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Orte „erspüren“, Geschichte erleben

PEACE LINE – Blaue Route: Impressionen von der Mauer-Gedenkstätte Bernauer Straße

Was ist eigentlich wichtiger: Fakten oder persönliche Geschichten? Eine von vielen Fragen, die typisch sein dürften – typisch für das, was aktuell auf der Blauen Route des Volksbund-Projekts PEACE LINE passiert. Schauplatz ist die Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße.

Es ist eine der ersten Stationen, die 24 junge Leute gerade auf ihrem Weg durch Europa besuchen. Sie kommen aus elf Ländern von Spanien bis Ungarn, von Polen bis Griechenland, und sie teilen dieselben Erwartungen: unterschiedliche Perspektiven und Narrative kennenlernen, ihr Wissen erweitern, Geschichte „erleben“ auf neue Weise. Und das geht am besten an Original-Schauplätzen und im Austausch über nationale Grenzen hinweg. Stationen sind Berlin, Riga, Kaunas, Danzig und Usedom.


Der Sprung aus dem Fenster

Hier, in der Bernauer Straße, hören sie O-Töne zum Mauerbau, Zeitzeugen, die vom Sprung aus dem Fenster in die Freiheit Westberlins 1961 erzählen. Sie sehen großformatige Fotos an Hauswänden, die zeigen, wie jemand an zusammengeknüpften Bettlaken heruntergelassen wird. Es sind die persönlichen Geschichten, die am meisten beeindrucken.

Am Morgen war die Gruppe in der Gedenkstätte Hohenschönhausen, haben sie im früheren Stasi-Gefängnis mit ehemaligen Häftlingen gesprochen. Keine leichte Kost auch das. Die einen interessierten eher die Fakten, die anderen die traumatischen Spuren des Furchtbaren – auch hier schon zeigten sich Unterschiede, die vielleicht später Gesprächsstoff sind. 
 

Emotionale Seite der Erinnerungen

Anke (24) aus den Niederlanden ist dankbar für die Chance, an historischen Orten auch emotional mit Erinnerungen konfrontiert zu sein. Hier fragt sie sich, was aus denen geworden ist, die die Mauer aus Überzeugung bewachten. Wie kamen sie nach 1989 damit zurecht, nicht auf der „richtigen“ Seite gestanden zu haben?

Am meisten verspricht sich die Geschichtsstudentin von Danzig – speziell vom Museum des Zweiten Weltkrieges, das auch in Polen umstritten ist. Solche Debatten seien wichtig für das politische Klima in Europa. Gerade für Westeuropäer sei es gut, auch verschiedene osteuropäische Perspektiven kennenzulernen. PEACE LINE trägt dazu bei, ein europäisches Bewusstsein zu schaffen, hofft sie.
 

„An welchem Punkt stehen wir?“

Pauline (19) aus Deutschland ist zum zweiten Mal in der Bernauer Straße. Sie hat 2020 schon am PEACE LINE-Mosaik teilgenommen, am „Mini-Format“ im ersten Pandemie-Jahr. Sobald es möglich war in diesem Frühjahr, hat sie sich für die Blaue Route beworben.

Sie schaut auf die Entwicklung in Europa in der Nachkriegszeit: Was erinnern wir und wie gehen wir heute damit um – „an welchem Punkt stehen wir?“. Und sie schätzt es, Zeit zu haben für die Auseinandersetzung – so viel Zeit wie nötig. Für Pauline ist schon der Name PEACE LINE besonders: „Es sind wirklich Linien durch Europa, die alles miteinander verbinden, auch uns Teilnehmende.“
 

Die Mauer begreifen

„Ich wusste nicht, dass es so viele Fluchtwege gab“, sagt Laureanne (19) aus Frankreich. Sie ist beeindruckt von den meterhohen Metallstäben, die heute den Verlauf der Mauer anzeigen und sie begreifbar machen. Am 13. August 2021 jährt sich der Mauerbau zum 60. Mal (Rede des Bundespräsidenten zum Jahrestag). Die Studentin der Elektrotechnik möchte wissen, was früher passiert ist.

„Es wirkt sich bis heute aus und das ist kein Wunder. Wir dürfen das nicht vergessen. Es ist wichtig darüber zu sprechen, gerade für uns. Wir sind die junge Generation, die etwas tun kann.“ Für Laureanne ist Riga die interessanteste Station, wo es um den Holocaust gehen wird. „Bisher wusste ich nicht, was da passiert ist. Das ist der Ort, wo ich am meisten lernen kann.“

„Kultur ist, was Ihr macht“

Auch das Auswärtige Amt, das die PEACE LINE-Routen unterstützt und finanziert, war beim Auftakt des neuen Volksbund-Formats dabei: Am Abend traf die Gruppe Dr. Andreas Görgen, den Leiter der Abteilung für Kultur und Kommunikation. „Ohne Sie wäre das Projekt nicht Wirklichkeit geworden“, begrüßte ihn Dr. Heike Dörrenbächer, die beim Volksbund die Abteilung Gedenkkultur und Bildung leitet. Sie stellte ihn als jemanden vor, der der sich in seinem gesamten Berufsleben in führenden Positionen mit „Europa, Kultur und Politik“ auseinandergesetzt hat.

Gefragt nach der Aufgabe der Auswärtigen Kulturpolitik, gab er den PEACE LINErn eine wichtige Botschaft mit auf den Weg: Nicht Regierungen definierten, was Kultur ist, „Kultur ist, was Ihr macht.“ Und dazu gehöre immer auch der Spaß am Widerspruch. Ihn erlauben, kulturelle Diversität ermöglichen und frei denken sei essentiell in einer Demokratie.

Kulturpolitik sei nicht an die klassische deutsche Kultur gebunden, sondern müsse an Gesellschaftspolitik anknüpfen. Statt Definitionen zu liefern, sei es wichtig, zivile gesellschaftliche Organisationen ebenso wie einzelne Menschen in die Lage zu versetzen, Dinge zu verändern.
 

Die Wahrheit in sich selbst finden

Im anschließenden Gespräch ging es auch um das kollektive Gedächtnis. Andreas Görgen zeichnete den Ansatz von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nach, der das Format PEACE LINE prägt: langsame Schritte gehen, individuelle Erfahrungen sammeln, indem man das eigene Selbst und die Umgebung wahrnimmt. Dazu gehöre es, Orte zu „erspüren“ und sich auch mit Gefühlen auseinanderzusetzen, um die Wahrheit in sich selbst zu finden. Nicht erklären, sondern erleben sei der Schlüssel – etwas, das PEACE LINE auf beiden Routen möglich macht.

Video: Simone Schmid

Internationales Team macht´s möglich

Nachhaltig wirkt auch die Gemeinschaft, die die Möglichkeit bietet, Erlebtes mit andern zu teilen. Und: „Wo habe ich sonst die Chance, Leute aus so vielen Nationen kennenzulernen?“, fragt Laureanne. Möglich machen das die Organisatoren, vor allem aber auch das Teamer-Quartett: Grischa Marcarth und Mandy Trepte aus Deutschland, Violeta Avram aus Rumänien und Anne Favre aus Frankreich.

PEACE LINE 2021 steht für zwei Routen und fünf Gruppen. Für 175 Plätze gab es rund 350 Bewerbungen. Die Grüne Route führt von Berlin bis ins Elsass und wird betreut vom Bildungsreferenten Stefan Finkele. Auf ihr sind 18- bis 26-Jährige ab dem 14. August und dem 3. September 2021 für je zwei Wochen unterwegs.

Auf der Blauen Route starten die nächsten am 6. September und am 19. Oktober 2021. Hier ist Vinzenz Kratzer der verantwortliche Bildungsreferent. Projektkoordinatorin für das Gesamtprojekt PEACE LINE ist Viola Benz. Näher vorgestellt sind die beiden Routen und die Entstehungsgeschichte des neuen Volksbund-Formats hier.