Die Zukunft ist offen
Bewegende Wiedereinbettung in Ysselsteyn
„Die Zukunft ist offen, offen für Überraschungen. Wer hätte gedacht, dass so viele Jahre nach Kriegsende einmal niederländische Soldaten einen Deutschen mit so viel persönlicher Anteilnahme zu Grabe tragen würden!“ Mit diesen Worten bewegt der niederländische Pfarrer Gerard van Driesten die Gäste der feierlichen Wiedereinbettung von Karl Götz in Ysselsteyn. Es ist bereits die dritte Beisetzung des deutschen Oberfeldwebels der früheren Deutschen Wehrmacht.
Dass das Schicksal von Karl Götz nun restlos aufgeklärt wurde, ist dem großen Engagement von Geert Jonker, Patric van Aalderen und Els Schiltmans vom Gräberdienst des niederländischen Heeres sowie der unermüdlichen Spurensuche des Sohnes Kurt Götz und der Unterstützung durch Freunde zu verdanken.
Alles begann mit einem Brief vom 4. Oktober 1944 – und dem herzzerreißenden Schrei der Mutter: „Ich hatte gerade draußen gespielt oder aber gebannt in den Himmel geblickt, da ich dort als kleiner Junge immer hoffte, meinen Vater zu sehen. Der war nämlich Ausbilder bei den Fallschirmspringern. Als Fünfjähriger wusste ich schon, dass der geliebte Vater gerade an der Front war, doch ein kurzer Blick in den Himmel konnte ja nicht schaden. An meiner Seite wedelte unser Hund Bobi friedlich mit dem Schwanz. Dann kam dieser Mann in schwarzer Uniform. Als er drinnen mit meiner Mutter sprach, hörte ich kurz darauf einen entsetzlichen Schrei, den ich von meiner Mutter so nie gehört hatte. Dieses markerweichende `Nein, nein, nein!` kann ich bis heute nicht vergessen“, sagt der heute 75-jährige Kurt Götz.
Im Jungen lebt er weiter
Das Kuriose war – und dies erfuhr er natürlich erst sehr viel später – dass seine Mutter direkt vor dem Eintreffen der Todesnachricht am Küchentisch den letzten Feldpostbrief ihres Mannes gelesen hatte. Danach kamen dann ganz andere Briefe: „Hochverehrte Frau Götz, ich drücke Ihnen zu Ihrem schwersten Verlust stumm die Hand und kann Ihnen nur den Trost mitgeben, dass in Ihrem Jungen Ihr geliebter Mann weiterlebt.“ Dieses Zitat stammt aus dem Kondolenzschreiben des Kompanieführers. Ein weiteres Schreiben eines Kameraden, der Gerda Götz wenig später den Nachlass ihres Mannes zukommen ließ, spricht neben den üblichen Floskel den nahezu identischen Gedanken aus: „Als einziger Trost bleibt Ihnen ihr Junge, in dessen Wesen und Charakter ihr Ehegatte weiterleben wird.“
In gewisser Weise waren diese gut gemeinten Sätze weniger ein Trost für die noch junge Witwe, sondern vor allem ein künftiger Ansporn für den Sohn: Natürlich wollte er seine Mutter als großer Junge unterstützen. Vor allem sah er in diesen Worten eine Verpflichtung, seinen Vater so gut wie möglich in Erinnerung zu bewahren – und später alle Umstände seines Todes aufzuklären sowie sein Grab ausfindig zu machen. Doch das war leichter gedacht, als getan. Es sollte noch knapp 70 Jahre dauern, bis dieser tief empfundene Wunsch in Erfüllung ging.
Große Risiken eingehen
Die lange Spurensuche hatte viele Gründe. Zunächst waren die seelischen Wunden noch zu frisch, die täglichen Nöte zu groß und der junge Kurt einfach noch zu klein, um weitere Nachforschungen oder gar einen Besuch am Grab des Vaters ins Auge fassen zu können. Später, inzwischen hatte die Regierung der DDR eine Mauer um das ganze Land gezogen, war dann gar nicht mehr daran zu denken. Kurt Götz versuchte es dennoch. Dabei ging er große Risiken ein. In der damaligen DDR war es nicht gerne gesehen, wenn sich Angehörige zu sehr um Schicksalsklärung ihrer im Krieg gefallenen Familienmitglieder kümmerten. Schließlich galten sämtliche deutschen Soldaten des Zweiten Weltkrieges grundsätzlich als „verbrecherische Faschisten“.
Ein sanfter Riese
Kurt Götz ließ sich dennoch nicht beirren. Er hatte seinen Vater ganz anders in Erinnerung. In dieser Erinnerung war der Vater ein lustiger, ein hilfsbereiter, ein sanfter und liebender Riese: „Wenn ich zurückdenke, sehe ich meinen Vater immer als einen Mann, der alle anderen überragt – und das nicht nur körperlich, sondern auch in seinen Eigenschaften. Als Ausbilder in Stendal sorgte er immer vorbildlich für seine Leute. Wenn er aber nach Hause kam, flog die Uniform in die Ecke und er war nur noch für mich da“, schwärmt Kurt Götz.
Bei der liebenden Erinnerung an den Vater ist Kurt Götz aber nicht nur auf die wenigen Anekdoten angewiesen, die üblicherweise in den Familien von Kriegstoten tradiert werden. Nein: Kurt Götz kann auf eine ganze Schrankwand mit Dokumenten aus der Kriegszeit, mit Fotos, Briefen, Erinnerungsstücken und vieles mehr zurückgreifen. Später ergänzt er die Sammlung durch militär-historische Unterlagen und viele Gespräche mit ehemaligen Kameraden und Bekannten seines Vaters. Dieser Schatz, wie Kurt Götz seine persönliche Sammlung nennt, war auch der Ausgangspunkt für seine spätere Grabnachforschung. Aufgrund der schwierigen Verhältnisse in der DDR erreichten ihn viele Briefe nur über Umwege oder auch gar nicht. Dennoch wandte er sich auch an mehrere Behörden und Organisationen aus dem westlichen Teil Deutschlands, dem so genannten Klassenfeind. Tatsächlich bekam er Antwort – auch vom Volksbund, der das Antwortschreiben zur Sicherheit in einem privat anmutenden Umschlag versandte. So erreichen die wichtigen Dokumente über die mit Stacheldraht und Selbstschussanlagen bewährte innerdeutsche Grenze hinweg ihren Empfänger in Stendal.
Erste und zweite Beerdigung
Kurt Götz konnte schließlich exakt nachvollziehen, dass sein Vater, der am 26. September 1944 bei Wijbosch im Raum Hertogenbosch in den Niederlanden tödlich verwundet wurde, zunächst irgendwo vor Ort gemeinsam mit vier weiteren Kameraden nahe einer Kirche beerdigt wurde. Doch dies sollte nur eine Zwischenlösung sein. Ab dem Jahr 1945 kamen die Niederlande dem Wunsch der amerikanischen Streitkräfte nach, dass sämtliche deutschen Toten aus verstreuten Grablagen in den Niederlanden auf einer zentralen Kriegsgräberstätte nahe der deutschen Grenze erneut bestattet werden sollten. Dieser Ort findet sich in der niederländischen Provinz Limburg und heißt Ysselsteyn. Heute ruhen hier über 31 500 Kriegstote aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Unter ihnen ist auch der Vater von Kurt Götz.
Doch dann ergab sich ein weiteres, ein völlig unerwartetes Problem: Bei dieser zweiten Bestattung von Karl Götz unterlief dem niederländischen Gräberdienst wohl ein organisatorischer Fehler. Dieser führte letztlich dazu, dass man nun nicht mehr sagen konnte, wo genau das exakte Grab von Karl Götz lag. Drei der fünf gemeinsam Bestatteten waren noch eindeutig ihren neuen Gräbern zuzuordnen. Bei den zwei verbliebenen Gräbern herrschte dagegen Ungewissheit. Eines dieser Gräber war das Grab von Karl Götz – nur welches?
Bis zur Beantwortung dieser für den Sohn so wichtigen Frage verstrichen ein paar Jahrzehnte. Kurt Götz ließ nicht locker. Mit Warrant Officer Geert Jonker, Patric van Aalderen und Els Schiltmans vom Gräberdienst des niederländischen Heeres fand er zudem gewissermaßen ebenso beflissene Seelenverwandte. Auf der Basis der von Kurt Götz lebenslang zusammengetragenen Informationen, wollten sie erneut Licht ins Dunkel der Vergangenheit bringen. „Es kann nicht sein, dass wir das einst bekannte Grab durch eine Ungenauigkeit nun doch nicht mehr bestimmen können“ – so lautet die gemeinsame, die deutsch-niederländische Devise von Kurt Götz und den niederländischen Soldaten.
DNA-Analyse bringt Gewissheit
Dies war keineswegs selbstverständlich. Zwar bemühen sich die Niederlande bis heute vorbildlich um die Schicksalsklärung der deutschen Kriegstoten, doch die großen Anstrengungen, die vor allem Patric van Aalderen und seine Kollegen leisteten sind schon aus finanziellen Gründen nicht immer möglich. „Hier gibt es einen gewissen Ermessungsspielraum. Für Herrn Götz haben wir diesen Spielraum größtenteils ausgeschöpft“ sagt Patric van Aalderen. Dabei halfen ihn auch die umfangreichen Informationen über Karl Götz, der leider ohne Erkennungsmarke beigesetzt wurde: „Alter, Größe, Art der Verletzungen und weitere Kriterien, die zu einer Identifizierungen führen können, lassen sich am Skelett auch noch nach vielen Jahrzehnten nachweisen. Absolute Sicherheit würde in diesem Fall aber nur eine kostspielige DNA-Analyse geben. Aufgrund der hohen Kosten haben wir lange darüber nachgedacht, ob wir das machen können“, sagt van Aalderen.
Irgendwann ist es soweit und die Nachforschungen über die tatsächliche Grablage von gehen in die Zielgerade. Diese Zielgerade besteht unter anderem aus endlosen Autobahnkilometern, welche die Mitarbeiter des niederländischen Gräberdienstes zurücklegen, um Erika und Kurt Götz in Stendal zu besuchen. Dort lässt sich Patric van Aalderen nochmals alle Dokumente zeigen. Auch um einige Fotos seines Vaters bittet er den 75-jährigen Sohn. Eines dieser Bilder zeigt ihn als Kleinkind in den Armen seines geliebten Vaters. „Dieses Bild spricht Bände. Ich habe darum gebeten, weil ich es später ans Grab von Karl Götz stellen wollte. So wollte ich zeigen, dass hier wie in so vielen anderen Gräbern vorrangig Menschen, geliebte Familienangehörige begraben sind, deren Leben nicht nur aus dem Militärdienst bestand“, sagt van Aalderen später.
Grab wird geöffnet
Dann folgt der wichtigste Moment dieses Besuches in Stendal: Mit einem kleinen Wattestäbchen aus einem sterilen Röhrchen nimmt Els Schiltmans eine Speichelprobe von Kurt Götz. Diese wird später im Labor mit der Analyse kleinster Knochensplitter aus dem vermuteten Grab von Karl Götz verglichen. Dazu wurde das Grab zuvor unter der Aufsicht des niederländischen Gräberdienstes sowie von Volksbund-Mitarbeitern erneut geöffnet.
Normalerweise beginnt danach die große Wartezeit. Es kann durchaus über einen Monat oder länger dauern, bis das Laborergebnis einer Speichelprobe vorliegt. Doch in diesem Fall, der bereits vor 70 Jahren seinen Anfang nahm, geht alles ungewohnt schnell. Ob auch die Kollegen aus dem Labor aufgrund der bewegenden Geschichte des Sohnes aus Deutschland, der seine Suche nach dem geliebten Vater niemals aufgebeben hatte, die Untersuchung bewusst beschleunigen, ist nicht bekannt. Doch bereits nach einer Woche herrscht Gewissheit: In Stendal klingelt das Telefon. Als Kurt Götz annimmt, fragt ihn Patric van Aalderen zunächst, ob er denn auch gerade säße. Dann kommen die über Jahrzehnte erhofften Antworten: Ja, wir konnten ihren Vater aufgrund ihrer Speichelprobe eindeutig identifizieren. Ja, er wird nun nochmals – und diesmal unter seinem Namen – feierlich in Ysselsteyn bestattet. Herr Götz ist zu diesem Zeitpunkt längst in seinen Sessel gefallen. Er zittert ein wenig und in seinen Augen sieht man das, was gemeinhin als Freudentränen bezeichnet wird.
Urenkelin nimmt Abschied
Als es Ende April 2014 dann soweit ist, steht Kurt Götz mit seiner Ehefrau Erika keineswegs alleine am Grab. Alle, die an dieser ungewöhnlichen Spurensuche beteiligt waren, sind ebenfalls gekommen. An diesem Tag weichen sie nicht von der Seite des 75-Jährigen. Der hat zusätzlich große Teile seiner Familie eingeladen. Neben seinem Sohn Bernd Götz ist auch seine 21-jährige Enkeltochter Silvana Götz samt Lebensgefährten gekommen. Die Urenkelin des Kriegstoten hatte dabei die kürzeste Anreise. Wie es der Zufall will, studiert sie inzwischen ganz in der Nähe in Nijmegen. Heute nimmt sie Abschied von ihrem Urgroßvater, den sie nie gekannt hat.
Viele Zufälle, zahlreiche Gäste
Dazu kommen viele weitere Gäste wie der Verteidigungsattaché an der Deutschen Botschaftz Den Haag, Oberstleutnant i. G. Joachim Schmidt samt Ehefrau. Zufällig arbeiten in diesen Tagen zudem gerade die freiwilligen Helfer der Bundeswehr vom Logistikbataillon142 unter der Leitung von Oberleutnant Florian Jurk aus dem mecklenburgischen Basepohl auf der Kriegsgräberstätte. Als sie von der Wiedereinbettung erfahren, möchten auch sie Teil dieses Ereignisses sein. So stehen s ie während der kleinen Gedenkfeier, die von den beiden Gottesleuten Hubert Janssen und Gerard van Driesten geleitet wird, in einer Reihe hinter den Gräbern. Sie sind es auch, die später am Tag das offene Grab mit den vielen Blumen wieder sorgsam schließen, bevor sie sich weiter um die Grünpflege der gesamten Anlage kümmern. Ein weiterer dieser willkommenen Zufälle ist auch die Anwesenheit der jugendlichen Radfahrertruppe um Pfarrer Markus Trautmann von der St. Viktor-Gemeinde aus Dülmen. Sie machen eine mehrtägige Radtour zur deutschen Kriegsgräberstätte in den Niederlanden. Am Grab tragen sie ein eigenes Gebet vor.
Nun sind sie alle versammelt, deutsche und niederländische Soldaten, Gottesleute verschiedener Religionen, wichtige Staatsvertreter, Besucher und bis zur vierten Generation auch fast die gesamte Familie von Karl Götz. Einer der guten Freunde von Kurt Götz ist ebenfalls dabei: Steffen Rhode. Er war Oberstleutnant bei den Fallschirmjägern der Bundeswehr – und so fand er auch Kontakt zu Herrn Götz. Besonders half er ihm durch seine große Sachkenntnis sowie zahlreiche Kontakte und Aufrufe in der Fallschirmjäger-Fachzeitschrift. In diesen Aufrufen war übrigens auch das besagte Foto von Herrn Götz als Bub mit seinem Vater abgebildet. So kamen viele gute Kontakte zustande.
Ein weiterer dieser wichtigen Unterstützer ist ebenfalls Niederländer. Er heißt Anton Beijg. Der Hobby-Historiker fand letztlich im niederländischen Zentralarchiv ein Dokument, welches die Ursprungsgrablage ganz genau beschrieb. Schließlich fuhr Anton Beijk zu dem in den Dokumenten bezeichneten Ort und fand dort tatsächlich – noch unterstützt durch die Angaben einer Zeitzeugin – das Ursprungsgrab. „Hierdurch war quasi der Grundstein für meine Nachforschungen gelegt. Dafür möchte ich ihm neben vielen anderen Helfern von ganzem Herzen danken“, sagt Kurtz Götz mit belegter Stimme.
Das besagte Bild vom Vater mit dem Sohne steht nun wieder am Grab. Es ist bereits die dritte Bestattung von Karl Götz – aber auch die erste, die einen wirklich würdevollen und bewegenden Rahmen bietet. Und ja: Das alles hätte sich vor 70 Jahren wohl niemand vorstellen können – die Zukunft ist offen!
Maurice Bonkat