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Der große Krieg auf dem kleinen Friedhof

Mit dem Tablet auf der Kasseler Gedenkstätte

Mit dem Tablet über den Friedhof gehen und dabei über den Zweiten Weltkrieg nachdenken. Macht wahrscheinlich auch nicht jeder – die angehenden Geschichtslehrer am Studienseminar Kassel schon. Und das aus einem guten Grund: Mithilfe der App „Actionbound“ holen die Referendare die Vergangenheit des Zweiten Weltkrieges in den Geschichtsunterricht von morgen.

Montagmorgen, 9 Uhr. Auf dem Kasseler Hauptfriedhof versammelt sich eine Gruppe mit zehn Lehrkräften für das Fach Geschichte. Mit dabei ist Maike Bartsch, Regionalbeauftragte Hessen-Nord des Landesverbandes Hessen. Sie verteilt Tablets und erklärt die Spielregeln: „Es gibt insgesamt 35 Aufgaben in diesem Bound, die Ihr hier auf dem Friedhof lösen müsst. Die Antworten könnt ihr direkt ins Tablet tippen. Wenn ihr die QR-Codes auf den Infotafeln einscannt, kommt ihr zur nächsten Frage. Alles klar?“ Klar.

Stopp. Actionbound? Nie gehört. Dahinter verbirgt sich eine App für mobile Endgeräte, mit der interaktive Erlebnistouren erstellt werden können, inklusive Bilder und Videos. Solch einen „Bound“ hat Arne Jost, der Vorgänger von Maike Bartsch, vor gut zwei Jahren für den Kasseler Hauptfriedhof entwickelt, der in der Bildungsarbeit mit Schülern, Jugendlichen und Erwachsenen regelmäßig zum Einsatz kommt. Wie das funktioniert und welche Rolle der Kasseler Hauptfriedhof dabei spielt, erklärt Maike Bartsch im Videostatement:
https://youtu.be/z8aRsN-O-Jc

Die virtuelle Erkundungstour auf dem Kasseler Hauptfriedhof ist dabei Teil des Bildungsmoduls „Mit dem Tablet in die Vergangenheit“, das der Landesverband Hessen auch für den Hauptfriedhof Frankfurt entwickelt hat. Die Fragen und Aufgaben des Spiels basieren auf Ergebnissen der Forschungsprojekte, die der Landesverband im Vorfeld zu den Gräberstätten veranlasst hat. Das Modul wird dabei seitens der Mitarbeiterinnen des Landesverbandes von Anfang an begleitet und gemeinsam mit den Teilnehmenden ausgewertet. So auch mit den Referendaren des Studienseminars Kassel, die sich heute in das mobile Abenteuer stürzen. 

„Für die Teilnehmer ist dies eine gute Möglichkeit, die Arbeit mit außerschulischen Lernorten sowie den Einsatz moderner Medien in der Geschichtsvermittlung kennenzulernen“, sagt Bartsch. Gesagt, getan. Die Gruppe zieht los, um die erste Aufgabe des Actionbounds zu absolvieren. Sie führt zum Soldatenfriedhof.

Viele Besucher des Hauptfriedhofs wissen nicht, dass es hier auch eine Kriegsgräberstätte gibt. Heute ist der Kasseler Hauptfriedhof nicht nur eine Ruhestätte, sondern Lern- und Erinnerungsort zugleich.

Gefunden. Wer die Hinweistafel zum Zweiten Weltkrieg genau liest, kann die Fragen in der App sicher schnell beantworten: Wie viele Soldaten wurden hier auf den Gräberfeldern insgesamt beerdigt und welche anderen Personengruppen haben hier ihre letzte Ruhestätte? 

Auf drei Gräberfeldern des Kasseler Hauptfriedhofs sind etwa 4.400 Kriegstote bestattet. Die Gräberfelder wurden bereits während des Zweiten Weltkrieges angelegt und später vom Volksbund ausgestaltet.


Zu den beigesetzten Kriegstoten gehören deutsche und ausländische Soldaten, Kriegsgefangene, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, Opfer der NS-Militärjustiz, politische Häftlinge aus dem In- und Ausland sowie zivile Bombenopfer.

 

Neben Wissensfragen gibt es auch Aufgaben mit Videostatements, die im Anschluss an das Seminar ausgewertet werden und als Grundlage zur weiteren Diskussion dienen: Die Frage lautet hier: Was fühlst Du, wenn Du auf diesem Soldatenfriedhof stehst?

„Es ist schon ein bedrückendes Gefühl hier auf dem Gräberfeld zu stehen, wo 617 deutsche Wehrmachtssoldaten und Angehörige der Waffen-SS beerdigt wurden. Auf den ersten Blick sieht man gar nicht, dass es so viele Tote sind“, sagt Gordon Stedefeld. Er unterrichtet Geschichte und Politik am Goethegymnasium in Kassel. „Für die Schüler ist das hier auf jeden Fall eine motivierende Aufgabe, sich auch mal genauer mit den Infotafeln auseinanderzusetzen und sich Gedanken über die Opfer des Krieges zu machen.“

 

3.600 Bombenopfer liegen auf einem weiteren Feld. Sie starben während eines Bombenangriffs auf Kassel 1943.

 

Eine dieser zivilen Toten ist Hildtrud Koch. Sie war gerade mal 22 Jahre jung, als sie und ihr Ungeborenes unter dem Bombenhagel 1943 ums Leben kamen.

„Das Spannende an dem Actionbound zum Zweiten Weltkrieg ist die Vielschichtigkeit. Und das Diskussionspotenzial. Mit den Schülern sprechen wir auch über Gerechtigkeit, über Täter - und Opferrollen und ob diese immer klar voneinander zu trennen sind. Darüber hinaus wirft die App auch einen Blick darauf, wie die Kriegsgräberstätte gestaltet ist: Welche Denkmäler gibt es, wie wirken sie heute und was bedeuten die Inschriften eigentlich? „Je nach Alter und Vorwissen der Gruppe, können wir die Fragen individuell anpassen“, erklärt Bartsch. „Das Wichtige ist, dass die Teilnehmer über die Menschen hinter den Grabsteinen nachdenken.“

Alessandro, 33 aus Sizilien und Referendar am Studienseminar in Kassel, hat sich Gedanken gemacht: „Auf diesem Friedhof ruhen alle gemeinsam – ob Schuldige oder Opfer. Jetzt finden Sie hier ihre Ruhe, die sie im Leben nicht gehabt haben.“ Sein Fazit zum Actionbound: „Für den Unterricht ist dieses Spiel wie ein kleines Abenteuer. Ich kann mir sehr gut vorstellen, so etwas als Lehrer auch zu machen.“

Der Meinung ist auch Arndt Kleesiek, hauptamtlicher Ausbilder am Studienseminar Kassel und Lehrer für Geschichte am Friedrichsgymnasium. Er hatte die Idee, am Seminar „Mit dem Tablet in die Vergangenheit“ teilzunehmen. „Ich finde es gut, wenn die Lehrer im Vorbereitungsdienst die Arbeit des Volksbundes als Bildungseinrichtung kennenlernen. Und das Programm hier auf der Kriegsgräberstätte dockt perfekt an das an, was man auch wirklich im Unterricht macht. Die Geschichte wird dadurch für die Schüler greifbarer.“

Weitere Informationen zum Bildungsmodul und zur Anmeldung finden sich unter: https://www.volksbund.de/hessen/bildungsangebote/lernortkgs/lernortkassel.html

Simone Schmid