Balsam für die Seele
IG Rosenheim gedenkt Kriegsopfern in Neumark
„Noch in der vergangenen Woche verbreitete dieser Friedhof ein gewisses Gefühl der Leere. Doch heute ist er mit Leben erfüllt. Denn Gott gibt uns Kraft, wie er dem hier so zahlreich vorhandenen Löwenzahn Kraft zum Blühen spendet und uns damit erfreut.“ Mit diesen Worten spricht der Rosenheimer Pater Christoph Domagalski an der Seite von Pfarrer Bernhard Riedel aus Penkun am 28. April den über 900 Besuchern der deutschen Kriegsgräberstätte Neumark (Stare Czarnowo) aus dem Herzen. Dabei gilt das Gedenken der Interessengemeinschaft der Krieger-, Veteranenvereine und Soldatenkameradschaften im Landkreis Rosenheim (IG Rosenheim) den 2 116 zivilen Marienburger Opfern und den über 18 000 Soldaten, die hier auf der deutschen Kriegsgräberstätte vom Volksbund bestattet wurden.
Anlässlich des so zahlreichen Besuches entschieden sich der Volksbund und seine Gäste aus Bayern, in die Veranstaltung auch die feierliche Übergabe des Marienburger Gräberfeldes zu integrieren. Hier ruhen seit dem 14. August 2009 insgesamt 1 001 Frauen, 381 Männer, 377 Kinder und 357 Menschen, die nicht mehr identifiziert werden konnten. Auch die Todesursache ist bei den meisten Opfern nicht mehr auszumachen, Schussverletzungen hatten nur wenige. „Die meisten starben wohl infolge von Seuchen oder Hunger. Sicher ist aber auch das nicht“, sagt Volksbund-Umbetter Wolfgang Dietrich, der an der Umbettung beteiligt war und den Besuchern heute erklärend zur Seite steht. Die Gebeine dieser Kriegsopfer wurden 2008 bei Bauarbeiten unweit der historischen Marienburg entdeckt und nach intensiven Untersuchungen schließlich nach Neumark überführt. Neben ihrem heutigen Gräberfeld findet sich auch ein gesonderter Gedenkplatz samt zwei Stelen in Form eines Lichtkreuzes, die in polnischer und deutscher Sprache „an die zivilen Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ erinnern.
Ein großer Trost
„Dieser herrlich gelegene Platz ist für die ehemaligen Marienburger enorm wichtig. Er ist zugleich ein großer Trost, weil die umfangreichen Bemühungen, die Toten von Marienburg in der Heimatstadt zu bestatten, aus vielerlei Gründen leider nicht realisiert werden konnte“, sagt Bodo Rückert vom Heimatkreis Marienburg. Er war schon bei der Einbettung dabei und ist auch heute einer der letzten, die an diesem Tage auf der Kriegsgräberstätte weilen. Noch lange nach der offiziellen Veranstaltung betrachtet er die Gräberfelder, den Gedenkplatz und die dort niedergelegten Blumenkränze. „Dies ist ein würdiger Ort. Ich bin froh, dass es ihn gibt“, sagt er schließlich.
Einer der dies gut nachempfinden kann ist der deutsche Botschafter in Polen, Rüdiger Freiherr von Fritsch. Denn auch seine Familie hat im Zweiten Weltkrieg Angehörige verloren: „Wie bei vielen Familien ist es auch bei uns. So hat dieser Tag neben der wichtigen offiziellen Aufgabe auch eine persönliche Dimension für mich. Ich danke unseren polnischen Partnern und Freunden, dass sie die Errichtung und Pflege dieser und vieler anderer Kriegsgräberstätten ermöglicht haben. Zum anderen zolle ich jenen Deutschen großen Respekt, die durch ihr humanitäres Engagement ein Zeichen des Friedens setzen.“
Eine wichtige Tradition
Auch die Mitglieder der IG Rosenheim sind von der feierlichen Übergabe des Gräberfeldes sowie des Gedenkplatzes für die Marienburger Kriegsopfer sichtlich beeindruckt. Dies ist nicht ihre erste Gedenkveranstaltung: „El Alamein, Rossoschka bei Wolgograd, Futa Pass oder zuletzt im ungarischen Budaörs ... – die vergangenen 30 Jahre haben wir unsere Reisen stets mit dem gemeinsamen Besuch und einem würdigen Gedenken auf den deutschen Kriegsgräberstätten verbunden. Dies ist bei uns eine wichtige Tradition“, sagt Pius Graf. Er ist der 1. Obmann der IG Rosenheim, welche die gemeinsame Veranstaltung mit dem Volksbund durch eine eigene Kapelle, Fahnenträger und die beeindruckende Zahl der Gäste wirkungsvoll mitgestaltet. Der stellvertretende Woiwode aus Stettin, Ryszard Micko, der Vorsitzende der deutsch-polnischen Kommission, Dr. Andrzej Kunert, sowie zahlreiche weitere hochrangige Ehrengäste sind heute ebenso vertreten wie am Vorabend bei der Kranzniederlegung am Denkmal für die polnischen Kriegsopfer. Nicht vertreten sind leider die Torgelower Soldatinnen und Soldaten der Panzergrenadierbrigade 41 "Vorpommern", die schon seit vielen Jahren auf der Kriegsgräberstätte Neumark arbeiten. Derzeit sind sie im Einsatz in Afghanistan.
Unter den Mitreisenden der Interessengemeinschaft ist auch Monika Loy, die in Rosenheim regelmäßig für den Volksbund Spenden sammelt. Noch vor der Zeremonie sucht sie den Ausstellungs-Pavillon der Kriegsgräberstätte auf. Dort wartet Piotr Nycz. Er ist Friedhofsverwalter und Angehöriger der deutschen Minderheit. Gemeinsam mit Monika Loy sucht er im dort ausgelegten Gesamtnamenbuch Polen nach dem Onkel ihres Mannes. Tatsächlich finden sie ihn in einem der gebundenen blauen Bände, die alle in Polen verstorbenen und namentlich bekannten Wehrmachtsangehörigen verzeichnet. Einer von ihnen ist ihr Verwandter Josef Loy, der am 28. Januar 1945 im Alter von 25 Jahren fiel. Er ist einer von über 460 000 – für seine Angehörige hat dieser Schriftzug eine große Bedeutung. „Hier zu sein und seinen Namen zu lesen, ist wie Balsam für die Seele. Hier an diesem Ort sieht man, wofür das gespendete Geld gebraucht wird“, sagt die Rosenheimerin.
Der Vater weint
Eine ihrer Mitreisenden ist Helga Abel aus Remseck. Sie gehört nicht zu der IG Rosenheim, nahm das Angebot zu der gemeinsamen Reise nach Neumark aber gerne an. Schon vor sechs Jahren, als die Kriegsgräberstätte Neumark eingeweiht wurde, besuchte sie diesen Ort, an dem ihr Vater Paul Gerhard Otte beerdigt wurde. Dabei hatte er es fast bis nach Hause geschafft. Nur wenige Tage vor seinem Soldatentod erreichte ein letzter Brief die Familie. Er schrieb, dass er schon ganz in der Nähe sei und recht bald heimkehren würde. Doch es kam anders. An den Tag der Todesnachricht erinnert sich die damals 6-Jährige noch genauso gut wie an den letzten Abschied am Bahnhof. Damals kniete der Vater vor seinen vier Kindern nieder – und weinte. Das hatte sie zuvor noch nie erlebt. Helga Abel denkt oft an ihren Vater, zum Beispiel daran, wie gerne sie bei ihm auf dem Fahrrad mitgefahren ist.
Heute kniet sie vor seinem kleinen Namensschild in Block 1 der weiträumigen Anlage. Ihr Vater war einer der Ersten, die hier eingebettet wurden. An seiner Grabstelle, deren Lage Friedhofsverwalter Piotr Nycz vorher genauestens ausgemessen hat, liegen gleich mehrere Blumensträuße. Erneut ertönt das Lied vom guten Kameraden. Obmann Pius Graf von der IG Rosenheim hatte dafür gesorgt, dass die Kapelle nach der großen Veranstaltung auch am Grab von Paul Gerhard Otte spielt. Zugleich steht er an ihrer Seite. Es ist ein wahrhaft schöner Moment. Helga Abel bedankt sich von Herzen, nimmt sich dann ein paar Augenblicke für sich selbst. Viel Zeit bleibt ihr heute leider nicht. Dann, kurz bevor die 16 Busse zählende Flotte der IG Rosenheim zur Abfahrt ruft, geht sie noch einmal zu den Stelen, die weitere Kriegsopfer verzeichnet. Dort legt sie eine Rose nieder und nimmt Fotos für eine Bekannte von dem Namenszug eines weiteren Gefallenen auf. Inzwischen ist die Kriegsgräberstätte fast menschenleer. Auch ihr Busfahrer wartet schon. Als Helga Abel als letzte einsteigt, lächelt er sie an.
Maurice Bonkat