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Alte Gräber – neue Freunde

Deutsch-ungarischer Arbeitseinsatz in Sopron

So viel Leben hat dieser Friedhof selten gesehen. Es gibt Tage, an denen sich kaum jemand auf das abseits liegende Waldgelände verirrt – zumindest kein Mensch. Und genau das ist das Problem auf der deutschen Kriegsgräberstätte im ungarischen Sopron: Wildschweine! Die Tiere richten großen Schaden auf den Grünflächen des Friedhofes an. Den Drahtzaun, der die Anlage auf etwa 700 Meter Länge umgibt, haben sie an zahllosen Stellen längst unterbuddelt und durchlöchert. Dies soll sich ändern. Dafür sind sie hier, die acht deutschen und acht ungarischen Soldaten. Nach ihrem Einsatz wird sich nicht nur der Friedhof, sondern auch ihr gegenseitiges Bild voneinander verändert haben.

Der Zaun muss weg!

 Aller Anfang ist schwer. So ergeht es auch dem achtköpfigen Arbeitskommando vom Jägerbataillon 292 aus Donaueschingen, das zur deutsch-französischen Brigade aus Müllheim gehört. Dies betrifft sowohl die Arbeit als auch die Begegnung mit den ungarischen Kameraden. Zum Glück lässt sich beides vorteilhaft ergänzen. Denn obwohl man gegenseitig noch ein wenig fremdelt und nicht immer alles Gesagte verstanden wird, steht doch Eines fest: der alte, durchlöcherte und unterbuddelte Zaun muss weg! So machen die Soldaten beider Nationen in dieser eher ungewöhnlichen Situation das, was ihnen weitaus besser liegt: Anpacken. Und so findet die Erstbegegnung im wesentlichen ganz nebenbei während der Arbeit statt. Das Prinzip funktioniert. Teils gemischte Teams gehen sich hilfreich zur Hand oder unterstützen sich gegenseitig. Alles klappt reibungslos. Schon nach wenigen Tagen kennen die Soldaten, die sich größtenteils auf Englisch verständigen, eine handvoll Begriffe in der jeweils anderen Sprache. Und in der Unterkunft, einer bescheidenen Jugendherberge, hängen Zettel mit langen deutsch-ungarischen Übersetzungslisten an der Tür.

 Kommandoführer Roland Berr freut das. Der Oberstabsfeldwebel war schon mehrmals für den Volksbund auf Arbeitseinsatz, zumeist in Frankreich. Einen bi-nationalen Einsatz wie diesen kennt der Hochschwarzwälder aus Lenzkirch aber auch noch nicht und ist durchaus überrascht, wie gut alles läuft. Dabei hat er Einiges dazu beigetragen: „Unsere Idee war es, möglichst viel gemeinsam zu machen – und zwar nicht nur während der Arbeit. So haben wir auch die Zimmer gemischt belegt. Jetzt sind jeweils zwei deutsche mit zwei ungarischen Soldaten zusammen auf einer Stube“, sagt Roland Berr. Das Konzept hat Erfolg. Seine Wirkung ist im fast schon freundschaftlichen Umgang miteinander deutlich abzulesen. Gemeinsame Zeit, gemeinsame Arbeit verbindet nunmal.

 Arbeit gibt es hier leider reichlich. Der Friedhof, der sich über die Jahrzehnte an einem bewaldeten Hang immer weiter ausbreitete, ist schon aufgrund verschiedener Zuständigkeiten an vielen Stellen stark vernachlässigt, gar verfallen. Allein die deutschen Gräber des Zweiten Weltkrieges wurden durch den Volksbund regelmäßig gepflegt. Zugleich ist der Friedhof aber auch ein Spiegelbild der Geschichte der ehemaligen deutsch-ungarischen Garnisonsstadt Sopron. Die 60 000-Einwohner-Stadt im Westen Ungarns, südwestlich des Neusiedler Sees liegt nur wenige Kilometer hinter der offenen deutsch-ungarischen Grenze. Doch das war nicht immer so. Und viele Menschen wissen heute gar nicht mehr, dass genau hier mit dem so genannten Paneuropäischen Frühstück ebenfalls ein wichtiger Schritt zur friedlichen Wiedervereinigung Deutschlands getan wurde.

Spiegel der Geschichte

 Dabei hat Sopron (deutsch: Ödenburg) viele Kriege gesehen. Ihre Spuren finden sich direkt oberhalb der Geißkirche, einer Benediktinerkirche, die bereits um 1280 durch in Sopron lebende Franziskaner als Kloster-Erweiterung errichtet wurde. Die ersten Kriegstoten, die wie Husaren-Rittmeister Ludwig Schulze ab 1878 auf der heutigen Kriegsgräberstätte direkt neben dem Gemeindefriedhof eingebettet wurden, zogen noch zu Pferde und womöglich mit Feder im Hut in die Schlacht. Es folgten über die Jahre nur wenige weitere Verstorbene aus dem Lazarett der Garnisonsstadt. Doch spätestens mit dem Ersten Weltkrieg kamen etwa 1 800 deutsche, österreichische und ungarische Kriegstote hinzu. Im Zweiten Weltkrieg waren es derer um die 600, dazu kamen russische Soldaten, Kriegsgefangene verschiedener Nationen und noch in den letzten Kriegsmonaten weit über 100 zivile Bombenopfer. Seit 1978 wurden keine weiteren Kriegstoten zugebettet. Der Volksbund entdeckte den Friedhof im Jahr 1994 wieder – und begann nach und nach mit seiner kostspieligen Restaurierung. In gewisser Weise wurden die Gräber von Sopron so zu sprechenden Zeichen einer leidvollen Geschichte. Wer heute über diesen Friedhof geht, kann also auch eine Zeitreise von einer kriegerischen Vergangenheit in eine hoffentlich friedlichere Zukunft erleben.

 Dass dies aber noch längst nicht überall auf der Welt der Fall ist, wissen auch die jungen Soldaten aus Ungarn und Deutschland. Denn der Krieg, den die meisten tatsächlich und ganz konkret erlebt haben, verfolgt sie zuweilen – auch bei der Arbeit. Während die deutsch-ungarischen Kameraden zunächst damit beschäftigt sind, die alten Zaunteile und das wuchernde Gestrüpp der vergangenen Jahre zu beseitigen, kommt schnell heraus, dass viele Teilnehmer dieses Einsatzes bereits in Afghanistan im so genannten Stabilisierungseinsatz waren. Dies betrifft sowohl Deutsche als auch Ungarn.

Intime Beichte

 Auch solch negative Erfahrungen können verbinden. So verstehen die Kameraden über alle Sprachgrenzen hinweg, wie schwierig es ist, sich nach einem Einsatz wie diesem wieder in den normalen Alltag einzugliedern. Die Kameraden schildern, wie unwohl sie sich in Menschenmassen fühlen oder dass sie im Supermarkt unbewusst nach Deckung suchen. Einer der noch sehr jungen Erwachsenen Anfang Zwanzig berichtet sogar, wie er nach einem Alptraum seine Freundin aus dem Bett schmiss und sie anbrüllte, Munition zu holen. In einem normalen Gesprächskreis würde diese Geschichte zu einem Schmunzeln, im besten Fall zu einem Kopfschütteln führen. Hier aber wird die intime Beichte nur mit einem wissenden Kopfnicken quittiert. Man kennt das. Die Bundeswehr hilft auch in solchen Fällen von posttraumatischer Belastungsstörung so gut oder so schlecht sie es vermag. Letztlich muss der jeweilige Mensch aber alleine in seinem Umfeld damit zurecht kommen. Manche schaffen es nicht. „Das Beste ist immer noch, wenn man mit anderen Kameraden, die das Gleiche erlebt haben, bei einem Bier darüber spricht“, sagen die jungen Zeitsoldaten. Auch hier gibt es großes Kopfnicken in der Runde.

Mit vereinter Kraft

 Für ihren Einsatz hier in Ungarn haben sich die freiwilligen Helfer in Uniform extra ein paar Tage Urlaub genommen. Das war es wert, sagen sie. Und so geht es nach einer kurzen Kaffee- und Rauchpause wieder frisch ans Werk. Heute wird es nicht einfach. Der Arbeitsplan sieht vor, die tiefen Schachtlöcher für die späteren Zaunpfosten auszuheben. Da der Boden aber speziell an der Waldgrenze nach jahrzehntelanger Vernachlässigung durch und durch mit dichtem Wurzelwerk durchzogen ist, wird es schweißtreibend. Zu dritt fixieren zwei deutsche und ein ungarischer Soldat das schwere Bohrgerät mit Haltebügeln, welches nun zum Einsatz kommt. Diese Maschine ist unhandlich und schwer – aber unverzichtbar. Mit vereinter Kraft gelingt es, die massive Edelstahlspirale etwa 80 Zentimeter tief in den steinharten Boden zu treiben. Hier wird später das Beton-Fundament gelegt, das später wiederum die Stützpfosten und letztlich den schützenden verzinkten Wildschutzzaun trägt. Der wird dann übrigens nicht wie bisher direkt über dem Boden enden, sondern mindestens 30 Zentimeter tief in den Boden eingegraben. So soll verhindert werden, dass sich künftig erneut ungebetene Gäste auf das Gelände verirren.

 Doch noch bevor die Soldaten sämtliche Löcher im regelmäßigen Abstand von etwa drei Metern rundum die Kriegsgräberstätte bohren können, bekommen sie tatsächlich Besuch, allerdings beileibe keinen ungebetenen. Es sind die Vertreter der deutschen Minderheit, die es in Ungarn noch bis heute in vielen Gemeinden gibt. Bepackt mit selbstgemachten Gebäck und Kuchen laden Sie die Teilnehmer des deutsch-ungarischen Arbeitseinsatzes zum Kaffeekränzchen ins Gemeindehaus. Dabei erfahren sie auch, dass einer der Soldaten sozusagen selbst ein Angehöriger der deutschen Minderheit in Ungarn ist. So berichtet der Stabsgefreite Benjamin Worch, dass seine Großeltern tatsächlich aus dieser Gegend stammen und erst seine Eltern nach Deutschland übersiedelten. Nun ist der Junge aus der deutsch-ungarischen Familie wieder zurückgekehrt in ein für ihn fremdes Land. „Dennoch fühle ich mich den Leuten hier irgendwie verbunden. Ich habe viele Sympathien für das Land und seine Menschen“, sagt der 22-Jährige. Solche Sätze hören auch die ungarischen Soldaten gerne. Einige von ihnen haben auch bereits persönliche Einladungen ausgesprochen.

 Bei allem was sie trennt, sind es die Gemeinsamkeiten, die überwiegen. Der gemeinsame Besuch in der Kaserne der Ungarn, Stadtbesichtigungen, gemeinsame Spiel- oder Grillabende, das gegenseitige herzliche Händedrücken und Herzen zum Abschied sorgen für den Zusammenhalt in der Gemeinschaft auf Zeit. Das ist allen bewusst. Was sie dennoch nachhaltig verbindet, sind die Kriegserfahrungen, die sie teilen und die auch während der harten Arbeit nie ganz verschwinden.

Für Sergej

 Einige der acht Ungarn um den Kommandoführer Istvan Belecz und seinen Stellvertreter Pertl Csaba waren ebenfalls im Auslandseinsatz in Afghanistan. Und genau das kennen auch die Deutschen leider zu gut. Als einige der heutigen Helfer vor fast genau vier Jahren während einer Patrouille nahe Kunduz angegriffen werden, stirbt ein Kamerad direkt vor ihren Augen. Die Bilder haben sich fest eingebrannt. Richtig vergessen werden sie diese Momente wohl nie – genauso wie ihren verlorenen Kameraden Sergej Motz.

 So bekommt der Arbeitseinsatz in Ungarn für die jungen Männer letztlich noch eine ganz andere Bedeutung abseits der abstrakten Gräberpflege oder der Errichtung eines Wildschwein-Sperrzaunes. Wenn sie alle am Ende des Arbeitseinsatzes die symbolische Partnerschaft über ein von ihnen gesäubertes Grabkreuz übernehmen, tun sie dies ganz bewusst auch in Gedanken an ihre gefallenen Kameraden dieser Tage. So sieht es auch der Oberstabsgefreite Simon Schroer. Und dann sagt er einen Satz, den man nichts weiter hinzufügen möchte: „Wenn der Arbeitseinsatz hier in Sopron vorbei ist, werde ich mit ein paar Kameraden wieder die Familie Motz besuchen. Wir tun das jedes Jahr –­ für Sergej.“

Maurice Bonkat