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Meymac: Der letzte Augenzeuge bricht sein Schweigen

Suche nach erschossenen Soldaten in Frankreich geht weiter – Redakteur Ludger Möllers beleuchtete in der „Schwäbischen Zeitung“ die Hintergründe

Am 16. August 2023 beginnen die Grabungen bei Meymac, um die Gebeine von 47 Wehrmachtssoldaten und einer Französin zu finden und zu bergen. Der Volksbund ist auf Bitten der französischen Behörden mit seinen Experten auch bei diesem zweiten Einsatz dabei. Sondierungen Ende Juni hatten ein positives Ergebnis gebracht, eine Verdachtsfläche ist ermittelt. Ausführlich beleuchtete Redakteur Ludger Möllers in der „Schwäbischen Zeitung“ die Hintergründe. Damit setzen wir unsere Reihe „Fremde Federn“ fort.

 

Ein heute 98-jähriger Franzose war im Jahr 1944 bei den Erschießungen von 47 deutschen Kriegsgefangenen durch die Résistance dabei. Jetzt berichtet er erstmals und wünscht sich Aussöhnung. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge sucht in Zentralfrankreich nach den Gräbern. 

 

Kampfname: „Papillon“

Edmond Réveil ist im Juni 1944 19 Jahre jung. Er hat sich der französischen Résistance angeschlossen, kämpft gegen die deutschen Besatzer in Zentralfrankreich. Sein Kampfname: „Papillon“, also „Schmetterling“. Am 12. Juni erhält seine Widerstandsgruppe („Maquis“) den Befehl, 47 Wehrmachtssoldaten und eine der Kollaboration verdächtige junge Französin zu erschießen. 79 Jahre lang schweigt Réveil, der heute 98 Jahre alt und der letzte noch lebende Maquisard seiner Einheit und Augenzeuge ist, zu den Geschehnissen. Jetzt, fast acht Jahrzehnte nach der Tat, will „Papillon“ Aussöhnung – und sein Gewissen erleichtern: „Heute müssen die Leichen ihren Familien zurückgegeben werden. Wir haben sie mit ihren Soldbüchern und Erkennungsmarken begraben. Ich bin froh, dass die Tat heute kein Geheimnis mehr ist.“ 

Réveils Wunsch könnte Wirklichkeit werden: Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge will die französischen Behörden im August dabei unterstützen, im südfranzösischen Meymac die sterblichen Überreste der Soldaten zu suchen, sie zu finden und dann zu bergen.
 

Eine Spurensuche

Am 6. Juni 1944 landen die Alliierten in der Normandie: Amerikanische, britische und kanadische Truppen errichten Brückenköpfe. Der D-Day ist das Signal für die Résistance, die an vielen Orten Frankreichs Einheiten aufgebaut hat, gegen die Besatzer zuzuschlagen. In Zentralfrankreich entschließen sich die Maquisards, den Nachschub von deutschen Truppen an die Front zu verhindern. Sie besetzen Tulle, eine Stadt mit damals 20.000 Einwohnern. Die wenigen Hundert Mann, die der 8. und der 13. Kompanie des Wehrmachtssicherungsregiments 95 angehören, sind schnell besiegt. Die Deutschen melden abschließend 40 Tote, 23 Verwundete und 59 Vermisste. Réveil, der damals der kommunistisch orientierten Gruppe „Francs-tireurs et partisans“ (FTP) angehört, erinnert sich: „Am 7. und 8. Juni griffen die Maquisards Tulle an und machten 55 Gefangene.“ Ein Deutscher, der zu fliehen versucht, wird sofort erschossen. Réveil: „Ein Typ von der Gestapo.“
 

Massive Vergeltungsaktion

Schon am nächsten Tag, dem 9. Juni, erobert die 2. SS-Panzerdivision „Das Reich“ unter SS-Brigadeführer Heinz Lammerding Tulle kampflos zurück. Der Angriff der Partisanen zieht eine massive Vergeltungsaktion durch die SS nach sich, bei der 99 willkürlich herausgegriffene männliche Einwohner öffentlich erhängt werden, an Balkonen und Laternenpfählen. 

Einen Tag später verübt die Waffen-SS ein weiteres Massaker an dem ohne besonderen Grund ausgewählten Ort Oradour-sur-Glane, der rund hundert Kilometer entfernt liegt. Dort werden 643 Dorfbewohner auf grausame Weise getötet: das schlimmste Massaker des Zweiten Weltkriegs in Westeuropa.
 

Laufen lassen kam nicht in Frage

Derweil wissen die etwa 30 Maquisards, die sich mit ihren deutschen Gefangenen ins unwegsame Hinterland des Limousin abgesetzt haben, nicht weiter. Réveil berichtet: „Es war kompliziert. Wir hatten keine Strukturen, um sie zu schützen, wir hatten nichts. Die Deutschen kontrollierten immer noch das gesamte Gebiet.“ Bewachung und Ernährung stellen die überforderten Maquisards vor Probleme. Die Deutschen einfach laufen zu lassen, kommt nicht infrage. Racheakte der Wehrmacht oder der SS an der Zivilbevölkerung wären, so glaubten sie, die Folge gewesen. 

In dem 2300-Einwohner-Dorf Meymac, rund 50 Kilometer von Tulle entfernt, wird die Gefangenengruppe in einen Stall getrieben. Einige Gefangene, wahrscheinlich aus Polen oder Slowenien stammende „Volksdeutsche“, werden freigelassen.
 

Order weitergegeben

Wer den Befehl zum Erschießen gibt, ist bis heute unklar. Réveil spricht von „einer alliierten Kommandozentrale in Saint-Fréjoux“. Briten und Amerikaner hatten Verbindungsoffiziere, die für die Koordination der Partisanen mit den Plänen des alliierten Hauptquartiers sorgen sollten, heimlich ins besetzte Frankreich geschleust. In einem anderen Interview sagt Réveil: „Es war General Marie-Pierre Koenig (Befehlshaber der Forces françaises de l’intérieur während der Befreiung Frankreichs, d. Red.), der Hauptmann Rivière, der die Maquis anführte, den Befehl gab, sie zu erschießen.“ Rivière wiederum gibt die Order an seinen Kameraden mit dem Kampfnamen Hannibal weiter.

Hannibal heißt im zivilen Leben Joseph Fertig und stammt aus dem Elsass. Daher spricht er gut Deutsch, hat als Deutschlehrer in Meymac gearbeitet. Nun muss er die Gefangenen einzeln über ihr Schicksal informieren, bricht dabei in Tränen aus. Réveil weiß: „Er hat geweint wie ein Kind.“ 
 

Sie schaufelten ihre Gräber

Die Maquisards führen die 47 Deutschen und die Französin in ein Waldstück nahe dem Weiler Encaut, etwas oberhalb von Meymac. Réveil: „An diesem Tag war es furchtbar heiß.“ Man habe jeden Gefangenen sein eigenes Grab schaufeln lassen. Jeder Widerstandskämpfer hätte sich zum Erschießen eines Gefangenen melden können, er selbst habe das nicht getan, sagt Réveil, „wir waren zu dritt oder zu viert, die nicht mitgemacht haben. Wir lehnten ab.“ Keiner der Maquisards will die junge Frau töten...

Réveil berichtet, wie die Wehrmachtssoldaten vor der Erschießung Fotos ihrer Familien ansahen: „Es waren keine jungen Soldaten, die Jungen waren in Russland“, weiß der alte Mann und schließt: „Ich erinnere mich, dass es nach Blut roch. Und dann haben wir nie wieder darüber gesprochen.“
 

„Mauer des Schweigens“

Nach dem Krieg legt sich in Meymac eine „Mauer des Schweigens“ über die Tat vom 12. Juni 1944. „Alle wussten es, niemand hat darüber gesprochen“, sagt André Nirelli, ein ehemaliger Landwirt und jetzt Rentner. Im Grundsatz war die Tat aber rund um Meymac bekannt. Der 84-jährige Michel Micaladino erinnert sich daran, dass er als kleiner Junge Kühe gehütet habe: „Und wir haben Schädel gesehen.“ Von einer Omertà spricht auch der Bürgermeister von Meymac, Philippe Brugère: „Niemand wollte, dass die Geschichte hochkocht und das Bild des Widerstands beschmutzt.“ 

Wer aus den Reihen der ehemaligen Résistance-Kämpfer Ende der 1960er-Jahre das Schweigen erstmals öffentlich bricht, ist heute nicht mehr auszumachen. Doch sucht bereits vor über 50 Jahren der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge bei Encaut nach den Überresten der deutschen Soldaten. Elf von ihnen werden geborgen und auf einem deutschen Soldatenfriedhof in Westfrankreich bestattet. Ebenso ist unklar, wer die Suche damals veranlasste.

„Ein heißes Eisen in Frankreich”

Der Präfekt des Départements Corrèze, Étienne Desplanques, spricht heute von einem Bericht des Volksbunds von 1969, nach dem der damalige Bürgermeister von Meymac darum gebeten habe, die Suche nicht fortzusetzen. Unterlagen oder Skizzen, Geländekarten oder gar Fotos sind im Archiv der Gemeinde nicht aufzufinden, bedauert der heutige Bürgermeister, Philippe Brugère, im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“. 

„Die Verbrechen aus dem Partisanenkrieg sind in der Tat ein heißes Eisen in Frankreich, die Résistance und ihre Taten begründen einen Mythos, der die Nation zusammenhält“: Der Potsdamer Militärhistoriker Peter Lieb, der in seinem Standardwerk „Konventioneller Krieg oder NS-Weltanschauungskrieg?“ auch Forschungsergebnisse über „Kriegführung und Partisanenbekämpfung in Frankreich 1943/44“ veröffentlicht hat, ordnet im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“ die Tat ein. „Es gibt bislang keine systematische Aufarbeitung möglicher Verbrechen des französischen Widerstands. Es ist nach wie vor ein schwieriges Thema.“ Er kommt – ohne Meymac – bei seinen Recherchen auf zehn Fälle, in denen Widerstandskämpfer insgesamt 350 deutsche Soldaten erschossen haben. 

Die Frage, ob es sich bei den Erschießungen in Meymac um ein Verbrechen oder ein Kriegsverbrechen handele, hält er für „Haarspalterei“. Klar aber ist für Lieb: „Soldaten haben den Kombattantenstatus, der sie auch als Kriegsgefangene schützt.“ 
 

Erste Hinweise im kleinen Kreis 2019

Erst 2019 entschließt sich Edmond Réveil, über die Vergangenheit zu sprechen. Zunächst im kleinen, vertrauten und verschwiegenen Kreis. Für das Jahr 2020 ist der Schritt an die Öffentlichkeit geplant: „Doch dann kam Corona dazwischen“, erklärt Xavier Kompa, Direktor im Département Corrèze der ONAC VG, des Nationalen Amts für Veteranen und Kriegsopfer. Erst im Mai dieses Jahres gibt Réveil der Lokalzeitung „La Montagne“ ein Interview. Er stellt klar: „Es war ein Kriegsverbrechen“, sagt der 98 Jahre alte Veteran, „wir hatten nicht das Recht, die Gefangenen zu töten.“

Nachdem der 98-Jährige im Mai dieses Jahres sein Schweigen gebrochen und Hinweise auf den Tatort nahe Encaut gegeben hat, bitten die ONAC VG und der Präfekt des Départements, Étienne Desplanques, den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge um Hilfe. „Frankreich ist verpflichtet, die sterblichen Überreste zu überführen“, sagt Kompa der „Schwäbischen Zeitung“. Unmittelbar setzt ein ungeahntes Medieninteresse ein. Über 40 Journalistenteams sind dabei, als Ende Juni Fachleute im Auftrag des Volksbundes in Encaut eine erste Bodenanalysekampagne durchführten. Als Grundlage dienen die Berichte von Edmond Réveil und die Aussagen eines weiteren Zeugen, der als Schulkind Ende der 1960er-Jahre die Exhumierung der elf Toten beobachtet hatte.”

Fläche von fast 3000 Quadratmetern

Es ist schwülheiß, als Arne Schrader, Abteilungsleiter Gräberdienst im Volksbund, den Journalisten jene Fläche zeigt, die Edmond Réveil als Ort der Erschießungen angibt. Schrader, der Tausende Kriegsopfer geborgen hat, ist nicht allein. Ein Team von Georadar NRW untersucht mit zwei Georadargeräten eine Fläche von fast 3000 Quadratmetern. Die Sensoren registrieren Bodenanomalien bis in sechs Meter Tiefe. „Veränderte Bodenschichten deuten auf menschliche Eingriffe hin“, sagt Schrader.

Aber die Geräte sprechen auch auf Metall an: Das könnten Erkennungsmarken oder Stahlhelme der Erschossenen sein. Meter um Meter suchen die Fachleute die staubtrockene Fläche ab, die zuvor von Unterholz und Buschwerk befreit worden ist. Französische Gendarmen sichern das Gelände ab: Die Angst vor Dieben ist groß. Frust macht sich breit, als auf den Monitoren zunächst nichts zu sehen ist. Nach drei Tagen beenden die deutschen Experten ihre Arbeit, danach werden die Aufnahmen in Deutschland ausgewertet. 

Verdachtsstellen lassen auf Gräber hoffen

Vor zwei Wochen meldet der Volksbund: „Die Untersuchungen ergaben auffällige, regelmäßig nebeneinanderliegende Verdachtsstellen. An verschiedenen Stellen in einer der beiden untersuchten Flächen wurden signifikante Veränderungen der Bodendichte in einem rechteckigen Bereich von 45 Meter Länge und zehn Meter Breite registriert.“ Der Verdacht: Sie könnten Grabstrukturen entsprechen.

 „Wir haben nach den Flächenuntersuchungen und Auswertungen der Daten des Georadars vorsichtige Hoffnungen, die sterblichen Überreste der Toten zu finden“, sagt Schrader, „sie „sollen ihre Namen zurückbekommen.“ Die vollständige Exhumierung und eine würdige Beisetzung auf einem deutschen Soldatenfriedhof könnten folgen. Doch um zu überprüfen, ob dort tatsächlich die Gebeine liegen, müssen Ausgrabungen durchgeführt werden. Diese Grabungen sollen in der zweiten Augusthälfte von Archäologen und Spezialisten im Auftrag der ONAC VG mit fachlicher Unterstützung des Volksbundes durchgeführt werden.

„Die Mehrheit der Bürger findet es gut“

In Meymac werden die Arbeiten aufmerksam verfolgt, wie Bürgermeister Brugère sagt: „Die Mehrheit der Bürger findet es gut, dass die Wahrheit ans Licht kommt, dass die Zeit der Omertà vorbei ist, man muss doch wissen, was passiert ist.“ Daher werde es Seminare und Vorträge geben, um die Vergangenheit aufzuarbeiten. In Meymac herrsche Verständnis für die Nachkommen der deutschen Soldaten, die auf diese Weise Gewissheit bekämen. Freilich gebe es auch Bürger wie den früheren Landwirt Nirelli, der immer noch sagt, Réveil hätte besser daran getan zu schweigen: „Die sind in der Minderheit,“ ist sich Brugère sicher.

Edmond Réveil wird mittlerweile von seiner Familie abgeschirmt, zu groß ist das Medieninteresse. Sollten die Gebeine gefunden werden, dürfte er erleichtert sein. Nur einen Wunsch hat er: Für die erschossenen Wehrmachtssoldaten soll im Wald von Encaut ein Gedenkstein errichtet werden. Es wäre in Frankreich wohl das erste Mahnmal für deutsche Kriegsopfer.

Text: Ludger Möllers

Der Artikel ist unter dem Titel „Der letzte Augenzeuge bricht sein Schweigen” am 31. Juli 2023 in der „Schwäbischen Zeitung” erschienen. Die Katholische Nachrichten-Agentur KNA hat ihn anschließend ebenfalls verbreitet.

Update: Acht Tage dauerte die intensive Suche im Wald bei Meymac. Sie ging am 24. August 2023 zu Ende. Mehr dazu lesen Sie hier:
Suche nach erschossenen Soldaten beendet: keine Funde in Meymac
 

Das „Eine-Million-Projekt”

Mit diesem Fund kommt der Volksbund seinem Ziel näher, bis zum Herbst eine Million Tote des Ersten und Zweiten Weltkrieges geborgen zu haben – seit dem Fall des Eisernen Vorhangs und vor allem in Osteuropa. Mehr zum „Eine-Million-Projekt”