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Vom Provisorium zum Garanten für Demokratie und Menschenwürde

#volksbundhistory erinnert an das Inkrafttreten des Grundgesetzes vor 75 Jahren

Am 23. Mai 1949, exakt vier Jahre nach Verhaftung der Regierung Dönitz durch die Alliierten, trat das neue Grundgesetz in Kraft. Ursprünglich als Provisorium für West-Deutschland gedacht, garantiert es bis heute ein freiheitlich-demokratisches und soziales Zusammenleben aller Menschen in Deutschland. Gleichzeitig liefert das Grundgesetz auch eine Grundlage für die Arbeit des Volksbundes.  
 

Bereits vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges am 8./9. Mai 1945 dachten die Alliierten der Anti-Hitler Koalition über eine Nachkriegsordnung für Deutschland nach. Erst nach Kriegsende – im Sommer 1945 – mündeten diese Konsultationen in den „Formelkompromissen“ des Kommuniqués von Potsdam. Diese letzte Konferenz der „Großen Drei“ war bereits geprägt durch verschiedene Auffassungen darüber, wie eine Nachkriegsordnung für Deutschland und Europa aussehen sollte. Zu unterschiedlich waren die Vorstellungen der Sowjets auf der einen und der Amerikaner und Briten auf der anderen Seite.

Der Plan, trotz unterschiedlicher Besatzungszonen Deutschland als Einheit zu verwalten, erodierte bereits zu diesem Zeitpunkt im Konflikt der Supermächte, der bald darauf offen eskalierte.
 

Neue Strukturen nach Krieg und Chaos

Das Leben der Menschen war in dieser Zeit geprägt von Chaos und Armut. Der Krieg, den Deutschland über die Welt gebracht hatte, hatte schlussendlich auch das Deutsche Reich stark in Mitleidenschaft gezogen.

Um Sicherheit und Ordnung in den Besatzungszonen wiederherzustellen, etablierten sich kurz nach dem Zusammenbruch wieder staatliche Strukturen und Verwaltungen auf lokaler und kurz darauf auch auf Landesebene. Seit 1947 wurden Fragen wirtschaftlich-technischer Art im Rat des Vereinigten Wirtschaftsgebietes –  besser bekannt als Bizone – verhandelt. Die Arbeit des Wirtschaftsrates kann als Grundlage der westdeutschen Staatsgründung angesehen werden.
 

Unter dem Hashtag #volksbundhistory berichten wir von historischen Ereignissen und liefern Hintergrundinformationen. Unser Autor heute: Paul Nicklas Niemeier. Er studiert Geschichte und Politik an der Universität Kassel und ist zurzeit Praktikant in der Bundesgeschäftsstelle.

Zusammenschluss im Westen

1948, drei Jahre nach Kriegsende, beschlossen die drei westlichen Besatzungsmächte und die Beneluxstaaten bei der Londoner Sechs-Mächte-Konferenz den Zusammenschluss ihrer Besatzungszonen – ohne die Sowjetzone – zu einem Teilstaat. Der Konflikt mit der Sowjetunion war derartig festgefahren, dass eine weitere Zusammenarbeit undenkbar erschien. Gleichzeitig wuchs jedoch die Erkenntnis, dass ein Wiederaufbau Europas ohne einen deutschen Beitrag schwer vorstellbar wäre. Westdeutschland sollte ein föderaler Staat werden, demokratisch nach westlichem Vorbild – mit der Möglichkeit einer späteren Vereinigung mit der sowjetischen Zone.

Sowohl die „Londoner Empfehlungen“ als auch die anschließenden „Frankfurter Dokumente“, welche die Ministerpräsidenten aufforderte, eine Verfassung unter den gegebenen Rahmenbedingungen zu entwerfen, nahmen die deutschen Ministerpräsidenten und Politiker eher negativ auf. Sie bevorzugten eine gesamtdeutsche Staatsgründung.
 

Neuer demokratischer Staat

In den „Koblenzer Beschlüssen“ sprachen sich sowohl die Ministerpräsidenten der Länder als auch die Kommissarische Oberbürgermeisterin von Berlin, Louise Schroeder, gegen eine offizielle Staatsgründung mit Verfassung im Westen aus. Sie plädierten für ein Provisorium. Daraufhin gab es erneute Gespräche mit den Militärgouverneuren der USA, Großbritanniens und Frankreichs. Schließlich ließen sich die Ministerpräsidenten von den Vertretern der westlichen Alliierten doch umstimmen. Allerdings erreichten die deutschen Minister, dass man nicht von „Verfassung“ sondern vom „Grundgesetz“ sprach. Außerdem sollte das Grundgesetz nicht durch eine Volksabstimmung, sondern durch einen Parlamentarischen Rat legitimiert werden.

Auf der Herreninsel im bayerischen Chiemsee tagten vom 10. bis 23. August 1948 Beamte und Politiker der Länder. Sie hatten die Aufgabe, neue Gesetzestexte auszuarbeiten. Eigentlich sollten an dem Treffen mehr Verwaltungsbeamte als Politiker teilnehmen, aber nicht alle Länder hielten sich an die Empfehlung. Anschließend beriet der Parlamentarische Rat, der aus 65 Stimmberechtigten und fünf nicht stimmberechtigten West-Berliner Abgeordneten bestand, vom 1. September 1948 an bis in den Mai 1949 über das Grundgesetz. Genau vier Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 wurde das Grundgesetz vom Parlamentarischen Rat mit 53 zu 12 Stimmen akzeptiert. 16 Jahre nach dem Beginn der NS-Diktatur gab es wieder einen demokratischen Staat auf deutschem Boden.  
 

Mütter und Väter des Grundgesetzes

Übrigens sprach man bis in die 1990er Jahre in der Regel nur von den „Vätern des Grundgesetzes“. Heute erinnert man auch an die vier Frauen im Parlamentarischen Rat. Die Bezeichnung „Mütter und Väter des Grundgesetzes“ ist inzwischen üblich.

Die Mütter des Grundgesetzes waren Friederike Nadig, Elisabeth Selbert, Helene Wessel und Helene Weber, die auch schon der Weimarer Verfassungsversammlung angehörte. Friederike Nadig und Elisabeth Selbert – mit späterer Unterstützung von Helene Weber – sind maßgeblich dafür verantwortlich, dass Artikel 3 Absatz 2 ins Grundgesetz aufgenommen wurde: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“.
 

Provisorium, das keines ist

Den Charakter eines Provisoriums erhielt das Grundgesetz durch seine Entstehungsgeschichte Ende der 1940er Jahre. So befürchteten die damaligen Minister der Länder, dass eine Verfassung für den westlichen Teil des besetzten Deutschlands dazu führen würde, dass sich die Spaltung des Landes in Ost und West vertiefen würde.

Mit der Bezeichnung „Grundgesetz“, der damaligen Präambel und dem letzten Artikel 146 – „Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“ – wollte der Parlamentaische Rat den provisorischen Charakter hervorheben. Einen zusätzlichen Weg zu einer möglichen Wiedervereinigung zeigte der damalige Artikel 23 auf, der einen Beitritt von „anderen Teilen Deutschlands“ zum Geltungsbereich des Grundgesetzes vorsah. Das Grundgesetz ist auch 1949 schon eine demokratische Vollverfassung, wie sie auch in anderen Staaten existiert. In den Jahrzehnten der Teilung bewährte es sich und wurde vielfach durch die Wahlen zum deutschen Bundestag angenommen und legitimiert.

 

Weg zurück zur Souveränität

Bei Kriegsende 1945 hatte das Deutsche Reich unermessliches Leid über die Länder Europas gebracht. Holocaust und Kriegsverbrechen wurden durch deutsche Soldaten und Polizisten im Ausland begangen. Es verwundert nicht, dass die ursprüngliche Fassung des Grundgesetzes weder einen deutschen Verteidigungsbeitrag vorsah noch eine eigenständige Außenpolitik. Ein alliiertes Besatzungsstatut schränkte vielmehr die Handlungsspielräume der ersten Bundesregierung stark ein.

Dass zehn Jahren nach Kriegsende die Bundesrepublik eigene Streitkräfte aufstellen und Mitglied der NATO werden würde, war 1949 bei Verkündung des Grundgesetzes kaum vorstellbar. Die Entstehung der bipolaren Weltordnung des Kalten Krieges, die eine ihrer Hauptfrontlinien entlang der Zonengrenzen zwischen der jungen Bundesrepublik und der am 7. Oktober 1949 gegründeten DDR hatte, bedingte diese Entwicklung. Dennoch war der Weg zur Rückerlangung der Teilsouveränität eine besondere Leistung der ersten Bundesregierungen unter Kanzler Konrad Adenauer, die von enormen innenpolitischen und außenpolitischen Konflikten begleitet wurde. Vor allem die Notstandsverfassung innerhalb des Grundgesetzes, die erst 1968 ergänzt wurde, führte zu massiven Protesten.

Beide deutsche Staaten blieben bis zur Wiedervereinigung teilsouveräne Staaten. Erst durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag erlangte das wiedervereinigte Deutschland seine volle Souveränität zurück. Der Weg zur Wiedervereinigung wurde über den Artikel 23 gewählt. Kurz darauf veränderte der Bundestag den Wortlaut des Artikels - ein symbolischer Akt gegenüber den europäischen Nachbarn, dass die Bundesrepublik keine weiteren Gebietsansprüche stellen würde.
 

Lehren aus Weimar

Nie wieder Diktatur! Mit diesem Gedanken ist das Grundgesetz entstanden. Eine Aushebelung der Demokratie wie die Machtergreifung Hitlers 1933 gilt es zu verhindern. Bis heute ist das Grundgesetz eine wehrhafte Verfassung, die unterschiedliche Instrumente zum Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung vorsieht. Die Grundrechte sind in seinem Text vorangestellt und besonders geschützt. Deutlich wird dies im ersten Artikel des Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlicher Gewalt“.

Auch im Aufbau des Staates und in der Gewaltenteilung zeigt sich, dass aus den Schwächen der Weimarer Verfassung gelernt wurde. Hervorzuheben ist hier auch die geänderte Funktion des Bundespräsidenten: Im Gegensatz zum Reichspräsidenten kann er keine Notstandsverordnungen erlassen. Zwar ist der Bundespräsident das Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland, übernimmt aber hauptsächlich repräsentative Aufgaben.
 

Geeintes Europa

Frieden und ein vereintes Europa sind als Ziele im Grundgesetz verankert. In der Präambel steht, dass sich Deutschland im vereinten Europa für den Weltfrieden einsetzt. 1992  wurde der „Wiedervereinigungsartikel“ –  Artikel 23  – auch entsprechend angepasst. Er bekräftigt die Absicht, die europäische Integration und Verständigung der Länder zu stärken.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich der Volksbund für die Völkerverständigung eingesetzt. Ab 1953 galt das Leitwort „Versöhnung über Gräben“ – entstanden aus dem Wunsch nach einem friedlichen Europa. Dieses Leitwort spiegelt auch heute noch den Kern der Arbeit des Volksbunds wider, auch wenn das Motto inzwischen „Gemeinsam für den Frieden“ lautet.
 

Auftrag für den Volksbund

Die sukzessive Rückübertragung von Souveränitätsrechten führt auch dazu, dass die Bundesregierung wieder eine eigene Außenpolitik betreiben kann. 1954 wird ein Kriegsgräberabkommen mit Frankreich geschlossen. Anlässlich der Unterzeichnung des deutsch-französischen Abkommens schreibt Bundeskanzler Adenauer, der zur gleichen Zeit auch das Amt des Außenministers bekleidet, einen Brief an Volksbund-Präsident Ahlhorn und bittet ihn, auch zukünftig die Rolle eines deutschen Kriegsgräberdienstes im Ausland wahrzunehmen.

Diese Zusammenarbeit besteht bis heute fort. Der Volksbund wird in jedem Kriegsgräberabkommen der Bundesrepublik als beauftragte Organisation für die Kriegsgräberfürsorge erwähnt. Auch an anderer Stelle wird die Kriegsgräberfürsorge als Auftrag im Grundgesetz erwähnt. Die „Kriegsgräber und Gräber anderer Opfer des Krieges und Opfer von Gewaltherrschaft“ sind heute Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung zwischen Bund und Ländern. Im Inland sind die Landesverbände des Volksbundes Partner für Kommunen, Kreise und Länder bei der Verwirklichung dieses Verfassungsauftrags.
 

Unantastbare Würde

Seit über 70 Jahren organisiert der Volksbund Workcamps, in denen Jugendliche aus Deutschland und anderen Nationen aufeinandertreffen. Zunächst halfen sie bei der Anlage und beim Ausbau von Soldatenfriedhöfen, heute pflegen sie Kriegsgräber. Dabei steht der interkulturelle Austausch im Vordergrund.

Auch sonst orientiert sich der Volksbund in seiner Satzung und seinem Leitbild stark an dem 1949 beschlossenem Grundgesetz. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – der erste Satz des ersten Artikels ist die Grundlage der Volksbund-Arbeit. Den Toten der Kriege ihre Würde zurückzugeben – sei es durch Bestattung auf einer letzten Ruhestätte und durch Identifizierung oder durch das Aufarbeiten von Schicksalen – ist Kern des Auftrages. Denn im Tod sind alle gleich.


Text: Paul Nicklas Niemeier


Literaturhinweise:

Conze, Eckart: Die Suche nach Sicherheit, Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009.

Feldkamp, Michael F.: Der Parlamentarische Rat 1948-1949: Die Entstehung des Grundgesetzes, Göttingen 2019.

Görtemaker, Manfred: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, München 1999.

Thiele, Alexander: Das Grundgesetz, Verständlich erklärt, Bonn 2024.

Wolfrum, Edgar: Die geglückte Demokratie, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006.

Haus der Geschichte - Haus der Geschichte (hdg.de)

#volksbundhistory

Ob der Beginn einer Schlacht, ein Bombenangriff, ein Schiffsuntergang, ein Friedensschluss – mit dem Format #volksbundhistory möchte der Volksbund die Erinnerung an historische Ereignisse anschaulich vermitteln und dabei fachliche Expertise nutzen. Der Bezug zu Kriegsgräberstätten und zur Volksbund-Arbeit spielt dabei eine wichtige Rolle.

Die Beiträge werden sowohl von Historikern aus den eigenen Reihen als auch von Gastautoren stammen. Neben Jahres- und Gedenktagen sollen auch historische Persönlichkeiten und Kriegsbiographien vorgestellt werden. Darüber hinaus können Briefe, Dokumente oder Gegenstände aus dem Archiv ebenfalls Thema sein – jeweils eingebettet in den historischen Kontext.

Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. ist ein Verein, der seine Arbeit überwiegend aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden finanziert.

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