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„Komm wieder und besuche Deinen Papa“

Axel Erb über die Suche nach einem Grab und das „größte Wunder“ seines Lebens
Ein Artikel von Christiane Deuse

Axel Erb erzählt eine der bewegenden Geschichten, die wir schlicht mit „Schicksalsklärung“ überschreiben. Er nennt sie „das größte Wunder meines Lebens”. Im Mittelpunkt steht sein Vater. Sie beginnt am Ende des Zweiten Weltkrieges im westfälischen Lüdenscheid und endet 2017 im polnischen Siemianowice Śląskie (früher Laurahütte). Dazwischen liegen Orte wie Zdunska Wola und Pabianice (früher Pabianitz), schier unglaubliche Begegnungen und die Arbeit des Volksbundes.

Ungewissheit bis September 1954

Der 88-Jährige blickt zurück:
Mein Vater war zum Ende des Krieges nicht heimgekehrt. Wir wussten nicht, ob er gefallen war. Er galt als vermisst – in welcher Gegend, war nicht bekannt. Meine Mutter hat sich geweigert, ihn für tot erklären zu lassen. So lebten wir in Ungewissheit bis zum September 1954.

Als ich abends nach Hause kam, fand ich meine Mutter und meinen Bruder weinend vor. Sie legten mir einen kleinen DIN A5-Brief von der „Vermisstenstelle für Angehörige der ehemaligen Deutschen Wehrmacht" auf den Tisch. Ich besitze ihn noch heute – den Text habe ich nie vergessen.

„Grablage ist nicht bekannt“

Hier ein Auszug:

„Sehr geehrte Frau Erb,
hiermit teilen wir Ihnen mit, dass im Januar 1945 in Polen ein unbekannter deutscher Offizier tot aufgefunden wurde. Aufgrund der Erkennungsmarke und unseren Akten haben wir ermittelt, dass es sich um Ihren Ehemann, Oberst Max Erb, handelt. Näheres über Todesort, Todesart und Grablage ist nicht bekannt. Die Information stammt vom Polnischen Roten Kreuz in Warschau. Wir sprechen Ihnen hiermit unsere Anteilnahme aus. Das Standesamt in Ihrem Wohnort ist von uns informiert.“

Damit war alles erledigt. Mein Vater war einfach verschwunden. Für immer.

Recherche 1971 in Polen

Von 1970 bis 1972 war ich als Export-Manager einer Firma für alle Länder „hinter dem Eisernen Vorhang" verantwortlich. Also auch für Polen. Den Brief habe ich Anfang 1971 mit nach Warschau genommen. Mit Maria, der Dolmetscherin unserer polnischen Generalvertretung, bin ich zum Polnischen Roten Kreuz gegangen, um nach Informationen über meinen Vater zu fragen.

Nach wenigen Minuten war seine Akte da und nachdem ich einen Schein in die Spendenbox gesteckt hatte, durfte ich einen Suchantrag ausfüllen. Auf meine Frage, ob dies denn nach über 25 Jahren noch sinnvoll wäre, erhielt ich die Antwort: „Wir sind hier in Polen viel zu gute Christen, um die Gräber unserer früheren Feinde aufzulösen“. Eine erstaunliche Bemerkung.

Man wollte alle Zivilfriedhöfe in Polen (auf denen deutsche Soldaten beigesetzt worden waren) sowie die dem Roten Kreuz bekannten Soldatenfriedhöfe untersuchen. Wie ich später aus Statistiken erfuhr, waren in Polen mehrere 100.000 deutsche Soldaten gefallen. Wie groß war die Chance, das Grab meines Vaters zu finden?

Volksbund-Nachricht 1972

Im Juni 1972 bekam ich in meiner Firma eine neue Aufgabe und flog zum letzten Mal nach Warschau, um mich von meinen Geschäftspartnern zu verabschieden und für die gute Zusammenarbeit zu danken. Die Reise war für einen Montag geplant und sollte nur zwei Tage dauern.

Als ich am Freitag der Vorwoche nach Hause kam, legte mir meine Frau einen Brief vom Deutschen Roten Kreuz vor. Die polnische Partnerorganisation hatte das Grab meines Vaters gefunden: in Zdunska Wola, etwa 40 Kilometer südwestlich von Łódź (dem früheren Litzmannstadt) entfernt. Für mich ein Wunder.

Natürlich verlängerte ich meinen Aufenthalt in Warschau, um mit einem Mietwagen nach Zdunska Wola zu fahren. Der Direktor unserer Vertretung hielt das Vorhaben ohne Orts- und Sprachkenntnisse für sinnlos. Und doch stellte er mir seinen Firmenwagen, den stellvertretenden Direktor als Fahrer und Maria als weitere Dolmetscherin zur Verfügung.

Tränen in Zdunska Wola

So fuhren wir die rund 200 Kilometer nach Zdunska Wola und kamen in ein kleineres, sehr armes Dorf: nur ungepflasterte Straßen, Pferde zogen Schlitten, weil die Bewohner keine Wagen mit Rädern besaßen. Am Friedhof trafen wir auf einen älteren Herrn mit Mütze und viel zu großer, abgetragener Kleidung. Es war der „Totengräber" des Friedhofs und hatte im Januar 1945 mitgeholfen, das Massengrab für hunderte deutscher Soldaten auszuheben. Er führte uns an die richtige Stelle.

Mir liefen die Tränen, als ich vor der Ruhestätte stand. Sie war mit einem Kreuz versehen und mit einem eisernen Zaun umgeben. Nach Auskunft des Totengräbers sollten dort etwa 300 deutsche Soldaten beigesetzt worden sein. Ich kaufte einen Strauß Narzissen und ging zum Grab zurück. Danach verließen wir den Friedhof.

Piotr und seine Erinnerung an 1945

Und nun geschah ein weiteres Wunder. Maria fragte mich, ob wir noch etwas Zeit hätten, die Zweigstelle ihrer Firma in Łódź aufzusuchen. Dort angekommen, traf ich Piotr wieder, einen meiner früheren Partner auf meinen Reisen durch Polen. Wir kannten uns seit knapp zwei Jahren.

Man bat mich in einem größeren Kreis um einen Bericht, was ich erlebt hätte. Während meines Berichtes fing Piotr plötzlich an zu weinen. Wir gingen zusammen nach draußen und dort fragte er mich, ob ich genau wissen möchte, wie mein Vater gestorben sei. War das ein Scherz? Nein, das konnte in dieser Situation nicht sein.

Piot erzählte mir, dass er in Zdunska Wola geboren und mit 13 Jahren daran beteiligt gewesen sei, das Massengrab für die deutschen Soldaten auszuheben. Der Ort sei im Krieg von Deutschen besetzt gewesen. Um die anrückenden Russen aufzuhalten, sei ein Schützengraben um das Dorf gezogen worden. Nur die Durchgangsstraße sei noch passierbar gewesen.

Zwei Flugzeuge, zwei Bomben

Es war der 26. Januar 1945. Vor dem Dorfeingang stauten sich die Soldaten bei großer Kälte. Sie waren nur mit Pferdewagen auf dem Rückzug Richtung Breslau. Sie hatten fast alle nur Stofflappen an den Füßen.

Um 15.30 Uhr kamen zwei russische Flugzeuge, jedes warf eine Bombe auf die deutschen Soldaten – alle waren tot. Piotr versicherte mir, dass keiner der Soldaten erschossen worden war. Während der Beisetzung wurden die Erkennungsmarken abgetrennt (die meines Vaters besitze ich noch) und in der örtlichen Verwaltung aufbewahrt.

Etwa 300 Schicksale geklärt

Das Massengrab war dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge damals nicht bekannt und so konnte ich mit diesen Informationen etwa 300 Schicksale vermisster deutscher Soldaten aufklären. Der Volksbund setzte sich mit dem Dorfgeistlichen in Zdunska Wola in Verbindung und spendete Geld für die Pflege und Erhaltung des Grabes.

Bevor wir nach Warschau zurückfuhren, führten mich meine Begleiter zu dem nahegelegenen kleinen Dorf Pabianice und zeigten mir einen großen weißen Obelisken mit vielen Namen. Die Geschichte dazu ist entsetzlich und für einen Deutschen kaum zu ertragen.

Fürchterliche Vergeltung zwei Jahre zuvor

Im Herbst 1943 hatten in Zdunska Wola mehrere polnische Jugendliche eine Streife der deutschen Militärpolizei angegriffen, sie verprügelt und ihnen die Waffen abgenommen. Die Jugendlichen flüchteten und konnten später auch nicht identifiziert werden.

Daraufhin ließ der deutsche Ortskommandant alle Jugendlichen zwischen 15 und 18 Jahren aus Zdunska Wola verhaften. Sie wurden ohne Ausnahme erschossen. Zu ihrem Gedenken errichteten die Eltern nach dem Krieg diesen Obelisken. Sie waren es – die Eltern dieser Jugendlichen, – die im Januar 1945 geholfen hatten, das Massengrab für die deutschen Soldaten in der tief gefrorenen Erde auszuheben!

Umbettung nach Siemianowice

1999 teilte der Volksbund mir mit, dass die Grabstätte in Zdunska Wola aufgelöst werde und die Gebeine aller deutschen Soldaten nach Siemianowice (früher Laurahütte) bei Kattowitz umgebettet würden. Im Oktober 2017 nahm ich an einer Reise mit dem Volksbund teil.

Wir besuchten mehrere Friedhöfe deutscher Soldaten in Südpolen. Unter anderem der Großfriedhof in Siemianowice. Dort fanden und finden weiter Einbettungen statt, fanden bis heute rund 34.000 deutsche Soldaten ihre letzte Ruhestätte. Auch mein Vater.

„Damit Du Deinen Vater besser findest“

Vor lauter Aufregung konnte ich den mir angegebenen Bereich mit dem Gemeinschaftsgrab der Soldaten aus Zdunska Wola nicht gleich finden. Auf dem Gelände traf ich auf einen alten Mann. Er war gut 30 Zentimeter kleiner als ich. Es ergab sich folgendes Gespräch:

Wen suchst Du denn, junger Mann? – Das Grab meines Vaters.
Was hat denn Dein Vater für einen Namen? – Erb.
Ach, Max Erb? – Woher wissen Sie den Vornamen meines Vaters?
Na, hab ich doch ein Namensschild auf meinem Computer geschrieben, damit Du Deinen Vater besser findest. Ich weiß ja, wen ihr alle sucht – aus einer Liste vom Volksbund.
Arbeiten Sie denn in Ihrem Alter noch mit einem Computer? – Na, bin ich doch erst 92 Jahre und kein alter Mann.

„Komm wieder und besuche Deinen Papa“

Er begleitete mich zum Grab. Später verabschiedete er sich auf dem Parkplatz von uns. Ich ging zu ihm, um mich für seine Hilfe zu bedanken. Der kleine alte Mann legte mir beide Hände auf die Schultern und sah mir tief in die Augen.

,,Junger Mann, komm nächstes Jahr wieder und besuche Deinen Papa. Denn nur wer vergessen wird, ist für immer tot.“ Er klopfte mir auf die Wange und ging. Diesen Abschied werde ich nie vergessen und den Inhalt des Gesprächs habe ich beherzigt, so lange es mir körperlich möglich war.

Gedenken zu 25 Jahre Kriegsgräberstätte

Am 10. Oktober 1998 wurde die Kriegsgräberstätte Siemianowice Śląskie der Öffentlichkeit übergeben. Daran erinnert der Volksbund mit einer Gedenkveranstaltung am 13. Mai 2023. Es ist der größte deutsche Soldatenfriedhof in Polen.

Die dort begraben sind, gehören zu der fast eine Million Tote, die der Volksbund seit dem Fall des Eisernern Vorhangs gefunden und umgebettet hat – vor allem in Osteuropa. Im „Eine-Million-Projekt” verbindet der Volksbund dieses Ziel, das er im Herbst 2023 erreichen will, mit einer Spendenaktion.

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