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Das Grauen in den Wäldern von Riga-Bikernieki

Neue Ausstellung des Volksbundes informiert über den Holocaust in Lettland

Der Volksbund beleuchtet mit einer neuen Außenausstellung ein besonders dunkles Kapitel der deutschen Geschichte. In den Jahren 1941 bis 1945 wurden in den Wäldern von Bikernieki nahe Riga rund 35.000 Menschen von den Nationalsozialisten erschossen, erschlagen und verscharrt. Es waren Jüdinnen und Juden aus Lettland, aber auch aus Städten des damaligen „Großdeutschen Reiches“. An der nationalen Gedenkveranstaltung am 4. Juli nahmen zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter des Riga-Komitees teil, in dem fast 70 Städte aus Deutschland, Österreich, Tschechien und der Slowakei vertreten sind. Im Jüdischen Museum von Riga berichtete ein Überlebender des Holocaust.  

 

Das erste Stockwerk des Museums „Jews in Latvia“ wirkt ein Theatersaal mit schweren Samtvorhängen, Ornamenten und goldenen Bordüren. Margers Vestermanis, Zeitzeuge, saß am frühen Abend des 4. Juli an einem kleinen Tisch und berichtete. Der fast 97-Jährige ist einer der letzten Überlebenden des Holocaust. Er hat die Konzentrationslager in Kaiserwald und Dundanga sowie die Wintermonate 1944/45 in den Wäldern überstanden. Heute sagte er: „Hitler hat uns vernichtet, und Stalin hat die Erinnerung daran zerstört.“ Mit einfachen, klaren Sätzen ließ Vestermanis die Vergangenheit lebendig werden. Auf der kleinen Bühne des Museums entfaltete sich das große Drama Lettlands.  

Ach Erde, bedecke mein Blut nicht…

Von diesem Drama berichtet die neue Außenausstellung des Volksbundes, die unweit des Memorials in Bikernieki, einem weißen Portal mit schwarzem Gedenkstein, aufgebaut ist. Das Hiob-Zitat „Ach Erde, bedecke mein Blut nicht, und mein Schreien finde keine Ruhestatt!“ will dem Leid der Ermordeten Worte geben. Fünf Stelen mit kurzen Texten und Schwarzweißbildern informieren auf Vorder- und Rückseite über die Hintergründe des Zweiten Weltkrieges, vorrangig in Osteuropa, über die Deportation zehntausender jüdischer Familien aus vielen Städten Deutschlands, Österreichs, Tschechiens und der Slowakei. In tagelangen Fahrten in ungeheizten Zügen wurden sie nach Riga transportiert, dort ermordet oder weiter in die Vernichtungslager im Osten gebracht. 

Emotional agieren, ohne zu überwältigen

Beim Eröffnungsrundgang informierten Danny Chahbouni, zuständig für die Ausstellungen im Volksbund und Albrecht Viertel von der Agentur „kursiv“ in Dresden, der die Ausstellung konzipiert und produziert hat, über die Hintergründe. Es sei wichtig, auch Menschen ohne historische Vorbildung zu erreichen. Albrecht Viertel nennt das „emotional agieren, ohne zu überwältigen.“ Die Texte sind in lettischer, deutscher und englischer Sprache verfasst. Fotos zeigen die antisemitische Hetze der Nationalsozialisten, die grausamen Lebensbedingungen in den Lagern und die Situation im Rigaer Ghetto. Und – sie zeigen auch die Täter. Dies wurde vorab kritisch diskutiert, doch Ilya Lensky, der als Fachmann den Volksbund berät und unterstützt, ermutigte die Ausstellungsmacher zu diesem Schritt.

Bereicherung und Meilenstein

Christian Heldt, Deutscher Botschafter in Lettland, beschrieb die neue Ausstellung des Volksbundes, die vom Auswärtigen Amt finanziert wurde, als „Meilenstein“. Ilya Lensky,  Leiter des Museums „Jews in Lativia“ (Juden in Lettland), empfand die Schau als Bereicherung der Gedenkstätte, da sie die geschichtlichen Hintergründe der Massengräber, die in diesem Wald vom zehntausendfachen Tod künden, erläutern. Das zeigten schon die Reaktionen der ersten Besucher. Ein junger Mann, der seit 15 Jahren in den Wald zum Joggen kommt, sah sich die Ausstellung aufmerksam an und berichtete anschließend, dass er die Gedenkstätte seit seiner Kindheit kenne: „Aber erst jetzt verstehe ich, was hier wirklich passiert ist!“

Narben, die noch bluten

Die Delegation des Riga-Komitees, in dem knapp 70 Städte Mitglieder sind, wurde von Volksbund-Vizepräsident Wolfgang Wieland angeführt. Bei einem feierlichen Abendempfang der Stadt Riga, der deutschen und der österreichischen Botschaft und des Volksbundes sagte Wieland: „Die Ausstellung ist landschaftlich gut eingebunden, liefert wertvolle Informationen und das mit ergreifenden Texten, die auf den Punkt kommen. Ein großes Kompliment an die  Macher der Ausstellung und ich danke Ihnen für dieses äußerst gelungene Projekt.“ Doris Danler, Österreichs Botschafterin in Lettland, betonte, dass ihr Land sich viel zu lange als Opfer des Nationalsozialismus definiert habe: „Vor dem Krieg lebten 210.000 Juden in Österreich, nach dem Krieg waren es 5.000.“ Dies zeige, wie verheerend der Holocaust in Wien und dem gesamten Land gewesen sei. Von „Narben, die noch bluten“ sprach Rigas Bürgermeister Martins Stakis beim Empfang am Morgen des 4. Julis im Rathaus von Riga.  

Stadtführung mit Botschafter

Vertreterinnen und Vertreter aus 39 Städten des Riga-Komitees nahmen an der nationalen offiziellen Gedenkveranstaltung am 4. Juli teil. Dort sprach Staatspräsident Egils Levits und erinnerte vor der Ruine der Großen Chorals-Synagoge an den 1. Juli 1941, als deutsche Truppen Riga besetzten und damit die Rote Armee ablösten, die am 17. Juni 1940 das Land besetzt und zur Lettischen Sozialistischen Sowjetrepublik erklärt hatte. Riga war Ziel und zentraler Ort der ersten Massenverschleppungen von Juden aus Deutschland. Vom November 1941 bis zum Winter 1942 wurden mehr als 25.000 Juden nach Riga deportiert. Außerdem sprachen die lettische Parlamentspräsidentin Inara Murniece, die Botschafterin des Landes Israel, Vertreter der Jüdischen Gemeinde sowie Vertreter des Diplomatischen Corps und Mikel Hurschell als Vertreter des Riga-Komitees. Zum Gedenken an die Opfer legten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Kränze und Blumen nieder. 

Am Nachmittag des 5. Julis eröffneten die Österreichische Botschafterin Doris Danler und der deutsche Botschafter in Anwesenheit des stellv. Bürgermeister der Stadt Riga eine gemeinsame Außen-Ausstellung zum Schicksal der jüdischen Mitbürger. Der Deutsche Botschafter Christian Heldt ließ es sich nicht nehmen, am Abend seine deutschen Gäste durch Riga zu führen. Sie besuchten die Synagoge, die Petrikirche, die lange ein sowjetisches Propagandamuseum war und nun wieder als Kirche genutzt wird sowie das Wagner-Haus, das als Konzertsaal umfassend renoviert wird. Neben der Austellungseröffnung in Bikernieki nahmen die Vertreterinnen und Vertreter des  Riga-Komitees an einer weiteren Reihe von Veranstaltungen teil, die gemeinsam von der deutschen und österreichischen Botschaft, der jüdischen Gemeinde und dem Volksbund organisiert wurden.

Die Vernichtung der Erinnerung

Die Facetten der Tragödie des Holocausts in Lettland fasste der Zeitzeuge Margers Vestermanis in eindrückliche Worte. Er dankte den Anwesenden, den „lieben Menschen, die aus dem Ausland gekommen sind, um an diesem Tag mit uns zu trauern.“ Denn eigentlich war es ein doppelter Mord. „Hitler hat uns ermordet und Stalin hat unser Andenken getötet“, so beschrieb er es mit so trockenen wie treffenden Worten. In der Sowjetzeit wurden die ermordeten Juden unter den „Opfern des Faschismus“ subsummiert. 

 

Überlebt als „Arbeitsjude“

Am 22. Juni 1941 hatte die deutsche Wehrmacht mit drei Millionen Soldaten, der größten Invasionsarmee bis dato, die bis dahin verbündete Sowjetunion überfallen. Am 1. Juli 1941 besetzte die deutsche Wehrmacht Lettland. Damit begann für die jüdische Bevölkerung der Leidensweg in Deportation und Tod. Am 4. Juli sperrten Männer unter dem Kommando des Polizisten Viktor Arajs, ein lettischer Antisemit und Nazi-Kollaborateur, über 400 jüdische Männer, Frauen und Kinder in die Große Choral-Synagoge in der Gogolstraße, warfen Handgranaten durch die Fenster und zündeten die Synagoge an. Dieser Massenmord war der Auftakt zur Vernichtung jüdischen Lebens. „Man wollte zeigen“, so sagt Vestermanis, „dass die Juden nun Freiwild sind. Man darf sie verfolgen, man darf sie ungestraft töten.“ 

Er überlebte als „Arbeitsjude“ im Ghetto; er musste die Leichen von Frauen und Kindern einsammeln und mit einem Schlitten abtransportieren. „Ich war 16, ein junger Bursche. Ich wollte ein Mann sein. Aber damals fing ich an zu stottern.“ Vestermanis gelang die Flucht und er konnte sich im Wald bei Partisanen verstecken, die gegen die Deutschen kämpften. 
 


Erinnerung und Auftrag

„Viele Juden waren stolz, gegen Hitler zu kämpfen. Das war ich auch, dass ich den 9. Mai mit einer Waffe in der Hand erleben durfte. Ich hatte überlebt, aber meine Angehörigen und Freunde waren tot.“ Margers Vestermanis eindringliche Schilderungen ließen das Publikum betroffen zurück. Von 73.000 lettischen Juden überlebten nur 1.500. 

Vestermanis fragte: „Soll man vergessen? Oder soll man erinnern? Ich weiß es nicht. Aber die, die überlebt haben, haben eine Aufgabe. Und der – so Vestermanis – wollte ich gerecht werden.“  Margers Vestermanis hat sich als Historiker und Buchautor der Erinnerung an das Schicksal der lettischen Juden verdient gemacht. Den Auftrag, das Wissen und die unbedingte Notwendigkeit, die Erinnerung weiterzutragen, haben an diesem Abend auch die Delegierten der Riga-Städte berührt. 

Harald John Abteilungsleiter Öffentlichkeitsarbeit
Diane Tempel-Bornett Pressesprecherin