Die Gesichter des 12. März 1945
Neue App Digitaler Friedhof am Golm vorgestellt
Wer künftig die Kriegsgräberstätte am Golm auf Usedom besucht, sollte unbedingt sein Smartphone oder Tablet dabei haben – denn die sind in Verbindung mit der neuen App Digitaler Friedhof künftig der elektronische Schlüssel zum Friedhof. Einfach ins kostenlose WLAN-Netz gehen, den Browser öffnen und schon zeigt sich eine Fülle von Informationen, Grafiken und Bildern. Anlässlich des Jahrestages der Bombardierung Swinemündes am 12. März 1945 stellte der Volksbund nun diese neue Form der Information und Vermittlung erstmals in Deutschland vor. Das Projekt wurde vom Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur Mecklenburg-Vorpommern - Landeszentrale für politische Bildung gefördert.
„Dies ist eine echte Premiere! Die App Digitaler Friedhof gibt es bisher nur auf den beiden Kriegsgräberstäten in Langemark und Vladslo (beide Belgien). Für Deutschland nimmt der Golm nun eine Vorreiterstellung ein. Das Ziel ist es, auf diesem Wege auch die jüngere Generation für die Geschichte dieses Friedhofes und vor allem das Schicksal der hier bestatteten Kriegstoten zu sensibilisieren“, sagt Hauke Homeier, der das Gesamtprojekt seitens der Bundesgeschäftsstelle des Volksbundes in Kassel steuert. Die Inhalte der neuen App stammen vom Mitarbeiterstab der Jugendbegegnungs- und Bildungsstätte (JBS) Golm. So wurden bereits unter dem ursprünglichen JBS-Leiter Dr. Nils Köhler wie auch unter der neuen Führung von Kinga Sikora und Mariusz Siemiatkowski zahlreiche Zeitzeugenaussagen sowie Dokumente für die pädagogische Arbeit gesammelt.
Rundgang per GPS-System
Vieles davon findet sich auch in dem Informations-Pavillon auf der benachbarten Kriegsgräberstätte am Golm wieder. Anhand der dort ausgestellten Fotografien, den zugehörigen Lebensgeschichten sowie entsprechendem Hintergrundmaterial zum historischen Kontext erschließt sich die schicksalhafte Geschichte dieses Ortes. Die neue App überführt nun diese Inhalte direkt auf das eigene Smartphone. Zusätzlich bietet die App Digitaler Friedhof mittels einer interaktiven Karte per GPS-System auch einen qualifiziert geführten Rundgang über diesen so wichtigen Gedenk- und Erinnerungsort auf der Urlaubsinsel Usedom.
So erklärt die App direkt an Ort und Stelle die Besonderheiten des Friedhofs sowie die persönlichen Geschichten, die sich hinter den Gräbern verbergen. Man könnte sagen, dass die „Gesichter des 12. März“, also die Kriegsopfer, die hier in den verschiedenen Grabfeldern auf der Kriegsgräberstätte bestattet wurden, wieder sichtbar gemacht werden. Ähnlich ist es mit der GPS-Station am Rundbau. Hier erfährt man mehr über die historischen Zusammenhänge der Inschrift „Dass nie mehr eine Mutter ihren Sohn beweint“ – und auch warum diese derzeit nicht zu lesen ist. Nur wenige Meter weiter bietet die App weiterführende Informationen zur Skulptur des Künstlers Rudolf Leptien. Dabei erfährt man auch, warum sie erst so spät auf ihren inzwischen unbestrittenen Platz auf der Kriegsgräberstätte fand – und auch warum ihr die Nase fehlt. Wer nun neugierig geworden ist, findet alle Antworten auf offene Fragen ganz leicht mit der App Digitaler Friedhof.
Einer der Zeitzeugenberichte aus der App stammt von Dr. Detlef Langheim. Der inzwischen 77-Jährige ist einer der Überlebenden des Angriffes auf Swinemünde vom 12. März 1945. Genau 72 Jahre später kommt auch er persönlich zum Golm, dem Ort, an dem die Toten der Bombardierung Swinemündes bestattet wurden. Hätte es das Leben nicht so gut mit ihm gemeint, läge auch er heute an den Hängen des Golms, sein Name auf einer Gedenktafel.
Doch der damals fünfjährige Detlef hatte Glück. Kurz vor der Bombardierung klingelten zwei Soldaten an seiner Haustür, um die Mutter, ihn selbst und die kleine Schwester wie geplant zu evakuieren. Auch das gute Familiengeschirr war bereits verpackt und zum Hafen gebracht worden, wo ein Schiff zur Evakuierung bereit stand. Doch seine Mutter bestand darauf, erst noch ein paar Bratkartoffeln für die Kinder und die Soldaten zu machen. Dagegen war nichts einzuwenden. Als der kleine Detlef aber in diesem Augenblick aus dem Fenster im ersten Stock des Hauses sah, bemerkte er, dass in einiger Entfernung ein großes Haus einfach so in sich zusammensackte und eine große Staubsäule hinterließ. Als der einen der Soldaten darauf hinwies, brach plötzlich die Hölle aus. „Raus! Raus!“, brüllten die Soldaten, schnappten sich Kinder sowie die Mutter und stürmen in den Keller. Es war gerade noch rechtzeitig. Wenig später brach das Chaos über die Familie ein. Dennoch hatten Sie Glück und überlebten den Bombenangriff auf Swinemünde, bei dem nach Schätzungen bis zu 10 000 Menschen ums Leben gekommen waren.
Erinnerung aus Porzellan
„Ich habe in meinem Leben viele Schrecken aber eben auch viel Hilfe durch andere Menschen erfahren. Deswegen war ich auch immer sehr hilfsbereit und wollte meinerseits etwas zurückgeben“, sagt Dr. Detlef Langheim heute im Gespräch mit jungen Erwachsenen in der JBS Golm. Tatsächlich hatte er auch der JBS etwas zu geben – nämlich das oben beschriebene Familiengeschirr, das die Bombardierung Swinemündes schadlos überstanden hatte. Es ist gewissermaßen eine Erinnerung aus Porzellan. Heute steht es in einem Schaukasten am Eingang der ebenfalls neu eingerichteten Bibliothek der JBS Golm. Daneben findet sich in Kurzform die Geschichte der Familie Langheim. Auf der App Digitaler Friedhof ist sie noch ausführlicher zu lesen und zudem durch zahlreiche zeitgenössische Fotos anschaulich und authentisch illustriert.
Bei den Menschen ist viel zerbrochen
Noch besser ist es natürlich, wenn man Zeitzeugen wie Dr. Langheim persönlich befragen kann. Ohnehin ist das gesamte Kriegsgeschehen für viele Menschen der Erlebnisgeneration ein schwieriges Thema. Viele wollen gar nicht darüber sprechen und behalten ihre teils schrecklichen Erfahrungen aus dieser Zeit für sich. Am Golm ist das am 12. März 2017 ganz anders: Dr. Langheim spricht frei weg von der Leber und muss seitens der jungen Erwachsenen, unter denen sich auch die Mitglieder des Jugendarbeitskreises (JAK) Mecklenburg-Vorpommern befinden, viele Fragen beantworten. Das tut der 77-Jährige gerne. Und er hat eine Botschaft: „Unser Geschirr ist zwar ganz geblieben aber bei den Menschen ist viel zerbrochen. Krieg ist das Schlimmste, was man sich denken kann. Wir müssen alles tun, damit sich dies nicht ständig wiederholt. Es wäre besser, wenn sich die Menschen gegenseitig helfen würden und sich nicht nach dem Leben trachten. Man muss das Soziale betonen. Das wird viel dazu beitragen, weiter in Frieden leben zu können.“
Er selbst war als passionierter Brieftaubenzüchter und Jäger nach Ungarn und andere Länder des ehemaligen Ostblocks gereist. Dort hat er viele Leute kennengelernt, die ähnlich dachten wie er – und dennoch sehr unterschiedliche Menschen waren. Das Zauberwort heißt hier Toleranz. Als junger Mann war er auch viel per Anhalter unterwegs und erlebte dabei während eines England-Aufenthaltes eine besondere Begebenheit: Dabei wurden er und seine Begleitung von einem sehr freundlichen Engländer mitgenommen und sogar ein bisschen verpflegt. Am Ende bedankte sich dieser freundliche Mensch auch noch sehr überschwänglich. Dabei fand Detlef Langheim, dass eigentlich nur er selbst zu Dank verpflichtet sei. Doch der fremde Mann sah es anders. Er hatte am letzten Kriegstag seinen Sohn verloren – durch die Deutschen. Dass er aber diesem jungen Deutschen geholfen hatte und sich mit ihm so gut verstand, half ihm bei der Bewältigung des eigenen großen Verlustes. So sagte er nochmals Danke. Detlef Langheim hat diese Begegnung seither als Beispiel der Völkerverständigung in Erinnerung behalten und sich als Vorbild genommen.
Weitere Zeitzeugen auf der App
Neben den Erinnerungen von Dr. Detlef Langheim finden sich auf der App Digitaler Friedhof noch viele weitere Zeitzeugnisse und historische Hintergrundinfos. So auch bisher unveröffentlichte Dokumente und Fotografien. Des Weiteren gibt es Biografien von Stadtbewohnern, Flüchtlingen, deutschen Soldaten aber auch von Angehörigen der amerikanischen Luftwaffe. Die App ist in den Sprachen Deutsch, Polnisch und Englisch verfügbar. Damit leistet das Angebot der Kriegsgräberstätte Golm einen wichtigen Beitrag zu einer modernen und internationalen Erinnerungskultur.
Nachdem viele Gäste die neue App Digitaler Friedhof persönlich und mit sichtbar großem Interesse getestet hatten, folgte die Gedenkveranstaltung auf der nur wenige hundert Meter entfernten Kriegsgräberstätte Golm am Fuße der bekannten Skulptur „die Frierende“.
Dort fand Patrick Dahlemann, Parlamentarischer Staatssekretär für Vorpommern, in seiner Gedenkrede die passenden Worte für diesen besonderen Tag, an dem die Gesichter des 12. März, der Bombenopfer von Swinemünde wieder stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt wurden: „Deshalb bin ich so froh über die hervorragende Arbeit, die seit vielen Jahren hier auf Usedom, hier auf dem Golm geleistet wird. Die Einweihung der App Digitaler Friedhof eben ist ein schönes Beispiel dafür, dass Sie dabei immer mit der Zeit gehen und neue Wege der Vermittlung suchen. Darüber hinaus tun Sie hier auf dem Golm sehr viel für die deutsch-polnische Verständigung, vor allem hier im Grenzraum. Ich danke allen sehr herzlich, die sich hier am Golm eingesetzt haben – und weiter einsetzen werden.“
Maurice Bonkat