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Unser Gedenken schließt alle ein

Estland: 10 Jahre Kriegsgräberstätte Jöhvi

Wer kennt eigentlich Jöhvi, eine estnische Kleinstadt, vielleicht 12 000 Einwohner, in einem kleinen Land, sogar noch kleiner als Niedersachsen? Doch hierher kommen Ende Juli 2011 viele Menschen, für die es ein besonderer Ort ist. Ein Ort, den sie immer schon sehen wollten – oder einfach sehen mussten. Hier liegen ihre Lieben, gestorben im Zweiten Weltkrieg.

Heute wird ihrer in einer Veranstaltung des Volksbundes gedacht. Es ist der zehnte Jahrestag der Einweihung der deutschen Kriegsgräberstätte Jöhvi, an dem auch der deutsche Botschafter Dr. Martin Hanz sowie Verteidigungsattaché Axel Pfaffenroth teilnehmen. Zehn Jahre – für eine Kriegsgräberstätte des Zweiten Weltkrieges scheint dies ein wenig beeindruckender Zeitraum. Doch auch hier begann der Volksbund seine Arbeit trotz der von Beginn an umfassenden Unterstützung durch die Esten erst nach dem Mauerfall, suchte die Gräber, barg die Toten, identifizierte sie und verzeichnete schließlich ihre Namen – auch die der Vermissten.

Trauer bleibt

In all dieser Zeit hat sich viel verändert. Doch die Hoffnung der Angehörigen und ihr Wunsch, einmal am Grab des verstorbenen Angehörigen zu stehen, blieben erhalten. So sieht es auch das ehemalige Volksbund-Vorstandsmitglied Dr. Rainer Lemor, der das Gebiet über die Jahre beruflich und vor allem ehrenamtlich im Dienste der Kriegsgräberfürsorge gut kennenlernte. Heute hält er, wie auch schon bei der Einweihung vor inzwischen einem Jahrzehnt, die viel beachtete Gedenkrede: „Was aber die Trauer der Hinterbliebenen anbelangt, ist sie unverändert geblieben. Die Gefallenen und aus Gefangenschaft nicht zurückgekehrten Soldaten fehlen weiterhin ihren Witwen, Kindern, nun auch Enkelkindern, ihren Verwandten und Freunden. (...) Unser Gedenken schließt sie alle ein, die ihren weiteren Lebensweg allein gehen mussten. In Deutschland, oft zudem noch heimatvertrieben, haben sie Großartiges in der Nachkriegszeit geleistet.“

Dank für ihr Tun spricht Lemor aber auch den Jugendlichen und Bundeswehrangehörigen unserer Tage aus, die viel für diesen eher unbekannten Ort unweit der Küste des Finnischen Meerbusens geleistet haben. So gibt es allein in diesem Jahr zwei Jugendlager der Volksbund-Landesverbände Sachsen und Schleswig-Holstein in Estland. Und kurz vor der Gedenkveranstaltung haben Soldaten des Flugabwehrlehrregimentes 6 auch auf der nahe gelegenen Kriegsgräberstätte in Narwa gearbeitet – wie viele ihrer Kameraden aus Lütjenburg dies seit Jahren tun. So organisierten weitere Bundeswehr-Soldaten auch in Vilnius-Vingio-Park eine ähnliche Gedenkveranstaltung.

Hörbare Botschaft

 Gerade für die Angehörigen ist dies wichtig. Denn was nützt eine gut gepflegte Stätte der Erinnerung, der Mahnung und der Trauer, wenn sie niemand besucht, wenn von ihr keine hörbare Botschaft ausgeht? Heute stehen die auf dieser Kriegsgräberstätte Bestatteten zweifellos im Mittelpunkt. Das sieht man, wenn man die Menschen betrachtet, welche die Volksbund-Mitarbeiter Eberhard Bahr und Thomas Schock umlagern. Es gibt viele Fragen, manche Antworten.

 

Irgendwann steht jeder Angehörige vor dem Grab seiner Lieben oder liest deren vertraute Namen auf den Granitstelen für die Vermissten. Auch der Traditionsverband PzBrig 106 FHH ist mit einem Kranz vertreten. Weit über 3 500 Tote wurden hier vom Volksbund bestattet, die Namen von mehr als 4 500 Vermissten verzeichnet. Und heute erkennt man wieder ganz deutlich, dass hinter diesen Namen und ihren häufig viel zu kurzen Lebensdaten zahlreiche Schicksale stehen. Das Leiden der Soldaten greift über ihren Tod hinaus. Noch Jahrzehnte nach ihrem plötzlichen Verlust verletzt es zumeist die Frauen und Kinder. So ist es häufig mit Kriegen, auch den aktuellen: Jene, die am meisten unter ihnen leiden, sind meist auch diejenigen, die am wenigsten dafür können.

In diesem Sinne formulieren auch Staatssekretär Anton Pärn vom estnischen Kulturministerium und Jöhvis Bürgermeister Tauno Vöhmar ihre Grußworte. Ihnen geht es vor allem um die heute konkret und anschaulich gelebte Freundschaft zwischen Deutschen und Esten.

Tränen der Angehörigen

Die Angehörigen hören diese Worte gerne. Sie geben ihnen das sichere Gefühl, dass ihre Toten hier eine würdige, eine ge- und beachtete Ruhestätte haben. Für diejenigen, die ihre Verwandten so früh verloren haben, kann die nötige Trauerarbeit häufig erst spät beginnen. Denn dafür brauchen viele Menschen eben einen konkreten Ort, das Grab. Und nun sind sie hier. Inzwischen schon fast doppelt oder dreimal so alt wie diejenigen, um die sie schmerzlich trauern, bricht sich alles Bahn, all das Unverstandene, das Vermisste, das Schmerzliche. Zugleich ringt man nach Kräften um Fassung, eine gewisse Haltung. Gräber nehmen nicht nur Gebeine eines einstmals geliebten Menschen, sondern auch die Tränen ihrer Hinterbliebenen auf. Beides ist wichtig.

Der Friedhof Jöhvi, noch während des Krieges von Soldaten der Panzergrenadierdivison FHH angelegt, wurde inzwischen erweitert. Auf vier neu geschaffenen Gräberblöcken sind nun die im Gebiet um Jövhi geborgenen deutschen und estnischen Gefallenen beigesetzt. So legt auch ein Vertreter dieser Division einen Kranz nieder. Estnische Kriegsteilnehmer sind ebenfalls unter den Gästen und erwiesen Ihren damaligen Kameraden einen stillen Dienst.

Nun endlich steht auch das deutschstämmige Ehepaar Pittner aus Siebenbürgen in Rumänien an den Gräbern von Jöhvi. Ihr Besuch gilt dem 1944 in Konju verstorbenen Bruder Rudi Herbert Pittner. Sein Grab trägt die Nummer 1375, findet sich im Block 1, Reihe 27. Anhand der Grenzsteine der Blöcke lässt sich die Stelle mit dem Maßband ganz genau bestimmen. So legen die beiden Blumen an den Namenstelen und am Grab nieder. Dann halten sie minutenlang inne. Endlich sind sie in Jöhvi, der Kriegsgräberstätte, der Gedenkstätte, dem für sie so überaus wichtigen Ort.

Maurice Bonkat