatlichen Gesundheitsdirektor Rigas dazu beauftragt, diesen Beschwerden nachzugehen. Er bezeugte später, dass er zusammen mit dem Polizeibezirksaufseher und dem Hilfssanitätskontrolleur viele Spuren von Massengräbern gesehen habe, aber „.. an einem Ort von jenen zugeschütteten Gruben war reichlich starker Gestank zu riechen, an anderem Ort (…) konnte man ein Leichengesichtsteil und den Teil eines Stiefels sehen (…). Nicht weit von diesen Gruben entfernt sah ich einige zehn Männer, dem Äußerlichen nach zu urteilen Juden, die eine neue Grube aushoben“ (LVVA, 132/30/42 S. 42). Das war das „Bild“ im Bikernieki Wald im Sommer 1942.

Im Sommer 1943 nach dem deutschen Misserfolg an der Ostfront und dem Beginn des Rückzugs kümmerte sich der SS Reichsführer Himmler selbst um die Massengrabproblematik. Es wurde beschlossen, überall die Naziopfermassengräber aufzugraben und die Leichen zu verbrennen und die nicht verbrannten Knochen zu zermahlen, um somit die Spuren der Verbrechen zu verheimlichen. Mit der Organisation dieser Arbeiten, für die ein eigener terminus technicus erfunden wurde - „Enterdung“, wurde der frühere Architekt und höhere SD Offizier, SS Standartenführer Blobel beauftragt und zum Kommandeur des Sonderkommandos „SK-1005“ ernannt. Die Leute von Blobel begannen in der Ukraine. Danach führten sie ihre Ausgrabungsarbeiten im ganzen Hinterland der deutschen Ostfront mit ihren Millionen Opfern fort.
Als Arbeitskräfte benutzte man Juden und sowjetische Kriegsgefangene. Sie wurden von SS Offizieren befehligt. Die Wachen wurden vervollständigt durch deutsche Polizeibataillone.
Für die Ausgrabungen im Baltikum bildete man die Sondereinheit „SK-1005-B“ unter der Führung des SS-Sturmbannführers Walter Helfsgott. Seine „Arbeit“ ist das erste Mal in der Dissertation des bekannten Berliner Historiker Hans-Heinrich Wilhelm erforscht und beschrieben („Die Einsatztruppe A“ S. 416) und später 1968 erhellt worden vor dem Stuttgarter Schwurgericht durch den ehemaligen Offizier des Sonderkommandos F. Zietlow, als ihm gemeinsam mit H. D. Sohn, W. Helfgott und F. Kirstein der Prozess gemacht wurde. Helfsgott war mit seinem Sonderkommando „1005-B“ am 9. April 1944 in Riga eingewiesen worden und zögerte nicht, die Arbeit zu beginnen, als ihm der in Lettland die deutsche Sicherheitspolizei und den SD kommandierende Rudolf Lange 30 Juden aus dem KZ Riga-Kaiserwald (Mezaparks) zur Verfügung stellte. Da die Gefangenen gefesselt arbeiteten und an Bäumen angekettet auf offenem Feld an Ort und Stelle übernachten mussten, verließen sie bald ihre Kräfte. Dort erschoss man sie und verbrannte sie auf den von ihnen selbst aufgehäuften Scheiterhaufen aus Leichen. Aus dem Kaiserwaldlager brachte man neue zum Tod verurteilte Gruppen von Totengräbern. Im Gefangenenlager wurde der Arbeitsplatz vom Sonderkommando mit „Stützpunkt“ bezeichnet, was einen üblen Ruf bekam, weil niemals jemand von dort her zurückkehrte. Schätzungsweise nicht weniger als 300 jüdische Gefangene kamen von diesen grauenhaften Arbeiten am „Stützpunkt“ nicht mehr zurück.

Mit dem Rückzug der Wehrmacht aus dem okkupierten Territorium der UdSSR kamen in Lettland auch andere Einheiten der „SK-1005“, die sich beeilten, die Spuren der Verbrechen der Massengräber zu verheimlichen. Wenn man auch versuchte, die Leichenverbrennungsorte mit Blechen einzugrenzen, waren die grauenhaften schwarzen Rauchschwaden nicht zu übersehen. Im „Zustandsbericht“ vom 17. Mai 1944 bemerkte der Aufseher der Sicherheitspolizei dem Leiter des Stützpunktes des Rajons Jekabpils gegenüber unter anderem:
„In der Gesellschaft hat sich das Gerücht gezeigt, dass die Deutschen in großer Geheimhaltung die jüdischen „E“ (gedacht – Exekutionen M.V.) - Orte ausheben und die Leichen verbrennen. Das geschah auch in Rigas Umgebung“ (LVVA 252/1/44 S. 89). Dem Sonderkommando „1005-B“ gelang es nur, die Massengräber in Bikernieki und Salaspils Umgebung aufzugraben, alle übrigen Orte bis zum September 1944, als die Front sich schon Riga genähert hatte, übernahmen Blobels Untergruppen selbst auf dem Weg zur Evakuierung auf dem Seeweg nach Deutschland vor Rigas Einnahme (H.-H. Wilhelm: Dissertation S. 417). Von der Eile der Männer des Sonderkommandos zeugen nicht nur die einzelnen „unbearbeiteten“ Grabplätze in Smerlis und Salaspils, sondern auch die im Bikernieki Wald zurückgelassenen 60 leeren Ölfässer (A. Sakse: Friedhöfe des Grauens in „Cina“ vom 14. Dezember 1944).
Die von den sowjetischen Experten genannte Gesamtzahl der Opfer (46.500), die nach den (ausgehobenen) Kubikmetern geschätzt wurde, war solange nur eine Annahme. Die wahre Zahl der Opfer, die in Massengräbern des Waldes von Bikernieki ruhen, wird niemals ganz sicher und präzise bestimmt werden können. Doch die heute zugänglichen Archivalien geben eine wesentlich realistischere Vorstellung von den Dimensionen der hier stattgefundenen Tragödien, und ebenso eine größere Klarheit über die verschiedenen hier getöteten Opfergruppen.
Die größte Opfergruppe bilden Juden. Männer und Frauen, Kinder und Greise sind ohne Unterschied ermordet worden, nur weil sie der „jüdischen Rasse“ angehörten. Eine andere Opfergruppe waren die sogenannten Politischen, Aktivisten der sowjetischen Zeit 1940-41 und Beteiligte am Widerstand gegen das Okkupationsregime. Die dritte Gruppe waren sowjetische Kriegsgefangene.

Die grauenhaften Gräber des Waldes von Bikernieki begannen gleich zu Beginn der Naziokkupation Gestalt anzunehmen, als man die erste Gruppe von gefangenen jüdischen Männern aus dem Rigaer Zentralgefängnis (RCC) in der Nacht des 1. oder spätestens am 2. Juli 1941 erschoss. Obwohl die Dokumente der Nazis nur sehr fragmentarisch erhalten sind, ist es dennoch bezeugt, dass allein in Bikernieki innerhalb von zwei Wochen schon 2.300 Juden ermordet wurden, aber bis Ende August etwa 6.000 (EM Nr. 24 vom 16.07.1941, Zusammenstellung der Rigaer Präfektur über gefangene Juden Bericht Nr. 5 vom 16. August 1941; Sammlung des Museums „Juden in Lettland“, Inv. III-2007, III-2008).
Faktisch forderte die erste Vernichtungswelle der Juden – nicht 6.000, sondern eher 7.000 Opfer. In jedem Fall waren die Rigaer Gefängnisse so gut wie „judenfrei“ - der SD konnte berichten, dass sich bis Mitte September 1941 nur 172 Juden im Gefängnis befanden (EM Nr. 88 vom 19.09.41).
Die Tragödie der Juden im Wald von Bikernieki war damit noch nicht beendet – nicht umsonst hatte ein unbekannter Vorgesetzter des Ostlandes die Resolution über jenen Bericht von den Eingesperrten gefasst: „Die zweifelsfrei identifizierten Juden und Kommunisten sind zu liquidieren“ (LVVA, 70/30/57/ S. 215). Die SD Berichte bezeugt, dass in den nächsten drei Jahren bis zum Ende der Naziokkupation vom Rigaer Zentralgefängnis noch um die 1.000 Juden hierher gebracht wurden, um sie zu ermorden. Zusammen sind es also um die 8.000.
Bikernieki wurde auch vielen Tausenden Juden aus Deutschland, Österreich und Tschechien zum Grab. Nach der Rechnung von W. Scheffler beträgt die Zahl der nach Riga aus dem Ausland deportierten Juden annähernd 28.000. Nach den Daten des Generalkommissars des „Arbeitsamtes“, kamen von ihnen nur 11.000 ins Rigaer Ghetto. Um die 1.000, die unterwegs gestorben waren, sind am Ankunftsort begraben worden, der Bahnstation Skirotava. Etwa 2.000 kamen im Lager Jungfernhof (Jumpravmuiza), weitere tausende Männer im Lager Salaspils um. Die Übrigen, um die 11 – 12.000 Menschen, sind im Wald von Bikernieki ermordet worden. Die Gesamtzahl der Opfer an lettischen und ausländischen Juden beläuft sich somit auf ungefähr 20.000.

Die Zahl der im Wald von Bikernieki ermordeten Nazigegner ist in der Bilanz der Gesamtzahl der Opfer bedeutend geringer. Zunächst, weil es so viele echte und angebliche Kommunisten schon gar nicht gegeben hat. Außerdem waren sie nicht so leicht zu finden wie die Juden. Mitte Juli 1944 befanden sich im Rigaer Zentralgefängnis unter den Gefangenen nur noch etwa 600 „Politische“, im September waren es schon 3.569. Ungeachtet dieser Zunahme der Zahl veränderte sich die Zahl der Gefangenen im Rigaer Zentralgefängnis dann kaum: Im Oktober waren es 3.509, im November 3.325 (LVVA 70/3/57/ S. 215). Das war so nur möglich, weil es regelmäßig eine „Entlastung des Gefängnisses“ gab, über die der Chef der Sicherheitspolizei und der Operativen Gruppe „A“ des SD Stahlecker beständig berichten ließ: „Die Räumung der Gefängnisse geschieht laufend“. Es ist Prof. Edgars Andersons vollständig darin zuzustimmen, dass „in der Zeit der deutschen Okkupation ungefähr 30.000 Letten, Polen, lokale Russen getötet wurden“ (Lettische Enzyklopädie, 3. Band S. 309). Wegen der Typhusepidemie und des starken Winterfrosts 1941/42 wurde zeitweise darauf verzichtet, die Verurteilten in den Wald von Bikernieki zu bringen. Für das Jahr 1942 sind Aufzeichnungen über Erschießungen von Gefangenen des Zentralgefängnisses im Wald von Bikernieki erhalten:
17. Februar – 144 Menschen, 1. Juli – 796 Menschen, im September 140 Menschen, im Oktober - 136 Menschen, im November – 103 Menschen (Sammlung des Kriegsmuseums, Negativ-Nummer 1929/5).

Unter den in dieser Zeit im Wald von Bikernieki Ermordeten befinden sich auch eine Reihe berühmter lettischer Kulturschaffender: der allgemein bekannte Pädagoge Janis Lieknis und seine Lebensgefährtin, die Lehrerin und Literatin Emma Vitenberga-Liekne, der Maler Janis Aizens, der Operndekorateur Roberts Lukss u. a. 1942 und besonders 1943 fanden im Rigaer Zentralgefängnis Veränderungen in der Zusammensetzung der Gefangenen statt – 1941 / 1942 waren die sowjetischen Aktivisten schon erschossen, gestorben oder nach Salaspils deportiert worden. Neue Gefangene waren hauptsächlich wegen Tätigkeiten im Untergrund, für Unterstützung von Partisanen oder von Kriegsgefangenen eingesperrt worden. Sie erschienen den Nazis noch gefährlicher und darum wurden im Wald von Bikernieki wieder vermehrt Gräber ausgehoben. In der Nacht vom 5. auf den 6. Mai 1943 wurde eine große Gruppe von im Untergrund Tätigen, 238 Menschen, erschossen. Ihre Namen sind in Archivdokumenten erhalten. Sportler, der Leiter einer antifaschistischen Organisation Arvids Rendinieks, die Studentinnen der Universität Lettlands Ligita Reksane und Viktorija Misa, der Lehrer A. Makarovs u.a. (LVVA 132/30/35 S. 7).
Rechtsanwalt K. Munkevics, der sich seit Sommer 1941 im Gefängnis befand, versuchte eine Liste zu führen über die Zahl und die Namen derer, die zum Erschießen weggeführt wurden. Er schätzte, dass im Herbst 1943 insgesamt 1.545 Gefangene erschossen wurden, aber am 5. Januar 1944 nachts 67 Menschen, unter denen sich auch seine Tochter, die Schauspielerin Vera Neplujeva befand. Nach der Rechnung von Rechtsanwalt Munkevics sind aus dem Rigaer Zentralgefängnis etwa um die 5.000 Menschen in der gesamten Zeit der deutschen Okkupation im Wald von Bikernieki zu Tode gekommen (K. Munkevics Bericht für die Außerordentliche staatliche Kommission, „Cina“ vom 15.11.1944). Ich denke, diese Zahl ist als „Arbeitshypothese“ annehmbar.

Die dritte Opferkategorie derer, die im Wald von Bikernieki in Massengräbern verscharrt wurden, ist die der sowjetischen Kriegsgefangenen. Im Unterschied zu den anderen, die hier erschossen wurden, kamen sie hier schon tot an, gestorben durch Hunger, Krankheiten und im Winter auch aufgrund der Kälte. Eine besonders hohe Zahl starb im sehr strengen Winter 1941/42. Die Massengräber in Bikernieki waren nicht die größten für sowjetische Kriegsgefangene, die befinden sich in Ziepniekkalns, Bisumuiza, dem jüdischen Friedhof von Smerlis (Genaueres zu den sowjetischen Kriegsgefangenenlagern in Riga und anderswo siehe M. Vestermanis: „So handelte die Wehrmacht“, Riga 1973 S. 125-128). Im Archiv sind Hinweise zu finden, dass aus dem Zentrallager „Stalag 350“, der Grizinkalns Kaserne in der Pernavas iela, Leichen sowjetischer Kriegsgefangener in den Wald von Bikernieki gebracht worden sind (LVVA 132/30/34/ S. 27).
Wie viele Kriegsgefangene sind nun im Wald von Bikernieki begraben worden? Die Gruben, in denen sich nur Asche und  schwarze mit Erdöl verklebte, halb verbrannte Körperreste befanden, gaben keine Anhaltspunkte dafür. Die Zahl der hier begrabenen Leichen sind mit Sicherheit Tausende, nicht aber Zehntausende, wie jetzt oft behauptet wird. Der Bikernieki Wald und alles, was dort geschehen ist, geschah unter der Kontrolle des SD, weil sich hier ihr „Arbeitsfeld“ befand. Die Kriegsgefangenen und ihre Lager befanden sich in der Kompetenz der Wehrmacht, und darum ließ der SD nicht zu, dass das „konkurrierende“ fremde Ressort einen zu großen Teil von deren Territorium einnehmen würde.
Wir müssen uns auch mit der Annahme zufrieden geben, dass die Zahl der Kriegsgefangenenopfer auf keinen Fall größer war als 10.000, aber die Gesamtopferzahl nicht größer als 35.000.

4.12.2110, Lettischer Bote (Latvijas Vestnesis) Nr. 175 (2562)
Übersetzung: Martin Grahl, 2010