Trauer um den Bruder wird nicht kleiner
Vorn der Name auf grauem Stein, dahinter das Hochkreuz, dann ein bewaldeter Hügel mit felsiger Spitze. „Als müsste es so sein“, sagt Franz Jäger. Jahr um Jahr kommt er hierher nach Budaörs – an das Grab seines Bruders. Sie sind zusammen in die Berge gegangen. Mehr als 80 Jahre ist das her und die Trauer wird nicht kleiner.
Ihm, den Jüngeren, haben die Berge womöglich das Leben gerettet – sein Bruder Michael hat den Zweiten Weltkrieg in Ungarn mit dem Leben bezahlt. „Er war mein ein und alles. Er hat mich überall mit hingenommen, obwohl er fünf Jahre älter war. Mit acht zum Bergsteigen, mit 14 auf die Zugspitze übers Höllental. Er hat immer Zeit für mich gehabt“, sagt Franz.
Brief an die Front
„Schau, dass Du einen Heimatschuss kriegst! Der Krieg ist in Bälde aus“, hat er dem damals 21-Jährigen im November 1944 aus dem bayerischen Murnau geschrieben. „Das dürfen wir nicht glauben, sonst könnten wir die Strapazen gar nicht aushalten“, schrieb der Bruder kurz vor seinem Tod zurück. So erzählt es Franz. 96 Jahre alt ist er heute.
Scharfschütze sei der Bruder gewesen und zu dem Zeitpunkt nur noch auf der Flucht vor der Roten Armee. Auch davon wusste der Jüngere: dass Michael drei Tage hinter den sowjetischen Linien war und sich nachts auf Schleichwegen zu seiner Einheit durchgeschlagen hat. „Er hat bei ungarischen Bauern in der Dunkelheit um Essen gebeten. Sie haben ihm was gegeben und ihn weitergeschickt. Ich habe heute noch Hochachtung vor denen, die ihm damals geholfen haben,“ sagt der Jüngere. „Das war nicht selbstverständlich.“
Eingerichtet für den Tag
Im schwarzen Filzjanker sitzt er auf einer der Bänke an einem Weg, der die Gräberfelder unterteilt. Die Familie hat sich – wie jedes Mal – eingerichtet. Bunt gestreifte und geblümte Sitzkissen und blaue Wolldecken, ausklappbare Hocker, eigens angeschafft. So kann die Tochter ihrem Vater gegenübersitzen und Momente der Trauer noch besser teilen. „Aber hier fließen nicht nur Tränen“, sagt sie. „Wir können hier auch lachen.“ Zeit für beides ist genug. Meist verbringen Franz Jäger, seine Frau und seine Tochter den halben Tag an diesem Ort. „Das ist für meinen Vater ganz wichtig“, sagt Stephanie Jäger.
Stellungsbefehl feierlich verbrannt
Noch keine 15 Jahre alt war Franz, als er als Flakhelfer dazu beitragen sollte, das untergehende Hitler-Deutschland zu verteidigen. Im Dezember 1944 wurde er verwundet und entlassen. Anfang Januar kam der Stellungsbefehl. „Den habe ich feierlich verbrannt – auch weil mein Bruder kurz zuvor gestorben war“, erzählt der 96-Jährige, „und bin als Fahnenflüchtiger in die Berge. In der Zeit habe ich viele Hütten gesehen“, umschreibt er sein Untertauchen. Die Angst, entdeckt zu werden, war ständiger Begleiter.
Was Michael ihn gelehrt hat, hat ihm womöglich das Leben gerettet. Und es hat sein Leben geprägt: 75 Jahre war Franz Jäger bei der Bergwacht. Das Abzeichen – die Auszeichnung – steckt an seinem Hut. Gut zu Fuß ist er noch heute und der Geist hellwach. Auch dafür mag das Leben in und mit den Bergen verantwortlich sein.
Ein Grab in Putnok
„Was empfinden Sie, wenn Sie das Grab hier besuchen?“ „Fragen Sie mich nicht. Es ist so schlimm …“ Dann kommen die Tränen.
Sein Bruder war und ist präsent – ein Leben lang. Am 6. Dezember 1944 starb Michael im Grenzgebiet zum heutigen Tschechien und der Slowakei. Schon vier Tage später erhielt die Familie in Murnau die Todesbenachrichtigung. „Er soll nach schwerer Verwundung nicht mehr aus der Ohnmacht aufgewacht sein. Aber das waren Standardbriefe“, sagt Franz Jäger.
In Putnok wurde der Bruder begraben und schon 1946/47 habe es das Angebot aus Ungarn gegeben, sein Grab pflegen zu lassen. „Für 70 Mark im Jahr“, erinnert sich Franz. „Das hat meine Mutter sofort angenommen.“ Auch dorthin fuhr die Familie immer wieder, lernte sogar die Frau kennen, die das Grab pflegte.
Umgebettet nach Budaörs
Irgendwann wurde das deutsche Gräberfeld aufgelöst, bettete der Volksbund die Gefallenen um. Heute ist Michael Jäger auf der größten deutschen Kriegsgräberstätte in Ungarn bestattet: auf dem Sammelfriedhof Budaörs.
„Ich bin gerne hier“, sagt die Tochter. „Es ist ein schöner, ein so friedlicher Ort und gleichzeitig so erschreckend. Man kann das nicht begreifen, nicht fassen – das Staunen darüber hört nicht auf.“
„Immer Thema bei uns“
55 Jahre ist sie heute und kommt jedes Jahr wieder her. Nicht nur, um die Eltern zu fahren. „Michael war immer Thema bei uns. Für meinen Vater sind diese Besuche so wichtig! Darum ist das auch für mich ein ganz zentrales Anliegen.“ Für die Volksbund-Arbeit empfindet sie genauso wie ihre Eltern große Dankbarkeit: „Das ist einfach toll, dass nicht vergessen wird, was passiert ist!“ Zu dritt trotzen sie an diesem Oktober-Tag der herbstlichen Kälte, haben – wie immer – auch Proviant mitgebracht.
Schneller Entschluss
Der jährliche Besuch war schon im März. Dann kam die Einladung des Volksbundes, bei einer Einbettung dabei zu sein: 85 Soldaten, die der Umbettungsdienst in den vergangenen Monaten geborgen hat, finden im Oktober in Budaörs ihre letzte Ruhestätte. Schnell waren sich die Jägers einig: „Dann fahren wir halt nochmal hin.“ Die Gedenkveranstaltung wird am nächsten Tag sein – nun genießen sie die Ruhe hier.
Nieselregen setzt ein, die drei packen ihre Sachen zusammen.
Bis der Regen aufhört, sitzen sie im Trockenen auf einer Bank unter dem Dach des Eingangsgebäudes. Darüber an der Wand ein Zitat von Albert Schweitzer: „Kriegsgräber sind die großen Prediger des Friedens.“ Es spricht ihnen aus den Herzen.
Einen Bericht zur Gedenkveranstaltung im Oktober 2023 finden Sie hier: Einbettung in Budaörs: „Auf dem Totenfeld den Frieden erinnern“.