Eigentlich bin ich doch die Jüngste!
Gertrud Henze mit 111 Jahren treues Volksbund-Mitglied
Manche Dinge ändern sich bei Frauen wohl nie, vor allem nicht diese Sache mit dem Alter. Da wird schon mal ganz gern geschummelt. Gertrud Henze hätte das überhaupt nicht nötig. Und so ist es einer ihrer kleinen Scherze, als sie sich zunächst als 101-Jährige bezeichnet. Dabei hat sie damit tatsächlich noch um ganze zehn Jahre untertrieben: Gertrud Henze wurde am 8. Dezember 1901 auf Rügen geboren. Sie ist also 111 Jahre alt – und damit zugleich das älteste Volksbund-Mitglied.
Im Grunde ist sie – oder besser: ihr Vater – schon von Anfang an dabei. Als der Volksbund im Jahre 1919 gegründet wurde, um den kaum handlungsfähigen Staat in der Aufgabe der Kriegsgräberfürsorge zu unterstützen, war Pfarrer Henze eines der ersten Mitglieder. Nach seinem Tod übernahm dann seine jüngste Tochter Gertrud die Mitgliedschaft und blieb dabei bis heute. „Ich finde es einfach sehr anständig, was der Volksbund für die Angehörigen der Kriegstoten tut. Das unterstütze ich gerne“, sagt die 111-Jährige.
Gründe für ihre Mitgliedschaft hat Gertrud Henze leider viele. Denn im Zweiten Weltkrieg verlor sie neben zwei Cousins und dem Schwager auch den einzigen, den großen Bruder. Sein Name war Friedrich. „Der Herr Leutnant“, wie ihn die Leute aus dem Dorf immer voller Respekt genannt haben. Das lag daran, dass er in seinem Heimatdorf der Erste war, der im Kriege verwundet wurde. Dieser Krieg war der Erste Weltkrieg. Noch im Jahr 2013 bewahrt seine jüngste Schwester ein Foto aus jenen Tagen, auf dem ihr Bruder mit leicht melancholischem Blick und dem Eisernen Kreuz an der Brust zu sehen ist. Es gibt viele weitere Bilder: der Bruder stolz zu Pferde, auf Genesungsurlaub in den Schweizer Bergen oder auch mal braun gebrannt und austrainiert in seiner Badehose.
Mein Bruder, der Held
„An diese Zeit erinnere ich mich eigentlich am besten, besser als an den Zweiten Weltkrieg“, sagt Gertrud Henze: „Ich weiß noch, dass er es kaum erwarten konnte, von der Schulbank direkt in den Krieg zu ziehen. So war das damals. Man konnte den Krieg kaum erwarten. Aber das hielt nicht lang an. Und dann kam es auch gleich ganz dicke für meinen Bruder ...“
Friedrich wird bereits nach wenigen Wochen im Fronteinsatz von einem Granatsplitter schwer verletzt. Teilweise ist sein Körper gelähmt, regeneriert sich dann aber wieder mühsam. Das Metallstück, das seine Schulter halbwegs zerfetzt hatte, lag noch jahrelang auf seinem Schreibtisch. Es war eine Mahnung. „Doch für die Menschen in unserem kleinen Dorf war er einfach nur der große Held“, erinnert sich seine Schwester heute: „Da haben die Nachbarn üppige Wurstkörbe verschenkt. Einmal kamen auch zwei etwas verschüchterte Mädchen zu uns. Auf einem Tablett brachten Sie selbst gemachte Butter, die sie mit viel Mühe und Geschick zu kleinen Figürchen geformt hatten. Es war einfach bezaubernd und mein Bruder musste doch sehr schlucken. Trotz all der Schrecken, die er gesehen hatte, war er selbst trotz allem noch mit Mühe am Leben geblieben und umgeben von Menschen, die ihn liebten und bewunderten. Er hatte Glück gehabt. Leider blieb es nicht dabei.
Lebenslicht ausgelöscht
Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges war Friedrich Mitte Vierzig und damit eigentlich zu alt und nach der Verletzung zudem gesundheitlich zu angeschlagen, um noch in den Krieg ziehen zu müssen. Gegen Ende dieses schrecklichen Krieges, Friedrich ist jetzt bald 50 Jahre alt, fragt danach niemand mehr. Jeder Mann, jedes Kind und jeder Greis wird gebraucht, um sich für eine längst verlorene Sache nutzlos aufzuopfern. Dafür erfindet man den euphemistischen Titel Volkssturm. Historiker sprechen heute von einem aus militärischer Sicht absolut sinnlosen und zudem menschenverachtenden Unterfangen, das von vornherein keinerlei Erfolgsaussichten hatte.
Auch Friedrich Henze hatte längst gespürt, was ihn erwartete. Von Vorfreude war nun im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg keine Rede mehr. „Ich habe meinem Bruder angesehen, dass er sich große Sorgen machte, uns aber davon nichts erzählen wollte“, erinnert sich seine Schwester heute. Leider sollte Friedrich mit seinen düsteren Vorahnungen recht behalten. Der so genannte Sturm des Volkes löschte letztlich auch das Lebenslicht von Friedrich Henze und vielen anderen aus. Er stirbt irgendwann im Frühjahr 1945 bei den Verteidigungskämpfen um Berlin. Genau weiß es keiner. Volksturmmann Henze gilt als vermisst. Seine Leiche wird zunächst nicht gefunden.
Zurück bleiben die Angehörigen wie Gertrud Henze und vielleicht auch ein einsames Soldatengrab. Wenigstens das. Aber auch darauf mussten Friedrichs Angehörige, nach seinem Tode noch vier weitere Jahre warten: „Dann kam dieser Tag im Jahr 1949. Ich arbeitete damals als Bibliothekarin und bekam völlig unerwartet die Nachricht, dass ich den Totenschein meines Bruders nun auf dem Amt abholen könne. Viel größer hätte der Schecken nicht sein können! Denn zu diesem Zeitpunkt wussten wir noch gar nicht, dass unser Friedrich gefallen war.“
Es war ein großer Schock für sie, der größte in ihrem ganzen langen Leben. Zum Glück habe sie aber vieles vergessen aus jenen Kriegstagen, in denen sie zeitweise selbst als Krankenschwester aus eigener Erfahrung das Grauen und die Not zu bekämpfen oder zumindest zu lindern suchte. Für die eigenen Probleme blieb dann nur wenig Zeit. Und die einzig mögliche Medizin, die dann vielleicht noch hilft, ist das Vergessen.
Pfarrers Kinder,
Müllers Vieh
Sehr gut und gerne erinnert sich die 111-Jährige dagegen an ihre Kindheit im Pfarrhaus auf Rügen oder an spätere Jugendzeiten in der schönen Harzstadt Goslar. Ihre musikalischen und gottesfürchtigen Eltern hat sie in all der Zeit sehr geliebt, besonders den Vater. Zugleich kokettierte sie stets mit ihrem Status als Pastorentochter: „Pfarrers Kinder, Müllers Vieh geraten selten oder nie“, sagt sie und lacht dabei herzlich in Erinnerung an vergangene Kindheitstage.
Ohnehin zeichnet sich Gertrud Henze vor allem durch eines aus: Humor. Davon hat sie sich trotz all der Schicksalsschläge eines Lebens, das sich inzwischen weit über die gewöhnlichen Jahrhundertgrenzen ausdehnt, bis heute jede Menge bewahrt. Würde man nach dem leider viel zu häufig bemühten Geheimrezept für ein langes Leben fragen, könnte man hier vielleicht fündig werden. Doch für Gertrud Henze ist auch das nicht wirklich angemessen. Angesichts der schier beeindruckenden Dauer ihres Lebens und der teils unerträglichen Schicksalsschläge ist diese Frage einfach zu klein geraten.
Und so ganz ohne Scherz möchte sie das mit ihrem hohen Alter dann auch wieder nicht stehen lassen. „Denn eigentlich war ich in unserer Familie ja immer die Kleine, die Nachzüglerin. Ich bin doch eigentlich die Jüngste - und nicht die Älteste“, sagt die 111-Jährige und lächelt.
Maurice Bonkat