Der Tote unter dem Müllplatz
Ausbettung in Belgien
Den Friedhof in Petit Enghien, einem beschaulichen Örtchen etwa 40 Kilometer südwestlich von Brüssel gibt es schon lange. Hier wurden auch die zivilen Toten der beiden Weltkriege bestattet. Ihre jüngsten Opfer haben nicht einmal ein Jahr gelebt. „Roger Henrion 1940 – 1940“, steht auf einem der verblassten Grabsteine. Hatte der Junge lange genug gelebt, um zu krabbeln oder gar die ersten Schritte zu tun? Niemand weiß es. Direkt daneben liegt ein deutscher Soldat, dessen Schicksal allerdings ebenso wie seine Gebeine bisher im Dunkeln lag. Er wurde noch kurz vor Kriegsende von belgischen Partisanen getötet. Danach verscharrte man seine Leiche in der Nacht fast zwei Meter tief unter dem kleinen Müllplatz des Gottesackers. Niemand sollte den „Boche“, den deutschen Feind, finden können. Doch heute ist es soweit.
Die Ausgangslage: Unter der Betonplatte dieses Müllplatzes im belgischen Petit Enghien sollten nach Zeitzeugenangaben zwei deutsche Kriegstote verscharrt worden sein.
Einer, der zumindest vom Hörensagen davon wusste, dass der deutsche Soldat im Schutze der Nacht unter dem Müllplatz des kleinen Ortsfriedhofes heimlich verscharrt worden war, ist Gilbert Beeckmans. Damals war er noch ein kleiner Junge, der zu den im Verborgenen agierenden Kämpfern des belgischen Widerstands, der resistance oder auch der armée secrete aufblickte. Immer wieder hatte er für sie kleinere Aufgaben erledigt und sich so als ortskundiger Helfershelfer angeboten. So erfuhr er unter vorgehaltener Hand auch von dem Deutschen. Nur die genaue Stelle kannte er nicht.
Warum so spät?
Gilbert Beeckmans war bis vor einigen Jahren auch der Chef der belgischen Veteranenorganisation. Einer der damaligen Kämpfer, inzwischen zu hohen Jahren gekommen, hatte ihn gebeten, sich der Sache anzunehmen. Er sollte dafür sorgen, dass der ermordete Soldat nach über 70 Jahren nun doch noch ein würdiges Grab an der Seite seiner damaligen Kameraden bekäme. So zeigte er ihm schließlich die genaue Grablage direkt an der Friedhofsmauer tief unter der Betonplatte, auf der die Friedhofsgärtner schon seit Jahrzehnten Abfälle und Material gelagert hatten. Doch warum so spät? Ein später Akt der Reue? Immerhin war hier ein Mensch grausam zu Tode gekommen. Doch nach menschlichem Ermessen sind wohl zumeist beide Seiten Opfer eines jeden Krieges. Der eine stirbt und ist tot. Der andere hat getötet – und muss mit diesem Wissen weiterleben. Es ist schwierig. So ist es auch in Petit Enghien.
Rechtlich gesehen fielen die Kombattanten des belgischen Widerstands ohnehin unter die Haager Landkriegsordnung sowie die späteren Genfer Konventionen. Demgemäß sahen sich die Partisanen aufgrund des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges des Deutschen Reiches zum bewaffneten Widerstand berechtigt. Dies beinhaltete auch das Töten feindlicher Soldaten. Allerdings sprechen die genaueren Umstände in diesem Fall eine durchaus zwiespältige Sprache. Auch davon berichtet Zeitzeuge Gilbert Beeckmans: So hatte es einen Fliegerangriff auf einen Transportzug der Deutschen gegeben, bei dem viele Soldaten versprengt wurden und teils in der Gegend umherirrten. Einen dieser versprengten Soldaten hatte die Widerstandsgruppe, die in der Umgebung von Petit Enghien aktiv gewesen war, gefangen genommen und letztlich grausam getötet.
Das alles spielte sich nicht lange vor der Befreiung Belgiens ab, der Krieg stand ohnehin vor seinem bitteren Ende. Für den deutschen Soldaten aber gab es kein Gericht, kein Urteil und auch keine Rettung. Nicht einmal ein ordentliches Grab. Für viele Menschen beginnt sich genau an dieser Stelle das geltende Kriegsrecht in ein nicht mehr zu vertretendes menschliches Unrecht zu wandeln. „Und genau das war wohl auch der Grund, warum einer der damals beteiligten Veteranen sein Gewissen erleichtern wollte und schließlich die genaue Grabstelle preisgab“, sagt Gilbert Beeckmans.
Ein oder zwei Tote?
Danach sagt der bescheiden und zuvorkommend auftretende Mann, der inzwischen selbst in die Jahre gekommen ist, nur noch wenig. Es ist alles ein bisschen viel für ihn. Dennoch ist er heute auf dem kleinen Friedhof gekommen, um bei der Ausbettung dabei zu sein. Er will sehen, wie die Deutschen aus ihrem namenlosen Grab geborgen werden. In seiner Erinnerung hatten die Partisanen nämlich von zwei Toten berichtet, die hier in der Erde liegen sollen. Später wird sich herausstellen, dass es doch nur einer war. „So was erleben wir immer wieder“, sagt Umbettungsspezialist Eric Göse: „Zeitzeugen sind wichtig für unsere Arbeit. Ihre Angaben sind aber häufig sehr viel ungenauer, als man glaubt. So ist das mit der menschlichen Erinnerung: Häufig trügt sie und wird im Laufe der Zeit durch viele andere Einflüsse überlagert oder gar komplett verfälscht. Auch das müssen wir bei unserer Arbeit berücksichtigen“, sagt der Deutsch-Franzose.
Auf dem Friedhof aufgewachsen
Eric Göse arbeitet schon seit Jahrzehnten für den Volksbund als so genannter Umbetter. Er kennt sich aus. Das ist eigentlich kein Wunder, denn Eric Göse wuchs wortwörtlich auf einem Friedhof auf. Tatsächlich arbeitete schon sein Vater als Friedhofsverwalter für den Volksbund. Der würdige und zugleich fachkundige Umgang mit den Toten sowie das Wissen um ihre Bedeutung für die Angehörigen sowie künftige Generationen wurden ihm also gewissermaßen in die Wiege gelegt. Mittlerweile ist der 55-Jährige selbst Verwalter der Kriegsgräberstätte in Mont-de-Huisnes nahe der weltberühmten Klosterinsel Mont-Saint-Michel.
An der richtigen Stelle suchen
Die eigentliche Ausbettung beginnt mit dem Abtragen der obersten Erdschichten. Erst danach kommen Spaten – und schließlich die kleine Kelle zum Einsatz.
Hier in Petit Enghien geht es für Göse darum, die Gebeine des Kriegstoten würdevoll und vor allem vollständig zu bergen. Dazu musste am Vortag bereits eine mehrere Zentimeter dicke Betonplatte entfernt werden, die bisher das Fundament des kleinen Müllplatzes bildete. Darunter findet sich eine mehr als ein Meter dicke Schicht mit einheitlich gefärbtem, ockerfarbenem Baugrund. Erst darunter sieht man dunklere Erde, den Mutterboden. „Ab hier wird es für uns interessant“, sagt Eric Göse, während er am Rand der Ausbettungsstätte steht und dem Baggerfahrer Einhalt gebietet, der nur die oberen Schichten entfernen soll. Danach beginnt die Handarbeit bis man sich vorsichtig zu der eigentlichen Grablage vorgearbeitet hat. „An der Färbung des Bodens kann man dann erkennen, ob hier schon einmal gegraben wurde. Die Erde weist dann im Gegensatz zu der Umgebung eine andere Struktur sowie Färbung auf. Das ist für uns ein wichtiger Hinweis, dass wir an der richtigen Stelle suchen“, sagt Eric Göse. Dann greift er zum Spaten und klettert in die inzwischen fast zwei Meter tiefe Grube hinab.
Belgien und die Feinheiten der Bürokratie
In diesem Augenblick sind all die Mühen, die sich im Vorfeld dieser Umbettung ergeben hatten, fast vergessen. Yvan Vandenbosch hat dazu sicherheitshalber den zugehörigen Aktenordner mitgebracht, der inzwischen eine stattliche Größe erreicht hat. Vandenbosch ist ehemaliger Berufssoldat, zuletzt Oberst im Generalstab. Er arbeitet ebenfalls schon seit mehr als einem Jahrzehnt als Beauftragter für den Volksbund. Das ist gerade in Belgien kein einfacher Job. Unterschiedliche Sprachen – und vor allem unterschiedliche Mentalitäten sowie behördliche Ansprüche machen die Organisation einer Umbettung komplizierter, als sie ohnehin schon ist. „Es gibt eigentlich nicht das EINE Königreich Belgien. Es gibt mehrere: Da ist Flandern, die Wallonie, der deutschsprachige Teil und natürlich der Großraum Brüssel, der wiederum eigene und von anderen teils völlig unterschiedliche Lebens- und Verwaltungsart pflegt“, erklärt Yvan Vandenbosch die Feinheiten der belgischen Bürokratie. Es ist kompliziert – aber die Belgier haben sich eben aufgrund dieser Besonderheiten auch zu wahren Vermittlern entwickelt, die sich behände zwischen den unterschiedlichen Kulturen bewegen können.
Am Rande der Kulturgrenze
So war es auch im Fall des Weltkriegstoten von Petit Enghien. Der so genannte Papierkram erstreckte sich über viele Monate. Es galt Anträge zu schreiben, die Finanzierung zu bestätigen, die Polizei zu benachrichtigen, Erlaubnisse und Genehmigungen zu beantragen und vieles mehr. Dazu kam noch die besagte Sprach- und Kulturgrenze, die ausgerechnet hier am Ortsrand von Petit Enghien verläuft.
Doch was lange währt, wird endlich gut, heißt es. Und tatsächlich kommen an einem ausgesprochen schönen Tag viele verschiedene Menschen auf diesem Friedhof zusammen. Neben einem Vertreter der Kommune, den Friedhofsarbeitern, einer Kriminalkommissarin ist auch Didier Pontzeele vom belgischen Kriegsgräberdienst persönlich vor Ort. Im Grunde ist mit ihm gleich der gesamte Kriegsgräberdienst des Königreiches Belgien anwesend, der nur aus seiner Person besteht. Er wird die Gebeine des Deutschen später übernehmen. Erst nach seiner amtlichen Prüfung kann der Kriegstote dann auf einer deutschen Kriegsgräberstätte bestattet werden.
Gedanke der Humanität
Umbetter Eric Göse (links) erklärt den Vertretern der Gemeinde, der Polizei sowie des belgischen Gräberdienstes die verschiedenen Arbeitsschritte, die für eine Ausbettung nötig sind.
All diese unterschiedlichen Menschen mit unterschiedlichen Interessen und sogar Sprachen stehen nun am geöffneten Grab, auf dessen Grund sich Umbetter Eric Göse inzwischen vorsichtig mit Spaten und später mit einer kleinen Kelle immer weiter zu den gesuchten Gebeinen vorarbeitet. Dann trifft er auf die ersten Knochen, die er schließlich mit behandschuhten Händen vorsichtig aus der feuchten Erde hebt. Dieser Moment ist so bewegend, dass diese Gruppe aus Unbekannten binnen kürzester Zeit zu einer kleinen Gemeinschaft heranwächst. Das verbindende Element ist dabei der Gedanke der Humanität, dass keinem Menschen, wer auch immer er gewesen sein mag, ein würdiges Grab vorenthalten werden darf.
Auch dieses Phänomen ist Eric Göse nach vielen tausenden Umbettungen längst bekannt: „Im Grunde ist es immer dasselbe“, sagt er, „erst stehen die Leute uns sehr skeptisch gegenüber. Wenn sie aber sehen, wie wir arbeiten und wir erklären, warum wir das tun, löst sich das alles förmlich in Luft aus. Das ist einer der angenehmeren Aspekte unserer Arbeit. Es zeigt, dass wir damit wirklich zu Versöhnung und Verständigung beitragen können.“
Doch damit ist die Arbeit längst nicht getan. Jetzt folgt die Protokollierung des gesamten Vorganges sowie der gefundenen Gebeine. Eine Erkennungsmarke oder andere persönliche Dinge, welche die spätere Identifizierung erleichtert hätten, findet Eric Göse allerdings nicht.
Keine Kugel, kein leichter Tod
Zugleich ergibt sich schon bei der ersten forensischen Betrachtung der menschlichen Überreste ein schreckliches Bild der Todesumstände: Eine Kugel, die einen schnellen Tod bedeutet hätte, findet sich nicht. Stattdessen weist der Schädel gleich mehrere schwere Verletzungen auf. Vor allem der Kieferbereich ist durch massive Gewalteinwirkung größtenteils zerstört. Zudem wurde der Kriegstote, der nach Studium seiner Überreste um die 30 Jahre alt und nicht sehr groß war, ohne jegliche Ausrüstungsgegenstände und Kleidung aufgefunden. „Eigentlich waren da nur ein paar wenige Knöpfe, die wohl zu einem damals üblichen Unterhemd gehörten. Mehr war da nicht“, sagt Göse, dem man die Enttäuschung darüber deutlich anmerken kann. Denn eigentlich ist nun klar geworden, dass dieser Soldat wohl nie mehr identifiziert werden kann. Nie werden seine Angehörigen von seinem Schicksal erfahren und kein Name auf seinem Grabstein stehen. „Das ist sehr traurig“, sagt Eric Göse, „aber genau so ist nunmal der Krieg!“
Auch dieses Schicksal, das für immer im Dunkeln bleibt ist eine Mahnung für den Frieden. Eines nicht mehr allzu fernen Tages werden alte und junge Menschen über die deutsche Kriegsgräberstätte im belgischen Lommel gehen, die dann seine letzte Ruhestätte wird – für immer. Vielleicht werden sie kurz innehalten, wenn sie an seinem Grab vorbeigehen, und sich fragen, wer er wohl war dieser unbekannte deutsche Soldat.
Maurice Bonkat
Erfolgreiche Umbettung: Nach getaner Arbeit übergibt Volksbund-Mitarbeiter Eric Göse (links) die Gebeine eines Kriegstoten an Didier Pontzeele vom belgischen Kriegsgräberdienst. (alle Fotos: Maurice Bonkat)