Spurensuche auf der Krim
Workcamp und Gedenkveranstaltung in Gontscharnoje
„Sehr geehrter Herr Bittner, vielen Dank, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, dem Volksbund Informationen und Dokumente Ihres Vaters zu schicken. Mein Name ist Julia Schulz, ich bin 19 Jahre alt und Teilnehmerin des thüringischen Workcamps Laspi auf der Krim – und ich beschäftige mich mit der Biografie Ihres Vaters.“ So lautet der Beginn eines der zahlreichen Briefe, welche die jungen Erwachsenen des Workcamps Laspi an die Angehörigen von Kriegstoten der nahe gelegenen deutschen Kriegsgräberstätte Gontscharnoje schreiben. Es ist ein pädagogisches Projekt, das Geschichte und Folgen des Zweiten Weltkrieges anhand von konkreten Einzelbiografien verdeutlichen soll. Eines dieser Schicksale wird von den Jugendlichen während der Gedenkfeier zum zehnjährigen Bestehen der Kriegsgräberstätte am 27. August 2011 eindrucksvoll vorgetragen.
Es werden ständig mehr
Für die Reisegruppe des Volksbund-Landesverbandes Thüringen unter Leitung von Dr. Dirk Reitz, die ebenfalls zu den Gedenkfeiern auf dem sowjetischen Soldatenfriedhof Dergatschi/Sewastopol und nach Gontscharnoje kommen, ist dies der Anlass, die 26 Workcamp-Teilnehmer aus 5 Ländern in ihren Zeltlager bei Laspi zu besuchen. So wird das Camp zum Ort der Begegnung – nicht nur zwischen den verschiedenen Nationen, sondern auch der unterschiedlichen Generationen. Es gibt eine Menge Gesprächsstoff und viele Fragen. Zumeist geht es um das persönliche Schicksal eines der inzwischen über 23 000 Kriegstoten, die hier beerdigt sind. „Und es werden ständig mehr. Mit der Zeit sollen alle auf der Krim gefallenen Soldaten nach Gontscharnoje umgebettet werden“, sagt die 19-jährige Sofia Dreisbach aus Frankfurt am Main. Tatsächlich haben Ulrich Schrader und sein Mitarbeiter Uwe Möller vom Umbettungsdienst des Volksbundes ihre Anstrengungen bei der Suche und der Bergung weiterer deutscher Kriegstoter auf der Krim gerade in jüngster Zeit weiter verstärkt. „Dies ist ganz wichtig, da wir altersbedingt immer seltener auf die so wichtigen Zeitzeugen zurückgreifen können“, sagt Wolfgang Strojek, der Leiter der Volksbund-Geschäftsstelle Osteuropa in Moskau.
Freundschaft wächst wieder
Darüber hinaus erfüllt der Sammelfriedhof auch eine wichtige Funktion der internationalen Gedenkkultur. In der Rede des Parlamentarischen Staatssekretärs und Bundestagsmitglieds Christian Schmidt (Foto oben, mit Workcamp-Teilnehmern) wird dies deutlich: „Wir erinnern uns aller Opfer von Krieg und Gewalt, um die Vergangenheit nicht zu vergessen; aber wir erinnern uns auch, um Folgerungen für die Zukunft zu ziehen. (...) Diese Kriegsgräberstätte ist nicht nur eine Gedenkstätte für diejenigen, die hier bestattet wurden. Sie ist vielmehr ein Mahnmal für den Frieden und ein Symbol für eine Wiederannäherung und Freundschaft zwischen Völkern, die nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges und der Überwindung des Kalten Krieges wieder zu wachsen beginnt.“
Am Grab des Kameraden
Davon zeugt nicht nur die erstmalige Teilnahme einer Ehrenformation der ukrainischen Schwarzmeerflotte, eines ukrainischen Militärorchesters und des stellvertretenden Stabschefs, Kapitän ersten Ranges Andrej Rishenko. Denn auch die ehemaligen Kriegsteilnehmer beider Seiten nutzen die Gelegenheit zum persönlichen Austausch, zur Versöhnung auf dem etwa fünf Hektar großen Gelände, das von dem scheidenden Baureferenten Alexander Moor im vergangenen Jahrzehnt hervorragend betreut wurde. So findet sich auch die exakte Stelle eines gefallenen Kameraden des inzwischen 90-jährigen Hinrich Ehrichs mit einem weißen Rahmen auffällig markiert. Hier versammeln sich Ehrichs, seine Tochter und sein Enkel. Später stoßen auch noch Jugendliche aus dem thüringischen Workcamp dazu.
Betrifft mich persönlich
Auch während der Gedenkfeier, an der neben Volksbundpräsident Reinhard Führer auch der neue Präsident des Österreichischen Schwarzen Kreuzes, Peter Rieser, teilnimmt, trägt die schon eingangs erwähnte Workcamp-Teilnehmerin Sofia Dreisbach Einzelheiten aus dem Leben und dem Kriegstod von Georg Morr vor. „Sein Schicksal hat viele Menschen berührt, mich natürlich ganz besonders“, schreibt sie später in ihrem persönlichen Brief an die Hinterbliebenen. Und die erst 17-jährige Franziska Naumann aus Bad Oeynhausen legt in ihren Zeilen ein treffendes Fazit dieser Gedenkveranstaltung nieder: „Wir können uns heutzutage zum Glück nur teilweise vorstellen, was ein Krieg bedeutet. Aber die Arbeit auf dem Friedhof hat mich berührt, so dass der Zweite Weltkrieg nicht mehr nur ein Thema des Geschichtsunterrichts ist. Er wurde vielmehr zu einem Teil der Vergangenheit, der mich persönlich betrifft.“
Maurice Bonkat