Wenn die Normandie swingt
Nostalgie am Jahrestag des D-Day/Zwischen Fasching und Museum
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Kassel, 22. Mai 2012 - Als im Januar der französische Ex-Verteidigungsminister Hervé Morin in einer Wahlkampfrede sagte, er habe die Landung der Alliierten in der Normandie selbst miterlebt, lachte die ganze Große Nation. Auch einige deutsche Blätter machten sich über den Fauxpas lustig. Denn Morin ist Jahrgang 1961, die Landung aber war im Juni 1944.
„Wenn man aus der Normandie stammt, dann sind die weißen Kriegsgräber-Kreuze Teil der eigenen DNA.“ Mit diesen bemerkenswerten Worten versuchte er später seinen Ausrutscher zu erklären. Auch darüber lächelten deutsche Redakteure. Die aber haben Morin noch nicht einmal ansatzweise verstanden. Denn wer jemals Anfang Juni in der Normandie war und die Feiern des D-Day, so das Codewort für die Landung, miterlebt hat, dem kann es schon passieren, dass er manchmal nicht genau weiß, ob er sich in der Gegenwart oder im Jahr 1944 befindet. Wer aber gar mit dieser alljährlichen Zeitreise und der allgegenwärtigen Erinnerung an die Landung aufgewachsen ist, da hat Morin schon Recht, dem kann der D-Day in Fleisch und Blut übergegangen sein.
Zählt man all die Museen, Besichtigungsorte und Kriegsgräberstätten zusammen, die in der Normandie an die Landung der Alliierten erinnern, dann nähert man sich schnell dem dreistelligen Bereich. Die Region zwischen Trouville im Osten, Cherbourg im Nord- und Mont Saint Michel im Südwesten gleicht einem riesigen Freilichtmuseum. Trotz der über tausendjährigen Geschichte konzentriert sich hier alles auf ein Ereignis: den D-Day, den Beginn der Landung am 6. Juni 1944.
Über 6 000 Kriegs- und Transportschiffe überquerten damals den Ärmelkanal, Tausende von Flugzeugen bombardierten die deutschen Befestigungen des Atlantikwalls, im Hinterland sprangen Fallschirmjäger ab. Es war die größte Landungsoperation der Militärgeschichte und wohl auch die blutigste. Davon zeugen die über 110 000 Gräber, die heute auf den Soldatenfriedhöfen der Normandie gepflegt werden: amerikanische, britische, deutsche, französische, kanadische und polnische. Auch etwa 15 000 französische Einwohner fanden den Tod.
Bis etwa Mitte September dauerten die Kämpfe, dann war die Niederlage der deutschen Truppen in Nordfrankreich besiegelt. Das Ende des Zweiten Weltkrieges lag nicht mehr fern. Um den Kreuzzug zur Befreiung Europas, wie der alliierte Befehlshaber Dwight D. Eisenhower die Landung nannte, ranken sich seither Legenden und Mythen. Kein Wunder, dass sich auch die Filmindustrie des Themas annahm und millionenfach gesehene Geschichten von Heldentaten und Opferbereitschaft erzählte.
Der D-Day wird gleichsam als Urknall erinnert. In der Normandie begann aus militärischer Sicht die Erfolgsgeschichte des vereinten Europa. Und das wird alljährlich Anfang Juni tagelang gefeiert, manchmal auch auf recht befremdliche Weise.
Gedenkstunden und Kranzniederlegungen auf den Soldatenfriedhöfen aller Nationen, militärische Vorführungen an der Landungsküste, Platzkonzerte und Feuerwerke stehen auf dem Programm. An runden Jahrestagen werden schon mal amerikanische Präsidenten und andere Regierungschefs eingeflogen. Dann steht die Region ganz und gar Kopf.
Das Straßenbild aber beherrschen Millionen Fähnchen in den Farben der Alliierten und vor allem mehrere tausend Willys Jeeps, die unaufhörlich durch die Gassen und über die Landstraßen rollen.
Es sind jene legendären Urtypen aller Jeeps, mit denen die US-Truppen ab 1940 ausgerüstet waren und die später auch in Frankreich und Indien gebaut wurden. Zum Jahrestag des D-Days sind sie in der Normandie allgegenwärtig. Ihre Fahrer kommen nicht nur aus Frankreich, sondern auch aus Tschechien, Deutschland oder der Schweiz. Sie tragen die möglichst getreu nachempfundenen Uniformen der damaligen Alliierten und grüßen lässig die staunenden Fußgänger.
Zum Jahrestag des D-Day sind überall in der Normandie Männer in historischen US-Uniformen anzutreffen, bei allen Veranstaltungen, auf allen Kriegsgräberstätten, allen Marktplätzen, in den Restaurants und Cafés.
Jeder, so mutet es an, möchte in diesen Tagen ein GI zu sein. Es ist, als wollten sie das Lebensgefühl jener Jahre beschwören, auf eine fast kindliche Weise durch Rollentausch daran teilhaben. Auch manche Frauen tragen die Mode der 1940er Jahre und feiern ausgelassen mit. Der musikalische Ausdruck dieser Nostalgie ist das Werk Glenn Millers. Seine Lieder sind Anfang Juni vielerorts zu hören. Die Normandie swingt.
Die Hauptstraße des D-Day ist die küstennahe D 514. Auf den rund 35 Kilometern zwischen Grandcamps-Maisy und Arromanches-les-Baines rollt den ganzen Tag über der Korso der historischen Militärfahrzeuge. Mancher Tourist mag sich ins Jahr 1944 versetzt fühlen. Dabei hilft, dass die kleinen Ortschaften den Klischees über die Normandie entsprechen und sich gut als historische Kulisse für die alljährliche Zeitreise eignen.
Vereinigungen von Militaria-Begeisterten errichten alljährlich bei Vivierville ein komplettes Camp, mit MG-Nest und Kontrollposten am Eingang. Es liegt ihnen daran, möglichst viel von dem zu zeigen, was sie über Jahre hinweg zusammengetragen haben. Die Besucher bestaunen sorgsam hergerichtete Fahrzeuge, Waffen, Küchenausrüstungen, Lazarettzelte samt OP-Besteck und fragen sich, was die Männer und ihre Partnerinnen dazu treibt, auf diese Weise das Soldatenleben der Vergangenheit wiedererstehen zu lassen.
Unweit des Lagers haben sich fliegende Militariahändler niedergelassen, die an ihren Ständen alle möglichen Ausrüstungsgegenstände feilbieten: Uniformen, Helme, Mützen, Messer, Essgeschirre und selbst Wegweiser aus Holz, das Stück für sieben Euro.
Der kritische Betrachter schwankt zwischen ungläubigem Staunen und Skepsis. Erwachsene Männer, die in unbequemem Drillichzeug ein wenig Krieg spielen, machen sich schließlich verdächtig. Aber es geht ihnen ja nicht um Kämpfe und Gefechte. Da ist der Lagerfriseur, der seinem Kameraden mit historischem Werkzeug die Haare schneidet, der Koch, der das Küchenzelt betreut und zu allen Utensilien Auskunft gibt, und da ist die Vitrine mit den Schellackplatten von Glenn Miller. Die Normandie swingt am Jahrestag des D-Day – zwischen Fasching und Museum.
Fritz Kirchmeier
Der Kasseler Fotograf Uwe Zucchi war 2009 und 2011 zum D-Day in der Normandie und hat das bunte Treiben porträtiert (siehe Fotostrecke).