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Vereint in der Vielfalt

20 Jahre Jugendarbeit in Niederbronn

NIEDERBRONN-LES-BAINS/FRANKREICH. Niederbronn ist anders. Albert Schweitzer war es auch. Nicht nur im Namen der Jugendbegegnungsstätte (JBS) des Volksbundes sind der kleine Ort im Elsass und der berühmte Nobelpreisträger vereint: Centre International Albert Schweitzer. So unterscheidet sich auch die Gedenkfeier anlässlich des Jubiläums der Jugendarbeit in Niederbronn sowie des Kriegsendes vor 70 Jahren deutlich von den gewohnten Formen der französischen Gedenkkultur. Die 20 Jahre junge JBS macht es anders. Ihre Gäste feiern den Frieden – und ihre Begegnungsstätte – mit einer bemerkenswerten Performance-Woche. Ein Werkstattbericht.

Kunst und Krieg

Achtung Kunst! Wer schon vor der offiziellen Werkschau der etwa 50 Jugendlichen aus Deutschland und Frankreich das Gelände der Jugendbegegnungsstätte Albert Schweitzer betritt, muss innehalten. Das liegt nicht etwa an dem Blick auf die benachbarte Kriegsgräberstätte oder auf die vis-à-vis gelegene Kriegsschicksal-Ausstellung Destins de Guerre. Nein. Man hält inne, weil die gesamte Begegnungsstätte anlässlich ihres Jubiläums kurzerhand von Künstlerhand zum Probe-, zum Aktionsraum umfunktioniert wurde:

Während die Tanzgruppe draußen ihren Gedanken zum geistigen Erbe Schweitzers mit aufwändigen Choreografien und speziellen Hebefiguren einen Raum greifenden tänzerischen Ausdruck verleiht, erbebt das Innere des nach zwei Jahrzehnten Jugendarbeit allmählich aus den Nähten platzenden Gebäudes. Hier probt die Musik-Gruppe. Sie nutzen klassische Instrumente wie Rasseln, Clapsticks und Bongos, aber auch selbst gemachte, aus alten Kanistern gefertigte Klangkörper. Selbst gemacht sind auch die Materialien des Landart-Workshops. Hier geht es darum, mit natürlichen und persönlich ausgewählten Materialien eine Mischung aus künstlerischer Landschaftsgestaltung und einem Mandala ähnlichem Erdmuster zu erschaffen. Andere Kurse werden klassisch mit Pinsel und Farben kreativ oder gestalten Keramiken, inspiriert etwa durch die Schweitzer-Lehre der Ehrfurcht vor dem Leben. Abgerundet wird das abwechslungsreiche Kunst-Programm durch einen gemeinsamen deutsch-französischen Chor.

Offen für Experimente

Kunst und ihre Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Krieges haben eine lange Tradition. Schon immer versuchten die Menschen, ihre schrecklichen Kriegserfahrungen auch künstlerisch zu verarbeiten. Diesem Prinzip folgt auch Bernard Klein, der langjährige Leiter der Internationalen Begegnungsstätte, allerdings auf besondere Weise. Sein Konzept und das der JBS zielen auf ein postheroisches Gedenken: „Uns geht es nicht darum, so genannte Helden zu ehren, wie es leider auch in der französischen Gedenkkultur weithin üblich ist. Wir suchen einen neuen, einen modernen Weg der Auseinandersetzung mit den Themen Krieg und Frieden. Kunst kann dabei eine wichtige Rolle spielen. Wir sind offen für Experimente, für Neues. Auf der anderen Seite pflegen wir aber auch traditionelle Formen des Erinnerns, zum Beispiel Geschichte durch Geschichten zu erzählen ohne zu dozieren. Experimentierfreudig sind wir aber vor allem in der Begegnung mit den Menschen. So gesehen wird die JBS – trotz ihrer zwanzig Jahre – auch nie erwachsen werden!“

Krieg kennen die beiden Schülergruppen aus Groß-Gerau bei Frankfurt sowie die französische Klasse aus Paimpol/Bretagne, welche die Hauptakteure der Niederbronner Kunstaktion sind, allerdings nicht aus eigener Erfahrung. Das ist auch gar nicht nötig. Der Krieg kommt zu ihnen, über das Handy, das Fernsehen, womöglich sogar in Person von Flüchtlingen, die ausgelöst durch immer näher rückende und zahlreicher werdende Krisenherde zu uns kommen – oder beim Versuch ums Leben kommen. Das alles lässt die deutschen und französischen Jugendlichen in diesen Tagen nicht unberührt.

Schweitzer und die Frauen

Was Sie bewegt, drücken sie künstlerisch aus. Andere arbeiten eher wissenschaftlich am Thema Albert Schweitzer – so wie die interaktive Konferenz des Partnervereins PAMINAFRAUEN zum Thema: „Was Sie schon immer über Albert Schweitzer seine Frauen wissen wollten.“ Dabei werden in Anlehnung an einen bekannten Woody-Allen-Klassiker verschiedene Aspekte seiner Beziehungen zu Frauen beleuchtet, vor allem ihr jeweiliger Einfluss auf sein Lebenswerk. Anders als es der eher süffisante Titel vermuten lässt, geht es dabei ernsthaft um Frauenpersönlichkeiten wie seine Tante Mathilde, die ihm die Liebe zur Musik näher brachte, seine spätere Frau und maßgebliche Wegbereiterin Hélène Breslau sowie zahlreiche Mitarbeiterinnen, Journalistinnen und viele mehr, die ein integraler Bestandteil des Lebens und Wirkens von Albert Schweitzer waren, die ihn zeitlebens motivierten, unterstützten und inspirierten. Dazu haben die vom Partnerverein PAMINAFRAUEN eingeladenen Referenten Einiges zu sagen.

Die Mitglieder dieser deutsch-französischen Gruppe zählen regelmäßig zu den etwa 4 000 Gästen, die die JBS jährlich besuchen. Seit der offiziellen Eröffnung im Jahr 1995 waren es inzwischen über 70 000. Am Wochenende rund um den 8. Mai kommen noch ein paar hundert Besucher dazu. Schließlich ist es nicht nur der 20. Jahrestag der Eröffnung des Centre International, sondern auch der 70. Jahrestag des Kriegsendes.

Unser Gedenken ist anders

Aus diesem Grund werden die jungen Künstler auch zur offiziellen Gedenkveranstaltung der Gemeinde Niederbronn-les-Baines eingeladen. Hier erleben die Jugendlichen jedoch zumindest teilweise einen Kultur- oder besser: Gedenkkulturschock. Denn neben den betagten Fahnenträgern der französischen Traditionsverbände sind mehrere Soldaten samt Uniform, Gewehr und Bajonett sowie eine paar Hobby-Historiker in ihren restaurierten Militärfahrzeugen zum Gedenken angetreten. Während einige der Schüler anschließend Selfies mit den französischen Armeeangehörigen aufnehmen, sind viele der jungen deutschen Teilnehmer leicht verschreckt. Die Konfrontation mit dem Militärischen sind sie in dieser massiven Form nicht gewohnt. Ihr Gedenken sieht anders aus: ziviler, aktueller und vor allem künstlerischer.

Anne Guillier geht neue Wege

Dabei unterliegen auch die Formen der Gedenkkultur in der elsässischen Gemeinde Niederbronn schon länger einem spürbaren Wandel. Dies liegt womöglich auch am Zusammenspiel mit der Jugendbegegnungsstätte und nicht zuletzt an der Bürgermeisterin Anne Guillier. Sie ist neben ihrem Amt als Lokalpolitikerin auch als Leiterin der Initiative Christen für Europa (ICE) tätig. Neben der Verbindung, dass der ICE und die Volksbund-Jugendarbeit mit dem erst im vergangenen Jahr verstorbenen Pater Theobald Rieth zugleich denselben Gründungsvater haben, gibt es einen weiteren Bezug zum Schweitzer-Zentrum. Denn Anne Guillier war jahrelang gemeinsam mit dem heutigen Leiter Bernard Klein im Rahmen der Partnerschaft zwischen dem ICE und dem Volksbund tätig. Sie weiß also, wovon sie spricht – und lässt Taten folgen. So ergänzt sie das traditionelle und von den meisten Zuschauern aber auch durchaus erwartete Gedenkritual mit altersgerechten Beiträgen der örtlichen Grundschule, lässt Mitglieder der Jugendfeuerwehr den einen, gemeinsamen Kranz niederlegen und beteiligt auch die deutsch-französische Jugendgruppe an der Gedenkveranstaltung. So geben sie schon am Vortag der eigentlichen Präsentation und Jubiläumsfeier der JBS Niederbronn eine Probe ihres neu erlernten Könnens. Die Mischung zwischen traditionellen Elementen und der aktiven Beteiligung der Jugend scheint gelungen. Für viele der jungen Teilnehmer bleibt aber auch dies ein Teil des Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg, den sie so noch nie erlebt haben – und erst noch verarbeiten müssen.

Steine zum Sprechen bringen

Ähnlich ist es ihnen schon während des ersten Rundganges auf der Kriegsgräberstätte von Niederbronn ergangen. Zuvor war dies nur ein weitläufiges Parkgelände mit endlosen Kreuzreihen. Nach dem Rundgang mit Bernard Klein oder einer seiner haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen ändert sich der Blick auf die Kriegsgräberstätte. Plötzlich ist es ein authentischer Ort der Erinnerung an Menschen mit ganz konkreten, persönlichen Schicksalen. „Doch die Steine sprechen nicht von selbst. Man muss sie erst zum Sprechen bringen“, sagt Bernard Klein. Den Hintergrund dazu bilden die zahlreichen Informationen die Klein anhand von Briefen, Fotos, eigenen Begegnungen und persönlichen Zeitzeugenberichten über die Jahre gesammelt hat.

An Jesus' Grab

Während des Rundganges erhält man zudem viele unerwartete Informationen. Wussten Sie zum Beispiel dass der Volksbund noch immer jährlich mehrere zehntausend Kriegstote birgt und somit auch die Kriegsgräberstätte in Niederbronn niemals „fertig“ wird? Fertig ist dieser Ort schon deswegen nicht, weil es hier noch immer neue Geschichten, beeindruckende und bedrückende Einzelbiografien zu entdecken gibt. Da sind die beiden Zwillinge, die bezeichnender Weise auch am selben Tag gestorben sind. Da gibt es die Stele des mit gerade mal fünfzehn Jahren jüngsten Gefallenen in Niederbronn, das erst eineinhalb Jahre alte Baby als jüngstes Zivilopfer, die mit vielen Euro-Münzen geschmückte Ruhestätte des Bruders von Ex-Finanzminister Waigel, Gräber von Muslimen und Angehöriger verschiedenster Nationen oder auch das Grab von Jesus, einem spanischen Franco-Freiwilligen, dessen Grabinschrift noch nicht einmal ein Geburtsdatum aufweist.

Auch die Anlage selbst hat eine sprechende Geschichte. So diente dieser Ort in Vorkriegszeiten als Obstgarten der Gemeinde. Unter den ursprünglichen Besitzern des Geländes der künftigen deutschen Kriegsgräberstätte war auch die jüdische Gemeinde von Niederbronn. All diese teils unerwarteten Informationen über die Kriegsgräberstätte und die Einzelbiografien der hier Bestatteten sind zugleich ein wichtiger Bestandteil der Volksbund-Jugendarbeit im Albert-Schweitzer-Zentrum. Sie sind Ausgangspunkt einer ganz persönlichen Auseinandersetzung mit der Geschichte und den Lehren des Zweiten Weltkrieges.

Zum Abschluss der Performance-Woche am 9. Mai wird dies auch von zahlreichen Gästen, ehemaligen Teilnehmern, Mitarbeitern der angrenzenden Volksbund-Landesverbände sowie vom für die Jugendarbeit zuständigen Bundesvorstandsmitglied Markus Kohl ausgiebig gewürdigt. Die jungen Europäer erhalten viel Applaus für ihre künstlerische, das leitende Künstlerteam sowie die Mitarbeiter der Begegnungsstätte für ihre pädagogische Leistung. Das „N’oubliez jamais!“, das „Niemals vergessen“ wird anschaulich und lebendig. Und dann bringt Bernard Klein die Vielfältigkeit im Erleben und Gestalten eines Gedenkens, wie es während der Kunstaktion zum 20. Jubiläum der Internationalen Begegnungsstätte Albert Schweitzer zum Ausdruck kommt, mit dem europäischem Motto L'unité dans la diversité auf dem Punkt: Vereint in der Vielfalt.

Maurice Bonkat