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„Mama, es ist doch ein Wink!“

10 Jahre deutsche und russische Kriegsgräberstätte Rshew: Begegnungen

Gibt es so etwas wie höhere Fügung? Als eher nüchterner Mensch fällt es mir schwer, das zu glauben. Ich glaube eher an Zufälle, selbst an unwahrscheinliche. Doch diese Grundeinstellung ist seit meinem letzten Besuch in Rshew ein wenig ins Wanken geraten ...

Wilma und Werner Winkler sind unschlüssig, ob sie dieses Mal wirklich mit dem Bezirksverband Oberpfalz mitfahren sollen. Die lange Busreise, und man war doch schon zweimal in Russland!

Aber ein Ziel der Reise ist immerhin Rshew! Nicht weit von der Stadt an der Wolga ist am 11. Dezember 1942 der deutsche Hauptmann Willi Klein – Wilmas Vater – gefallen. Von der Beförderung des gebürtigen Nürnbergers haben die Soldaten seiner Einheit und er nicht mehr erfahren. So steht auf dem hölzernen Grabkreuz am Rand des kleinen russischen Dorfes Schelkowitino bei Osuga, 25 Kilometer südlich von Rshew, noch der Dienstgrad Oberleutnant.

Und dann sind da die Kinder der Winklers. „Schaut doch dort, ob ihr den Opa findet“, sagen sie. Der Opa: Sie haben ihn nie kennengelernt. Aber die Familie hat ihn in ihrer Erinnerung bewahrt. Der Opa, der war eigentlich nicht tot. Nur war er halt nie da. Sein Grab allerdings glaubten sie verloren. Tochter Michaela, Religionslehrerin, rät trotzdem zu: „Mama, fahrt doch mit. Es ist doch ein Wink!“ Eine Eingebung?

Wilma Winkler war fünfeinhalb Jahre alt, als der Vater fiel. Sie erinnert sich an seinen letzten Urlaub: „Eigentlich war er ein hundertprozentiger Soldat. Aber er sagte: ,Am liebsten würde ich jetzt bei Euch bleiben.‘“ Wäre er doch nur geblieben – wenn er nur hätte bleiben dürfen.

Die Reisegruppe aus der Oberpfalz, wie immer unter der bewährten Leitung von Bezirksgeschäftsführer Kaspar Becher, besucht auch die deutsche Kriegsgräberstätte in Smolensk. Dort sprechen die Winklers Reinhard Führer, den Präsidenten des Volksbundes, an. Sie zeigen ihm ihre Unterlagen. Ob denn überhaupt noch Hoffnung bestünde, den Vater zu finden? Seit mehr als zehn Jahren arbeitet der Volksbund im Gebiet des ehemaligen Frontbogens um Rshew. 24 821 Kriegstote hat er bis jetzt geborgen und auf dem neuen deutschen Friedhof bestattet.
Dass der Volksbund jetzt gerade in Schelkowitino arbeitet, ist nicht zuletzt der Hartnäckigkeit von Johann Schneider aus Langebrück bei Dresden zu verdanken. Er hat bei der Suche nach dem Grab seines Vaters Johannes Schneider (* 25.11.1919  = 2.12.1942) Informationen und Fotos beschaffen können, die dem Volksbund die entscheidende Hilfe bei der Lokalisierung des kleinen Friedhofs gegeben haben. Schneider beobachtet mit seinem Sohn gespannt die Ausbettung der Toten. Noch ist der Vater nicht gefunden. Aber auch sein Kreis wird sich hier, an dieser unscheinbaren Stelle im weiträumigen, flachen Brachland, schließen.

Und was ist es nun? Ein Wunder? Eine Eingebung? Eine Fügung? Oder doch nur ein Zufall? Die Umbetter haben am Tag zuvor ein Grab geöffnet, die Gebeine eines deutschen Soldaten geborgen und seine Erkennungsmarke sichergestellt. Es ist nach der Liste der Deutschen Dienststelle in Berlin die Erkennungsmarke von Willi Klein! Zwar ist die Identität des Toten noch nicht amtlich von der Deutschen Dienststelle bestätigt, und das kann auch noch eine Weile dauern. Aber für den Volksbund steht mit sehr großer Sicherheit fest: Willi Klein ist gefunden. Er wird bald bei seinen fast 25 000 Kameraden in Rshew ruhen. Und seine Familie wird ihn besuchen. Das ist gewiss.

Am 22. September, während der Gedenkveranstaltung zum zehnten Jahrestag der Einweihung der deutschen und der russischen Kriegsgräberstätte in Rshew, treffe ich die Winklers. Gerade haben sie von unserem Mitarbeiter Uwe Lemke erfahren, dass der Vater gefunden ist. Sie sind erstaunlich gefasst. Ich kenne das aus vielen Begegnungen mit Angehörigen. Die Emotion wird noch über sie hereinbrechen.

An einem 22. September vor genau 100 Jahren ist übrigens der deutsche Soldat geboren, dessen Erkennungsmarke ein Umbetter in meiner Gegenwart aus einem anderen Grab in Schelkowitino birgt. Seitdem grüble ich über Fügung und Zufall nach.

Worüber ich gar nicht mehr grüble, sondern mich einfach nur freue, das sind die vielen Beispiele gelungener deutsch-russischer Versöhnung. Die verschiedenen Umarmungen, deren Zeuge ich werde, sprechen eine sympathische Sprache. Wenn Reinhard Führer, Präsident des Volksbundes und Alexander Chartschenko, der ehemalige Bürgermeister von Rshew, sich umarmen, dann hat das nicht etwa mit einem gemeinsamen Abend und womöglich zu vielen Trinksprüchen zu tun. Diese Freundschaft entstand vor zehn Jahren, als sich der damalige russische Gouverneur vehement gegen die gemeinsame Eröffnung der beiden Friedhöfe in Rshew wandte. Alexander Chartschenko – tatkräftig unterstützt von seiner Stellvertreterin, der „mütterlichen Seele“ Galina Meschkowa – und die örtlichen Veteranen wollten gemeinsam mit dem Volksbund das Projekt. Und sie setzten sich durch!

Das war aber nicht einmal der „Beginn einer wunderbaren Freundschaft“, sondern eigentlich nur ihre Fortsetzung. Denn deutsche und russische Kriegsteilnehmer, das in Gütersloh beheimatete „Kuratorium Rshew“ und die Rshewer Veteranen, sind schon seit 1993 in Kontakt, haben sich längst die Hand gereicht. Sie haben sich seitdem viel mehr als nur einmal umarmt und – ja, natürlich – dabei auch einiges an Wodka „vernichtet“. Die Umarmung von Jevgenij Kniga, Vorsitzender des Veteranenrates Rshew, und Karl-Josef Schafmeister, des Vorsitzenden des Kuratoriums Rshew, ist deshalb gar kein Symbol einer neuen Qualität der deutsch-russische Beziehungen. Sie ist einfach nur Ausdruck einer gewachsenen, von Respekt und Achtsamkeit getragenen Freundschaft.

Junge Menschen aus Deutschland und Russland, aus Gütersloh und Rshew, arbeiten seit vielen Jahren gemeinsam an den Kriegsgräbern und Denkmälern. Heute stehen zwei von ihnen, Sergej Tsvetkov und Olga Bünemann, vor den über 600 Teilnehmern der Gedenkfeier. Sie betonen selbstbewusst: Wir brauchen uns nicht mehr zu versöhnen. Wir sind bereits ein „Produkt“ der Versöhnung! Uns trennt nicht der Krieg. Wir arbeiten am gemeinsamen Europa!

Vor zehn Jahren versuchte der Gouverneur des Gebietes Twer die Einweihung der beiden Friedhöfe zu verhindern. An den damaligen Streit erinnert der Stellvertreter des Gouverneurs, Vitold Vadslavovic Savadskij. Er stellt fest, dass die „Generation der Sieger“ bereits verziehen habe. Deshalb sei auch die Generation ihrer Kinder, ihrer Nachfolger, gewillt, die Hand zum Frieden auszustrecken. Güte gegenüber den Gefallenen, den ehemaligen Feinden, bereite den Weg zu künftigem Verständnis – Hass und Krieg hingegen seien der Weg zur Zerstörung.

An den steinigen Weg zur Versöhnung erinnert auch Reinhard Führer. Der Präsident des Volksbundes dankt allen den großherzigen Menschen aus Russland, die geholfen haben, die Steine aus dem Weg zu räumen.

Der deutsche Botschafter in Moskau, Ulrich Brandenburg, erinnert daran, dass die hier liegenden 35 000 Kriegstoten beider Nationen bis jetzt nur ein kleiner Teil der vielen Hunderttausend Menschen sind, die vor gut 70 Jahren hier kämpften, litten und starben. Er ist froh über das gemeinsame Gedenken. Deutsche und Russen hätten gelernt, gemeinsam mit ihrer Vergangenheit umzugehen, mit Respekt, ohne zu verschweigen, was geschehen sei, und im Bemühen, heute das Richtige zu tun. Und er dankt dem Volksbund, der dabei hilft, die Erinnerung an die Schrecken des Krieges und seine Opfer wach zu halten.

Über 600 Deutsche und Russen – Jung und Alt, Teilnehmer des Krieges wie ihre Kinder und Enkel, offizielle und private Besucher – nehmen am 22. September 2012 an der Gedenkfeier zur Einweihung der beiden Kriegsgräberstätten am Stadtrand von Rshew teil. Diese beiden Friedhöfe setzen mit ihrer Lage ein gut verständliches Zeichen. Staatssekretär a. D. Hans-Jürgen Wolff bringt es in seiner Gedenkrede auf den Punkt:

„Es gibt kein besseres Symbol dieser Gemeinsamkeit als den Doppelfriedhof von Rshew. Der russische und der deutsche Soldatenfriedhof liegen einander nicht gegenüber wie zwei feindliche Heere. Sie lehnen Seite an Seite an derselben Straße, und viele Menschen besuchen denn auch beide Anlagen, grüßen einander am Wege, helfen vielleicht einem Fremden dabei, ein Erinnerungsfoto zu machen oder einen Blumenstrauß zu richten. Die beiden Friedhöfe trennen im Leben die Deutschen und Russen nicht, sie verbinden sie, so wie uns der heutige Tag verbindet.“

Wilma und Werner Winkler sind inzwischen wieder zuhause. Ich bin sicher, sie werden wieder nach Rshew kommen, dieses Mal mit ihren Kindern. Denn der Opa, er ist ja jetzt da.

Martin Dodenhoeft

Erneut zeigte sich, wie wichtig es ist, dass der Volksbund von den Familien Informationen und, wenn vorhanden, auch Bilder von den Gräbern und Friedhöfen aus der Kriegszeit erhält. Wir möchten deshalb unseren Aufruf wiederholen: Wenn Sie so etwas haben, stellen Sie es bitte unserer Abteilung Gräberdienst zur Verfügung!