Biographisches in fremde Hände geben
Die Geschichte von Karl Lüftl ist eine von 16, die in der neuen Ausstellung auf der Kriegsgräberstätte Maleme auf Kreta nachgezeichnet sind. Seine Nichte Ingrid Heubeck hat dem Volksbund den Nachlass zur Verfügung gestellt. Karl Lüftl hat den ersten Tag des deutschen Angriffs nicht überlebt. Er starb im Alter von 20 Jahren als Fallschirmjäger am 20. Mai 1941 beim Absprung über Kreta. Wie ist das, Persönliches wie Briefe und Fotos öffentlich zu machen und mit unzähligen Fremden zu teilen? Ein Gespräch.
Frau Heubeck, wie sind Sie auf das biographische Material Ihres Onkels gestoßen?
Meine Mutter, seine Schwester, hat es aufgehoben. Wir hatten es ganz lange nicht mehr in den Händen gehabt, bis wir vor zwei, drei Jahren beim Umbau in der Wohnung meiner Eltern im Keller geräumt haben. Da tauchten dann all diese Briefe und Dokumente auf. Die Fotos hatte meine Mutter in der Wohnung. Ich habe ihr alles gezeigt und zunächst wieder zurück in den Keller getan – auch weil es sehr aufwühlend war, alles in Händen zu halten.
Wie sind Sie auf die Idee gekommen, dem Volksbund das Material zur Verfügung zu stellen?
Der Volksbund hat für die Ausstellung in Maleme gezielt bei meiner Mutter angefragt. Außerdem hat sie einen Aufruf für das Projekt „Kriegsbiographien“ in der Zeitung gelesen. Ich habe dann nach und nach alles mit ihr gesichtet.
Warum haben Sie sich für diesen Schritt entschieden?
Weil es uns ein Anliegen war, dass die Geschichte meines Onkels nicht verloren geht. Aus unserer Sicht ist es wertvoll, wenn die Biographien der Gefallenen erhalten bleiben. Letztlich war es ja so ein sinnloser Tod – sehr schmerzlich für meine Mutter, für ihre Brüder und die Eltern sowieso. Meine Mutter hat ja noch einen zweiten Bruder in Italien verloren. Wir sind viel an die Gräber gereist, als meine Schwester und ich Kinder waren – nach Griechenland und Italien.
Die Anfrage aus Kassel war dann eine sehr schöne Gelegenheit, noch mal alles zu sichten und einen Beitrag zu leisten, um diese Lebensgeschichte auch für andere zu erschließen. Ich war mit meinem Mann 2019 wieder mal auf der Kriegsgräberstätte am Gardasee, in Costermano, wo mein Onkel Sepp liegt. Da haben wir gesehen, wie der Volksbund heute eine moderne Ausstellung gestaltet. Sie ist super gemacht und der biographische Schwerpunkt erschließt die damaligen Ereignisse unmittelbar und irgendwie greifbarer.
Gab es Bedenken oder waren Sie sicher, dass es eine gute und richtige Entscheidung ist, das Material in fremde Hände zu geben?
Das war sehr eindeutig. Meine Mutter hat es leider nicht mehr erlebt. Sie ist vergangenen Sommer gestorben. Aber für sie war ganz klar: Wenn wir einen Beitrag leisten können mit diesen Fotos und Schriftstücken, die zeigen, wie es im Krieg war – von der Einberufung bis zum Tod –, dann sollten wir das tun. Ich finde, es ist eine sehr gute Sache, wenn aus diesem Nachlass noch etwas Wertvolles entsteht – auch für andere außerhalb unserer Familie. Es ist ja wichtig, diese Geschichten zu erzählen.
Aber es ist auch eine Hürde, wenn man es losschickt. Es sind ja ganz persönliche Schriftstücke und Fotos und wir haben alles versendet. Aber wir hatten uns dazu entschlossen und es macht ja Sinn. Und: Man kriegt die Originale wieder zurück.
Wie ist das jetzt für Sie, wenn Sie wissen, dass Fotos und Dokumente in Maleme zu sehen sind, dass der Volksbund sie in seiner Arbeitsbilanz veröffentlicht und per Mail an alle Mitglieder schickt? Wenn Sie merken, dass das jetzt so große Kreise zieht?
Es ist sehr bewegend und auch befremdlich, wenn so viele an der Geschichte teilhaben, die so schmerzlich für unsere Familie war und ist. Es ist so tragisch, dass zwei meiner Onkel sehr jung im Krieg umgekommen sind.
Aber seit ich die Biographien in Costermano gesehen habe, finde ich es so gut, wenn auch Jugendliche und junge Erwachsene das lesen! Ich glaube, da ist eine ganz andere, emotionale Beteiligung möglich. Es entsteht ein anderes Bild davon, wer auf den Friedhöfen begraben ist, wie das im Krieg war und was diese Männer vorher gemacht haben. Die Lebensumstände werden sichtbar. Ich denke, das ist sehr wertvoll zu erhalten – egal, welcher Nation sie angehörten. Und vielleicht kann auf diese Weise ja noch etwas Gutes entstehen – auch aus der Geschichte meines Onkels, so schlimm sie war. Das fände ich einfach sehr schön.
Gibt es einen Teil des Nachlasses, der Sie besonders berührt hat?
Ja, die Briefe. Es sind sehr viele, die meisten in Sütterlin-Schrift geschrieben. Ich habe mit meiner Mutter zusammengesessen und sie hat erzählt aus den Briefen und auch von Erinnerungen, die ihr beim Lesen kamen. Sie hat sowieso immer viel erzählt – aber durch diese Briefe dann noch mehr.
Es war sehr emotional und anstrengend, alles durchzusehen. Und wenn man dann so einen Ausweis in der Hand hält, zerfetzt und blutdurchtränkt, wird das Vergangene so real – es laufen einem Schauer über den Rücken.
Wie wunderbar wäre es gewesen, wenn Onkel Karl hätte weiterleben können, ein so vielfach talentierter junger Mensch. Es ist erschütternd und ein Teil unserer Familiengeschichte.
Frau Heubeck, wir danken Ihnen für den Mut, den Nachlass Ihres Onkels Karl zur Verfügung zu stellen, und für dieses Gespräch.
Welchen Weg die Fotos und Dokumente aus dem Nachlass Karl Lüftl genommen haben, bis sie jetzt auf Kreta die Ausstellung bereichern, lesen Sie hier.
Hintergrund
Der Volksbund sammelt im Rahmen des Projekts „Kriegsbiographien“ Nachlässe und auch Erinnerungen an die Kriegszeit. Sein Ziel ist es, für jede der 832 Kriegsgräberstätten, die er in 46 Ländern pflegt und betreut, mindestens eine Biographie nachzuzeichnen. Wer Material zur Verfügung stellen möchte, erreicht die „Kriegsbiographen“ des Volksbundes per Mail. Es wird eingescannt und zurückgegeben. Was dem Volksbund ganz überlassen wird, wird im Archiv aufbewahrt.
Die neue Dauerausstellung auf der Kriegsgräberstätte Maleme auf Kreta ist aufgebaut und wird am 24. Oktober 2021 offiziell in kleinem Rahmen eröffnet.