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Unter einem guten Stern

Kriegsgräberreise nach Kaliningrad

Der vermisste Vater war uns unser Leben lang täglich innerlich sehr nah und doch in jedem Sinn unerreichbar. Unsere Mutter starb nur wenige Tage, nachdem sie ihre subjektive Hoffnung auf Heimkehr aus seiner vermuteten Gefangenschaft aufgegeben hatte. Da war der Krieg 30 Jahre vorbei. Letztes Jahr erfuhren meine Schwester und ich, dass der Volksbund den Namen unseres Vaters im Gedenkbuch des Soldatenfriedhofs Kaliningrad aufführt. Die nächste Reise zu den Gedenkstätten von Kaliningrad, Mamonowo und Baltisk bot Veto-Reisen Ende Juni 2012 an. Sie wurde von Bruno Schwarz nicht nur hervorragend vorbereitet, sondern war durch viele so konkret gar nicht planbare glückliche Umstände voller guter Impulse, Begegnungen und Erlebnisse.

Die 17 Teilnehmer kamen aus Frankreich, Österreich und ganz Deutschland. Man erkannte sich am grauen Haar und dann namentlich, sobald Bruno Schwarz auch die Letzten in Riga vorm Einchecken nach Königsberg mit Schildchen bestückt hatte. Diese Gruppe war selbst schon ein Geschenk. Auf der nur kurzen Reise zeigte sich  eine erfreuliche Bereitschaft, sich in dem zentralen Punkt der Erinnerung an einen geliebten und entbehrten Angehörigen einander auch mitzuteilen. Dabei gab es  erstaunliche Gemeinsamkeiten, etwa das Aufschieben dieser Reise oder die Jahre- oder Jahrzehnte lange Scheu, die Feldpostbriefe des Vaters an seine Frau zu lesen. Und die, die nie oder sehr spät eine Todesnachricht erhalten hatten, waren unterwegs, weil ihre Trauer noch nicht vollzogen war.

Auf jedem der drei Friedhöfe, die wir besuchten, waren Angehörige bestattet oder wurden im Gedenkbuch geführt. Die Form unserer Feiern hatte Bruno Schwarz in Abstimmung mit der Gruppe in einer dezenten und überkonfessionellen Art auch  religiös gestaltet. Wir hatten Zeit, durch den lichten Wald zu gehen, in dem Gruppen von je drei Steinkreuzen Grabfelder markieren. Das war in Kaliningrad so, und in Mamonowo war die Atmosphäre ähnlich wohltuend. Einige hatten Informationen darüber, in welchem Teil der Angehörige lag. Namen gab es aber nur auf zentral gruppierten Steintafeln und in den Gedenkbüchern. Einige legten Blumen oder ein Grablicht unter den Tafeln ab oder trugen sich als Angehörige in das Gästebuch ein. Auf dem Königsberger Friedhof, der auch schon nach dem Ersten Weltkrieg Soldatenfriedhof war, begegneten uns zwei russische Schüler, die uns auf Anregung von Bruno Schwarz ihr Interesse erläuterten und in Englisch beeindruckend ein spontanes Versöhnungsbekenntnis ausdrückten. Man möchte wünschen, dass alle Friedensbeschwörungen an Gräberfeldern sich erfüllen. Kann das möglich sein ohne  die Einsicht, dass militärische Einsätze Konflikte fast nie lösen können?

Während einer kurzen Ansprache nannte unser Reiseleiter die Namen der in Königsberg aufgeführten Angehörigen. Uns berührte, dass unsere russische Reisbegleiterin das Vaterunser in ihrer Sprache wiederholte. Die Tatsache, dass Elena Makarycheva unsere Gruppe begleitete, war ein weiteres Geschenk. Mit ihrer menschlichen und sprachlichen Kompetenz, mit Engagement und viel Improvisationsbereitschaft hat diese junge Frau unsere Herzen gewonnen. Dadurch gab es auch gar keinen Bruch zwischen der sehr persönlichen, fast spirituellen Ausrichtung der Reise und  der Selbstverständlichkeit, mit der Wissens- und Sehenswertes erläutert wurde, wann immer es sinnvoll war. Zudem führte uns Elena zu einer „Redout“, wo wir in praktischer Kürze ein gutes und preiswertes Essen einnahmen.

Am ersten Spätnachmittag machten wir sogar noch eine Bootsfahrt auf dem Pregel und bis zum Hafen. Die Stadt Königsberg hat viele von uns durch ihre Lebendigkeit und den starken Verkehr überrascht. Mit Sicherheit hat das Stadtbild sich „erholt“, weil der historische Rahmen auch durch die Restaurierung der Stadttore aus roten Backsteinen erkennbar bleibt.

Der Termin der Reise lag auf dem zehnten Jahrestag der Einrichtung des Friedhofs in Heiligenbeil, das heute nach einem russischen Soldaten, der sich im Kampf um das Gebiet einen Namen gemacht hat, Marmonowo heißt. Der Jahrestag wurde auch von einer Reihe offizieller Gäste begangen, darunter der Kaliningrader deutsche Konsul mit seiner Ehefrau. Wir waren beeindruckt von der Selbstverständlichkeit, mit  welcher der Bürgermeister von Marmonowo für sich und seinen Ort versprach, diesen Friedhof als Teil seiner Stadt in Ehren zu halten. Der Leiter des örtlichen Krankenhauses  erinnerte daran, dass sein Sohn vor zehn Jahren die deutschen Kriegstoten mit umgebettet habe. Sehr eindrucksvoll war wieder die Erinnerung, dass in beinahe jeder russischen Familie Kriegstote zu betrauern waren und man im Gedenken in Russland heute nicht mehr nach Freund und Feind unterscheide. Ein Vertreter der russischen Kriegsgräberorganisation stimmte dem zu und erzählte, wie gepflegt und respektiert er russische Kriegsgräber in Deutschland vorgefunden habe. Anschließend verlas meine Schwester den letzten Feldpostbrief unseres Vaters, den einzigen, den er nur mit Bleistift und in großer Unruhe geschrieben hatte. Alle Texte und Ansprachen wurden auch übersetzt. Reiseleiter Schwarz versicherte den russischen Teilnehmern den Respekt für ihre Kriegsgräber in Deutschland. Dann sprach er über Dietrich Bonhoeffer als  christlichen Märtyrer des Widerstandes in Nazi-Deutschland. Und wir sangen dessen Lied: „Von guten Mächten...“. Russen und Deutsche legten Kränze nieder.

Der Besuch im örtlichen Museum zeigte uns das rührende Bemühen, aus dem Chaos von Zerstörung und Traditionsbrüchen wieder Möglichkeiten des Erinnerns zu schaffen. Nach einem späten Mittagessen in einem einfachen dörflichen Lokal erklärten sich Elena und unser Fahrer bereit, mit uns nach Rosenberg ans Haff zu fahren. Im heutigen Krasnoflotskoje konnte ein Ehepaar an der Stelle des Vaters gedenken, an der er im Krieg umgekommen war. Uns alle hat das sehr bewegt. Zugleich mussten wir, neben der schönen Landschaft und dem dörflichen Badevergnügen auch den desolaten Zustand der Infrastruktur und des Hafens  wahrnehmen. Im Aufbruch zur Heimfahrt zog ein Unwetter auf, und Elena überraschte uns mit Rilkes Herbstgedicht, weil sie an die Zeile gedacht hatte: „ und auf den Fluren lass die Winde los“.

Ich konnte am Sonntag an der Fahrt nach Pillau, heute Baltisk, nicht teilnehmen. Es muss aber wieder ein guter Tag gewesen sein. Das Gedenken galt dort speziell dem Angehörigen einer Elsässer Familie. Dieser kam als französischer Soldat in deutsche Gefangenschaft. Er wurde aber zwei Jahre nach seiner Entlassung durch eine Initiative des Straßburger Gauleiters wie andere Elsässer unter Androhung der Erschießung zwangsrekrutiert. Er erlitt als  deutscher Soldat in Heiligenbeil zwei schwere Verwundungen. Von Rosenberg aus wurde er mit dem Schiff nach Pillau gebracht. Im dortigen Lazarett starb er wenige Tage nach seinem 26. Geburtstag. 

Die Reisegruppe konnte nach einem Start bei strömendem Regen auch diesen Tag bei Sonnenschein erleben und hatte gegen Abend noch Gelegenheit zu einem Spaziergang an der Strandpromenade von Rauschen, dem heutigen Swetlogorsk.

Das Programm der Reise war damit  beendet, aber der Abschied am frühen Montag war noch einmal bewegend. Auf unseren herzlichen und auch materiell anerkennenden Dank für Fahrer und Reisebegleitung antwortete Elena während der Fahrt durch den Regen zum Flughafen: In Russland weine die Stadt, wenn sie jemanden lieber noch dabehielte. Elena sagte, sie habe eine große Nähe zu uns erlebt und dabei wichtige Erfahrungen gemacht: „nicht berufliche, sondern Lebenserfahrung“! Sie habe die Verzahnung unserer Schicksale und der Generationen wahrgenommen und bat uns um Sympathie für ihr Land. Elena war sichtlich gerührt wie sicher auch viele von uns. Sie ermutigte uns, nicht traurig zu werden. Und was schlug sie deshalb vor? - Wir haben tatsächlich mit ihr gesungen: „Wenn alle Brünnlein fließen.“ Alle Strophen! Ich denke mit Dankbarkeit an sie und an diese Reise.

Gerhard Stünkel