Volksbund Logo Desktop Volksbund Logo Mobil
Gräbersuche Mitglied werden Jetzt spenden Spenden

Der Reichstagsbrand 1933 - aufgeklärt und doch diskutiert

#volksbundhistory: Sven-Felix Kellerhoff erinnert an die Brandstiftung und ihre Folgen

Vor 91 Jahren, am 27. Februar 1933, legte ein junger holländischer Anarchist im Berliner Reichstagsgebäude Feuer. Er wollte gegen die Regierung Hitler protestieren – und spielte ihr und der NSDAP in die Hände. Hitler sprach von einem kommunistischen, der Rest der Welt von einem nationalsozialistischen Komplott. Tatsächlich handelte Marinus van der Lubbe allein.
 

Eines war sicher: Diese Gestalt mit nacktem Oberkörper gehörte nicht ins Parlament. Schon gar nicht, während dort Feuerwehrleute versuchten, einen Großbrand zu bekämpfen. Es war 21.26 Uhr am 27. Februar 1933, als dem Hausinspektor des Berliner Reichstagsgebäudes Alexander Scranowitz und dem Schutzpolizisten Helmut Poeschel im Bismarck-Saal ein junger Unbekannter in die Arme lief. Beiden war sofort klar, dass sie den Brandstifter gestellt hatten.

Unter dem Hashtag #volksbundhistory berichten wir von historischen Ereignissen und liefern Hintergrundinformationen. Das neue Format ist medienübergreifend mit Print- und Online-Artikeln, Audiofeatures und Videos (mehr dazu am Textende).

„Protest, Protest!“

Vor Wut zitternd brüllte ihn Scranowitz an: „Warum hast Du das gemacht?“. Der junge Mann stieß mit hartem Akzent heraus: „Protest, Protest!“ Es war das erste von unzähligen Geständnissen des Holländers Marinus van der Lubbe. Nur wenige Sekunden später ging der schwelende Plenarsaal des deutschen Parlaments in Flammen auf. Innerhalb der nächsten Stunden brannte der zentrale Raum des Reichstages vollkommen aus.

Der seit vier Wochen amtierende Reichskanzler Adolf Hitler nutzte den Brand, um einen brutalen Schlag gegen seine innenpolitischen Gegner zu befehlen: Die Kommunisten hätten den Brand gelegt, um das Signal zum Bürgerkrieg zu geben. Die brutal unterdrückte KPD hielt dagegen, die Nationalsozialisten müssten die Brandstifter gewesen sein. Denn sie profitierten ja am meisten davon.
 

Karriere eines Kriminalfalls

Seit inzwischen mehr als 90 Jahren wird darum gestritten, wer denn nun verantwortlich war für den Reichstagsbrand. Seit 1933 sind unzählige Bücher, Aufsätze, Dokumentarfilme und Artikel über die Täterfrage erschienen. Da niemand die nationalsozialistische Propagandalüge glaubte, wogte der Streit stets darum, ob van der Lubbe ein „Instrument der Nazis“ war oder doch ein Einzeltäter.

Lange waren die Original-Ermittlungsakten in Moskau und Ost-Berlin versteckt gewesen. Seit etwa drei Jahrzehnten sind sie im Bundesarchiv in Berlin problemlos zugänglich. Corona sei Dank sind inzwischen die wichtigsten der 74 Bände sogar digitalisiert und stehen ohne Anmeldung für jedermann abrufbar bereit. Dennoch ist der Streit bis heute nicht ausgestanden. Immer wieder werden neue Behauptungen rund um die Brandstiftung erfunden, die angeblich die Täterschaft der Nationalsozialisten „beweisen“.
 

Was wirklich geschah

Drei Brände hatte Marinus van der Lubbe, geboren 1909 in der Stadt ’s-Hertogenbosch, bereits am Abend des 25. Februar 1933 legen wollen, um ein „Fanal“ gegen die Regierung Hitler zu setzen: zuerst am Wohlfahrtsamt in Berlin-Neukölln, dann am „Roten Rathaus“ und zuletzt im Dachgeschoss des Berliner Stadtschlosses. Doch alle Brandstiftungen mit Kaminanzündern misslangen.

Enttäuscht machte sich van der Lubbe zunächst auf den Heimweg Richtung Holland – zu Fuß, wie er gekommen war. Am 26. Februar, einem Sonntag, wanderte er bis nach Hennigsdorf, einen nördlichen Vorort Berlins. Doch in der Nacht zum Montag änderte er seinen Entschluss: Noch ein letztes Mal wollte er versuchen, die deutschen Arbeiter aufzurütteln.

So gelangte er am späten Nachmittag des 27. Februar 1933 zum Reichstagsgebäude; abermals hatte er Kaminanzünder bei sich. Gegen 21 Uhr kletterte er auf einen Balkon und trat ein Fenster ein. Dann begann er einen Irrlauf durch das Haupt- und das Kellergeschoss des leeren Parlamentsgebäudes – wo er auf mutmaßlich brennbares Material stieß, legte er Feuer. Als ihm die Kaminanzünder ausgingen, zog er sein Hemd aus, zerriss es in Streifen, aus denen er Fackeln machte.
 

Haupt- und Polizeiwache alarmiert

Bald nach 21.05 Uhr fiel mehreren Passanten auf, dass im Reichstag etwas vor sich ging. Gegen 21.12 Uhr erreichte die erste Nachricht von einem fest installierten Feuermelder die Hauptwache der Berliner Feuerwehr, die sofort die beiden nächstgelegenen Reviere alarmierte. Um 21.15 Uhr war auch die nächstgelegene Polizeiwache informiert: im Brandenburger Tor.

Gegen 21.20 Uhr stieß der diensthabende Polizeioffizier am Nordportal (der Eingang im Süden war verschlossen und die Pförtnerloge nicht mehr besetzt) auf den inzwischen informierten Hausinspektor Alexander Scranowitz. Zusammen rannten die beiden durch das weitläufige Hauptgeschoss und nahmen im Bismarck-Saal Marinus van der Lubbe fest.
 

Schlimme Folgen

Ausgerechnet ein führender Nationalsozialist äußerte als Erster den Verdacht. „Ich hoffe, es ist nicht das Werk unserer Burschen“, sagte der NSDAP-Ideologe Alfred Rosenberg zu dem britischen Journalisten Sefton Delmer, als die beiden etwa eine halbe Stunde später vor dem nun lichterloh brennenden Reichstag standen. Rosenberg, Chefredakteur des Parteiorgans „Völkischer Beobachter“, fuhr laut Delmers Erinnerung fort: „Es ist genau eines jener verdammt blöden Stücke, die ihnen ähnlich sehen.“

Ganz anders sah es Adolf Hitler. Er war bald nach 22 Uhr mit Berlins NSDAP-Chef Joseph Goebbels in das Parlamentsgebäude gekommen, wo sich schon seit etwa 20 Minuten der formale Hausherr, Reichstagspräsident Hermann Göring, aufhielt. Alle drei waren hocherregt.
 

„Nichts mehr, was uns stoppen kann“

„Das ist zweifellos das Werk von Kommunisten, Herr Reichskanzler“, berichtete Göring an Hitler, der wenige Minuten später vor den Ohren Sefton Delmers sinngemäß sagte: „Das ist ein von Gott gegebenes Zeichen. Wenn, wie ich glaube, dieses Feuer sich als das Werk von Kommunisten herausstellt, dann wird es nichts mehr geben, was uns stoppen kann, diese Mörderpest mit eiserner Faust auszulöschen. Gebe Gott, dass dies das Werk der Kommunisten ist.“

Noch in derselben Nacht begannen Massenverhaftungen von tatsächlichen oder angeblichen Hitler-Gegnern, nicht nur der KPD, sondern auch der SPD. Die Brandstiftung wurde zur entscheidenden Zäsur auf dem Weg Deutschlands in eine brutale Diktatur, die wenige Jahre später zum Zweiten Weltkrieg und zum Holocaust führte.
 

Brandentwicklung

Konnte ein Mann allein diesen Großbrand auslösen? Noch dazu mit primitiven Kohlenanzündern, ohne Brandbeschleuniger wie Benzin?

Er konnte. Die moderne Brandforschung lässt keinen Zweifel, was am 27. Februar 1933 gegen 21.27 Uhr im Plenarsaal geschah: ein „Backdraft“. Dabei verbraucht zunächst ein offen brennendes Feuer in einem geschlossenen Raum den Großteil des verfügbaren Sauerstoffs. Verlöschen wegen des Sauerstoffmangels die offenen Flammen, führen die stark gestiegenen Temperaturen zum chemischen Phänomen der Pyrolyse: Organische Moleküle spalten sich; unoxidierte – also brennbare – Gase steigen auf und sammeln sich unter der Decke.
 

Gewaltiger „Backdraft“

Gleichzeitig sinkt durch die nunmehr nur noch schwelenden Brandstellen die Temperatur etwas. Dadurch entsteht ein Unterdruck, der Luft ansaugt, sobald das möglich ist. Kommt in dieser Situation Sauerstoff in den bis dahin abgeschlossenen Raum, lässt sich die Katastrophe nicht mehr abwenden. Nach dem Öffnen etwa einer Tür scheint die gestaute Hitze zunächst hinauszudrängen, doch unmittelbar darauf bildet sich ein starker Zug ins Innere. Der Sauerstoff vermischt sich ­– je nach Größe des Raums in wenigen Sekunden bis mehr als einer Minute – mit den heißen Rauchgasen.

Sobald die Mischung zündfähig ist, kommt es zu einer Rauchgasexplosion, die Temperaturen bis zu 1.000 Grad entwickeln kann und nicht mehr unter Kontrolle zu bringen ist.  Sowohl die Aussagen der Feuerwehrleute im Reichstag als auch die gesicherten Spuren und van der Lubbes eigene Darstellung bestätigen, dass ein gewaltiger „Backdraft“ schlagartig den Plenarsaal in eine Flammenhölle verwandelte.
 

Kein Sündenbock

Aber handelte Marinus van der Lubbe vielleicht doch im Auftrag eines Brandstifterkommandos der SA, wie das NS-Ideologe Alfred Rosenberg befürchtete? Keinesfalls. Marinus van der Lubbes Weg von Holland nach Berlin und in den Reichstag konnte die Berliner Kriminalpolizei fast lückenlos rekonstruieren und zahlreiche Zeugenaussagen bestätigten seine Angaben.

Wenn der angebliche SA-Brandstiftertrupp tatsächlich einen kommunistischen Sündenbock hätte haben wollen, wäre es für die Braunhemden keine Schwierigkeit gewesen, einen deutschen KPD-Anhänger in den Reichstag zu verschleppen. Warum hätte die SA stattdessen einen Holländer nehmen sollen, der nachweislich zuvor bereits drei Brandstiftungen unternommen hatte?

Van der Lubbe beteuerte immer wieder seine alleinige Verantwortung für die Brandstiftung und begann sogar einen Hungerstreik, um die ständigen Fragen nach seinen angeblichen Hintermännern zu beenden.
 

Ein neuer Zeuge?

Im Sommer 2019 tauchte ein angeblich bis dahin unbekanntes Dokument von 1955 auf, verfasst von dem ehemaligen SA-Mann namens Hans-Martin Lennings (1904–1962). Er habe am Abend des 27. Februar van der Lubbe zwischen 20 und 21 Uhr im Auto zum Reichstag gefahren, behauptete er, in dem es bereits angebrannt gerochen habe.

Lennings hat diese Versicherung zwar verfasst, aber das ist das einzige, was an dieser Version stimmte. Weder war das Dokument neu – der wichtigste Erforscher des Reichstagsbrandes, Fritz Tobias (1912–2010) aus Hannover, kannte es schon seit spätestens 1960 –, noch bedeutete sie irgendetwas.
 

Gutachten 2019 bestätigt

Der angebliche Zeuge war ein „Psychopath“, ein „unsteter, triebhaft unruhiger, schwindlerischer und lügnerischer“ Mensch, befanden zwei psychiatrische Gutachter 1936/37, was ein weiterer Gutachter 2019 nach Aktenlage für zuverlässig hielt.

Ohnehin hatte Lennings Bruder, ein Pfarrer, davor gewarnt, ihm irgendetwas zu glauben: Hans-Martin sei ein „großer Fabulierer“, der gern „Räuberpistolen“ verbreite. Unnötig zu erwähnen, dass ein rundes Dutzend Zeugen van der Lubbes Weg von Hennigsdorf zum Reichstag verfolgt und vor 21 Uhr am Reichstag eben nichts gesehen hatten, was auf eine Brandstiftung hindeutete.
 

Eine Bilanz

Zwar behaupten die Anhänger der Verschwörungstheorie auch in jüngsten Veröffentlichungen aus dem Jahr 2023 hartnäckig das Gegenteil, doch belegen alle Quellen – nüchtern betrachtet –, dass die Ermittler im Fall Reichstagsbrand zu Recht schlossen: „Die Frage, ob van der Lubbe die Tat allein ausgeführt hat, dürfte bedenkenlos zu bejahen sein. Die Ermittlungen, der objektive Tatbestand und die genauen Feststellungen des Täters selbst beweisen dies.“

Das war eine (interne) Ohrfeige für Hitler, Göring, Goebbels und ihre Gefolgsmänner, die sich öffentlich auf eine angeblich kommunistische Verschwörung festgelegt hatten.

An den vielen anderen Verbrechen der Nationalsozialisten und des Dritten Reiches ändert sich gar nichts dadurch, dass sie mit einem einzigen der ihnen zugeschriebenen, eben dem Reichstagsbrand, nichts zu tun hatten.

 

Text: Sven-Felix Kellerhoff, Leitender Redakteur Geschichte der Tageszeitung „Die Welt“

 

Literaturhinweise

Uwe Backes u.a.: Reichstagsbrand. Aufklärung einer historischen Legende. 2. Aufl.  München – Zürich 1987.

Delmer, Sefton: Die Deutschen und ich. Hamburg 1962.

Hehl, Ulrich von: Die Kontroverse um den Reichstagsbrand. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 36 (1988), S. 259–280

Kellerhoff, Sven Felix: Der Reichstagsbrand. Die Karriere eines Kriminalfalles. 2. Aufl. Augsburg 2013.

Tobias, Fritz: Der Reichstagsbrand. Legende und Wirklichkeit. Rastatt 1962.
 

#volksbundhistory

Ob der Beginn einer Schlacht, ein Bombenangriff, ein Schiffsuntergang, ein Friedensschluss – mit dem neuen Format #volksbundhistory möchte der Volksbund die Erinnerung an historische Ereignisse anschaulich vermitteln und dabei fachliche Expertise nutzen. Der Bezug zu Kriegsgräberstätten und zur Volksbund-Arbeit spielt dabei eine wichtige Rolle.

Die Beiträge werden sowohl von Historikern aus den eigenen Reihen als auch von Gastautoren stammen. Neben Jahres- und Gedenktagen sollen auch historische Persönlichkeiten und Kriegsbiographien vorgestellt werden. Darüber hinaus können Briefe, Dokumente oder Gegenstände aus dem Archiv ebenfalls Thema sein – jeweils eingebettet in den historischen Kontext.

Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. ist ein Verein, der seine Arbeit überwiegend aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden finanziert.